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Ukraine-Konflikt mit Russland: "Das einzig Gute, das Putin getan hat"


Ukrainer über Kriegsgefahr
"Dass wir nie wieder durch diese Hölle müssen"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel und Michael Hübner (Video/Fotos)

Aktualisiert am 06.02.2022Lesedauer: 9 Min.
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Reportage vom Kriegshotspot: Was für ein Leben müssen Soldaten, Kriegsopfer und Einwohner hier an der Front führen? Was wünschen sie sich? Und wovor haben sie Angst? (Quelle: t-online)

SPD-Generalsekretär Kühnert sieht in der Ostukraine "noch keinen heißen Konflikt". t-online-Reporter Daniel Mützel ist an die Front gereist, wo Menschen seit 2014 eine andere Realität erleben – und dem Krieg mit fast gespenstischer Gelassenheit begegnen.

Yulia kämpft mit den Tränen. Am 24. Januar 2022 flog eine Granate in den Gemüsegarten ihrer Eltern. Der Vater war sofort tot. "Morgens um kurz nach 7 Uhr gab es einen lauten Knall. Mutter rannte in den Garten, um zu sehen, was los war. Da lag er tot auf der Erde, zwischen den Gemüsebeeten."

Die Polizei sei gekommen, doch niemand konnte ihr sagen, woher das Geschoss kam, erzählt die Besitzerin eines Kiosks in Werchnjotorezke, einem Dorf an der ostukrainischen Front. "Erst vor drei Monaten haben wir den Bruder meines Mannes begraben, jetzt explodiert der Vater."

Yulia presst die Lippen zusammen, ihre blondierte Mähne flattert im Wind. Sie will nicht weinen.

Sie erwähnt den Tod ihres Vaters fast beiläufig. Yulia steht traurig hinter dem Kiosktresen und kassiert die Soldaten ab, die hier alle paar Minuten schwer bewaffnet hereinschneien und sich Nachschub an Kaffee, Zigaretten und Schokolade besorgen. Zeit zu trauern habe sie nicht, wer kümmere sich dann um ihren kleinen Shop?


Seit Russlands Präsident Wladimir Putin über 130.000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine zusammenziehen ließ, rätselt die Welt über die Motive des Kremlchefs. US-Präsident Joe Biden warnt vor der "größten Invasion" seit dem Zweiten Weltkrieg. Doch plant Putin wirklich einen umfassenden Angriff auf ukrainische Städte oder ist der Truppenaufmarsch "nur" eine Drohung an den Westen, den russischen Bären nicht zu reizen und das Kuscheln mit Kiew zu stoppen?

Selbst wenn die Offensive ausbliebe, der seit 2014 andauernde Krieg mit rund 14.000 Toten ginge vermutlich weiter. Eine Tatsache, die in Deutschland zu manchen Politikern, insbesondere in der SPD, noch immer nicht durchgedrungen zu sein scheint. Der Generalsekretär der Kanzlerpartei, Kevin Kühnert, behauptete vor wenigen Tagen bei n-tv, es gebe in der Ostukraine "glücklicherweise noch keinen heißen Konflikt, noch keinen Krieg".

Für Menschen wie Yulia, die direkt an der Front leben, nachts von Artilleriefeuer geweckt werden und die geliebte Familienmitglieder an den Irrsinn des Kriegs verlieren, müssen solche Worte wie Hohn klingen. Ihre Geschichte kann als empirischer Gegenbeweis zu solch fragwürdigen Äußerungen gelten. Und nicht nur ihre.

Eingeschlossen in der "Volksrepublik Donezk"

Lyuba stapft durch den Schnee neben dem Gewächshaus, wo im Sommer Tomaten wachsen, im Moment aber nur Erde gefriert. Mit ihrem Mann Sergiy lebt sie auf einem Bauernhof im 2.000-Seelen-Ort Werchnjotorezke direkt an der Front, in der "grauen Zone".

Die 15 Kilometer breite Pufferzone soll die "Kontaktlinie" absichern, die das ukrainisch kontrollierte Territorium von den prorussischen Separatistengebieten trennt. Seit dem Ausbruch des Kriegs haben im Großteil der Ostukraine kremltreue Kräfte das Sagen, die provisorische Grenze wurde im Minsker Abkommen von 2015 gezogen.

Die "graue Zone" ist ein Ort ohne Zukunft: Wer nicht wegziehen kann oder will, lebt in ständiger Gefahr. Granaten, aufflammende Gefechte, Minen neben der Fahrbahn, Minen in Wohngebieten, Minen auf dem Acker. "Viele Menschen, meist junge, sind abgehauen", sagt Lyuba. "Geblieben sind wir Alten."

Lyubas und Sergiys kleine Farm mit Gänsen, Kühen, einem Hund und exakt 15 Katzen ist gewissermaßen der letzte zivile Außenposten der Ukraine vor den abtrünnigen Provinzen. Vom Garten aus kann man die "Volksrepublik Donezk" erblicken, einer der beiden Retortenstaaten, die prorussische Milizen mit tatkräftiger Unterstützung Moskaus 2014 ausgerufen hatten.

"Die Hühnerfarm gehört schon den Separatisten", Sergiy zeigt auf ein Haus mit einem schmalen Turm, der sich in der Ferne erhebt. Nur eine verschneite (und verminte) Wiese mit viel Gestrüpp liegt zwischen ihnen und dem Feindesland. "Es ist streng verboten, dorthin zu gehen", sagt Sergiy ernst, als wolle er die Journalisten warnen, nicht auf dumme Gedanken zu kommen.

Der 62-Jährige steht mit Jogginghose im Schnee und zeigt auf den ehemaligen Schützengraben, den ukrainische Soldaten 2015 ausgehoben hatten, als sie Haus und Hof verteidigten. Hätten diese damals nicht so energisch Widerstand geleistet, läge Sergiys und Lyubas Hof wohl heute offiziell im Separatistengebiet.

Das wäre schlimm, aber auch ein bisschen gut, sagt Lubya weinend. Dann könnten sie wenigsten auch die Tochter sehen, die in Donezk lebt. "Seit zwei Jahren haben wir nur über Telefon Kontakt." Lubya verdrückt eine Träne.


Doch der einzige Weg in die Hauptstadt der Separatisten führe durch Russland. "Eine solche Reise schaffe ich nicht." Der Krieg spaltet nicht nur die Nation, er zerreißt Familien.

"Menschen sterben hier und ihre Kinder können sie nicht mal beerdigen." Sie meint nicht irgendwelche Menschen, sondern sich und Sergiy. Denn vor knapp zwei Jahren stand der Tod beinahe auf ihrem Hof. An einem Montag im Mai flogen Artilleriegranaten auf ihr Anwesen und verpassten die beiden um ein Haar. "Die erste explodierte im Garten", Sergiy zeigt auf die Stelle hinter dem Plumpsklo. "Die zweite landete mitten im Hof. Ich rannte zu Lubya, packte sie und riss sie ins Haus. Wir wären an diesem Tag fast gestorben."

Ihre Kuh Simka hatte weniger Glück. Ein Metallsplitter erwischte sie tödlich am Rücken. Lubya sagt, sie verstecke sich seitdem im Haus, sobald sie es knallen hört. "Ich habe Angst, traue mich nicht mehr raus. Man denkt, man weiß, von wo die Geschosse kommen, aber es ist eine Täuschung. Man wird verrückt."

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An eine Invasion glaube sie nicht, sagt Lubya. Der Kremlchef könnte sich diesmal verzockt haben. "Das einzig Gute, was Putin je vollbracht hat, war es, die Ukrainer zu einen. Nie standen wir enger beisammen. Wir können nicht mehr verlieren."

Links ein zerbombtes Haus, rechts ein Minenfeld

Das Haus an der Straßenecke hat vermutlich schon bessere Zeiten gesehen: In den grauen Backsteinwänden klaffen meterhohe Einschusslöcher, überall hängen Kabel, Rußspuren durchziehen das Mauerwerk. Wellblechplatten klappern im Wind.

"Hier wohnt schon lange niemand mehr", sagt Danil, der regelmäßig an dem Haus am Stadtrand von Awdijiwka vorbeiläuft, wenn er zu seiner Freundin geht. Von der Kriegsruine zu seiner Linken scheint er ebensowenig beeindruckt wie vom Minenfeld zu seiner Rechten, das keine zwei Meter hinter der Straße beginnt. "Ich lebe mein ganzes Leben hier, ich kenne nichts anderes."

Der 33-Jährige, der in der lokalen Chemieindustrie arbeitet, erinnert sich noch gut daran, als die ersten Schüsse fielen. "Das war 2014, als der Krieg begann. Es passierte alles ganz schnell." Wochenlang regnete es Granaten. "Jede Familie hier hat gelitten", sagt Danil.

Der Artilleriebeschuss der Industriestadt war zeitweise so heftig, dass die Stadtverwaltung im Jahr 2017 eine Massenevakuierung organisierte. Tausende Menschen verließen Awdijiwka, noch heute sind ganze Straßenzüge am Stadtrand wie ausgestorben. Doch das Leben kommt zurück, sagen Anwohner, langsam.

"Ich danke den Deutschen und allen anderen"

"Im Moment ist es einigermaßen sicher", sagt Olga vor ihrem Wohnhaus, das an der Ecke zur Hälfte eingestürzt, zur anderen Hälfte bewohnt ist. Der neue Bürgermeister von Awdijiwka sei ein Anpacker, Wohnungen würden renoviert, die Sicherheitslage verbessere sich. Auch dank internationaler Unterstützung, sagt die 55-jährige Verwaltungsangestellte: "Ich danke den Deutschen und den anderen Ländern." Die Stadt erhalte viele Hilfsgüter.

Sie selbst sei nur hier, um ihre gelähmte Großmutter zu versorgen. Sonst wäre sie längst weg. "Den Menschen geht es schlecht hier. Wir schreiben das achte Jahr des Krieges. Aber wir machen das Beste daraus."

Wie Olga einen Säureangriff durch Separatisten miterleben musste, erzählt sie hier oder oben im Video.

Gespenstische Gelassenheit

Viele Menschen an der ostukrainischen Front, in Awdijiwka, Werchnjotorezke oder Bakhmut, sprechen über den drohenden russischen Einmarsch mit fast gespenstischer Gelassenheit. Andere halten Putin für einen überschätzten Hütchenspieler, der nur den Preis hochtreibt, um dem Westen Zugeständnisse abzupressen.

Lassen sie sich von ihrer beeindruckenden Resilienz täuschen, dass es schlimmer nicht werden kann? Oder haben sie ein besseres Gespür, weil sie näher dran sind, weil sie den Konflikt seit Jahren leben?

"Krieg ist ein Job"

Über mangelndes Gespür für den Krieg kann Yuri nicht klagen. Der Soldat im 503. Marineinfanterie-Bataillon der ukrainischen Armee ist normalerweise am Asowschen Meer stationiert. Doch dieser Tage harrt seine Einheit an der Front in Werchnjotorezke aus.

Yuri lungert im Schneetarn unter einem Pavillon, schlürft Kaffee aus einem Pappbecher und raucht. Er hat Pause. Die Kalaschnikow hängt lässig über den Rücken.

"Wir sind eine Spezialeinheit. Unser Motto heißt: 'Für immer loyal'." Der Marineinfanterist nuckelt an seinem Tabakerhitzer und bläst den Rauch in die Kälte. Bis ans Ende seiner Tage wolle er aber nicht loyal sein, sagt er dann. Die Armee sei für ihn keine Berufung, eher eine Einkommensquelle. "Es ist mein Job." Viel lieber würde er Zeit mit der Familie verbringen, auf der Couch liegen, Fernsehen schauen.

Aber die Heimat sei bedroht. Seine Familie lebe nahe der besetzten Krim, er mache sich ständig Sorgen. "Wir sind alle in Gefahr hier." 2014 in Luhansk, als der Krieg begann, war es am Schlimmsten. "Granaten fielen vom Himmel, die Erde hat gebrannt. Es war beängstigend."

Heute sei er abgebrühter. Er lebe nun schon seit vielen Jahren unter der Bedrohung durch Moskau. "Alle warten auf die Invasion, aber Putins Angriff hat doch längst begonnen." Irgendwann gewöhne man sich daran.

Er hofft, dass der Krieg eines Tages vorbei sei und die Ukraine endlich wieder vereint. "Und dass wir nie wieder durch diese Hölle müssen."

"Ein persönlicher Alptraum, von Putin 'beschützt' zu werden"

Pavlo Kyrylenko überlegt nicht lange. Auch bei komplexeren Fragen schießen die Antworten heraus wie Pfeile. "Wie wahrscheinlich eine Invasion ist? Auf einer Skala von 1 bis 10: derzeit 6."

Der Chef der Donezker Regionalverwaltung ist ein schneidiger 35-Jähriger zwischen Macher und Fitnessmodel: kantige Gesichtszüge, Kurzhaarschnitt, definierte Bizeps, die immer dann noch etwas zu wachsen scheinen, wenn das Gespräch auf Putin kommt.

t-online: Herr Kyrylenko, wenn Putin die Ostukraine nicht hergibt, muss Kiew sich die Gebiete mit Gewalt zurückholen?

Pavlo Kyrylenko: Ich zweifle keine Sekunde daran, dass die ukrainische Armee das schafft. Aber so ein Manöver würde uns eine erneute russische Invasion kosten. Wir brauchen eine politische Lösung.

Der Kreml behauptet, die russischsprachige Bevölkerung sei in der Ukraine nicht sicher und müsse – durch Moskau – beschützt werden.

Ich gehöre zur russischsprachigen Bevölkerung. Ich bin in Donezk geboren, spreche im Alltag meist Russisch. Putin behauptet, die Ukraine würde alle Russen in den besetzten Gebieten umbringen, sobald er sie aufgebe. Das ist Propaganda. Es gibt keine Diskriminierung. Dass in der öffentlichen Verwaltung Ukrainisch gesprochen werden muss, kann kaum eine Ausrede dafür sein, hier einzumarschieren.

Wenn Sie zur russischsprachigen Minderheit gehören – würden Sie sich denn beschützt fühlen von Moskau?

Kyrylenko lacht, dann verdunkelt sich seine Miene: Es wäre mein persönlicher Alptraum, von Russland beschützt zu werden. Wir kennen den Preis von Putins 'Schutz': der Tod vieler Soldaten und Zivilisten, inklusive russischsprachiger Menschen.

Der frühere Staatsanwalt regiert ein Reich ohne Hauptstadt: Die Wirtschafts- und frühere Millionenmetropole Donezk gehört kremlhörigen Separatisten, der Amtschef muss daher von der Kleinstadt Kramatorsk aus die Geschicke der Region lenken.

Wie fühlt es sich an, ein Gebiet zu regieren, dem die Herzkammer entrissen und de facto in Putins Reich eingegliedert wurde?

Die "Volksrepublik Donezk" und die "Volksrepublik Luhansk" sind Marionetten des Kremls, Fake-Staaten, die nicht lange Bestand haben werden. Die Menschen, die dort leben, sind Ukrainer, keine Russen.

"Wir brauchen mehr als nur Helme"

Kyrylenko könnte rein optisch Vitali Klitschkos kleiner Bruder sein, wenn der Kiewer Bürgermeister nicht schon einen hätte. Klitschko hatte sich neulich über die 5.000 Helme beschwert, die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in die Ukraine schickte. Der Ex-Boxer nannte die Lieferung einen "schlechten Witz".

Auch Kyrylenko ist nicht gut auf die Helme zu sprechen. "Wir brauchen mehr als nur Helme aus Deutschland", sagt er. "Ein Land mit einer solchen wirtschaftlichen Macht kann mehr tun. Wir brauchen Waffen. Nur eine starke ukrainische Armee kann den Frieden sichern."

Doch Kyrylenko will auch Positives berichten. Der Artilleriebeschuss in der Region Donezk nahm in den vergangenen Wochen ab. Erstaunlich angesichts der wachsenden Drohkulisse durch Moskau. "Meine Leute briefen mich täglich über die Zahl der Geschosse, die hier ankommen", sagt Kyrylenko und zückt wie zum Beweis sein Handy: "Heute waren es zwei Einschläge, gestern auch, vorgestern keiner. Tote gab es keine. Es wird weniger."

Ein Lichtblick, mehr nicht. Wie die meisten Menschen, die in der Nähe der Front leben, rechnet auch Kyryleko nicht damit, dass der Konflikt bald gelöst werde. Russland gebe in den besetzten Gebieten russische Pässe aus, lasse Bürger an den Wahlen elektronisch teilnehmen. "Es ist absurd, wie in einem schlechten Film. Aber es ist die Realität."

An den Kremlchef, der die Ukraine als eine Art abtrünnige Provinz Russlands sieht, hat Kyrylenko eine Botschaft: "Ich rate Putin, noch mal die Geschichtsbücher aufzuschlagen. Die Ukraine ist unabhängig. Wer einer ganzen Nation die Eigenständigkeit abspricht, belegt nur seine eigene Dummheit und Ignoranz."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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