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Vergessenes Kobane: "Wir haben die Terroristen bekämpft, nun hört ihr uns nicht?"


Vergessenes Kobane
"Wir haben die Terroristen bekämpft, nun hört ihr uns nicht?"

  • David Ruch
InterviewVon David Ruch

14.09.2019Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Frau mit Kindern in einem zerstörten Haus in Kobane: In der Stadt ist trotz der Kriegsverwüstungen viel Neues entstanden.Vergrößern des Bildes
Frau mit Kindern in einem zerstörten Haus in Kobane: In der Stadt ist trotz der Kriegsverwüstungen viel Neues entstanden. (Quelle: Ali Hashisho/reuters)

Kobane war einst Symbol für den Kampf gegen den Islamischen Staat. Heute ist die Stadt fast vergessen. Einer von wenigen ausländischen Helfern vor Ort ist der Arzt Gerhard Trabert. t-online.de sprach mit ihm.

Im Herbst und Winter 2014 bewegte das Schicksal von Kobane die Welt. Damals drangen Terroristen des so genannten Islamischen Staates in die Stadt an der syrisch-türkischen Grenze ein, in der vor dem Krieg rund 55.000 Menschen lebten. Die Verteidiger leisteten erbitterten Widerstand und Kobane wurde zum Symbol für den Kampf gegen den IS. In blutigen Häuserkämpfen wendeten kurdische Milizen – unterstützt von Kampfjets der Anti-IS-Koalition – schließlich das Blatt und trieben die Dschihadisten aus der Stadt.

Bald fünf Jahre sind die dramatischen Ereignisse nun her. Seither ist es still geworden um Kobane. Die Stadt ist befriedet, doch für die heute etwa 40.000 Einwohner ist der Krieg nie vorbei gewesen. Die Türkei, die die Kurden als Feinde und Terroristen betrachtet, ist im benachbarten Afrin einmarschiert. Staatschef Recep Tayyip Erdogan hält die Kurdengebiete in Nordsyrien mit seinen Kriegsdrohungen in einem Dauerzustand der Angst.

Internationale Hilfe erhält Kobane praktisch kaum, obwohl es an so vielem fehlt: An Medikamenten, an Lebensmitteln, an Kapazitäten zur Behandlung von Krankheiten. Wenige Ausnahmen bilden Initiativen wie die von Gerhard Trabert, Arzt und Sozialarbeiter aus Mainz. Er engagiert sich seit einigen Jahren in Kobane. In dieser Woche war Trabert vor Ort. t-online.de erreichte ihn am Telefon.

Herr Trabert, in Deutschland arbeiten Sie seit vielen Jahren in der Obdachlosenhilfe und unterstützen Menschen ohne Krankenversicherung. Worin besteht Ihr Engagement in Kobane?

Gerhard Trabert: Ich besuche Kobane zum sechsten Mal. Unser Verein unterstützt hier das Rainbow-Waisenhaus. Es beherrbergt zum einen Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Zum anderen ist es Ausbildungsstätte für Einheimische, die Krankenpfleger werden wollen und die hier in Theorie und Praxis geschult werden. Unser Verein leistet finanzielle Unterstützung. Ein syrischer Arzt, der mit seiner Familie in Deutschland lebt und auf uns zukam, weil er vor Ort helfen wollte, koordiniert hier unsere Arbeit.

Mit welchen Krankheitsbildern haben Sie in Kobane zu tun?

Es gibt viele Fälle von Diabetes. Zahlreiche Patienten kommen mit einem so genannten Diabetes-Fuß zu uns, der für die Erkrankten mit einem hohen Infektionsrisiko verbunden ist. Wir haben Hunderte Diabetes-Patienten versorgt und sie auf einen guten Blutzuckerspiegel eingestellt. Ein anderes Beispiel ist die so genannte Mittelmeer-Anämie oder Thalassämie. Eine spezielle Krankheit, die hier häufiger bei Kindern auftritt.

Was genau ist das?

Es handelt sich um einen Gendefekt, durch den im Blut zu wenig Hämoglobin gebildet wird. Man findet ihn hier bei vielen Kinder. Die Krankheit wird mit Bluttransfusionen behandelt. Dabei sammelt sich jedoch zuviel Eisen im Blut an. Das Eisen muss ausgeschieden werden. Die Medikamente sind einfach zu beschaffen, wir können sie aber nicht hierher nach Rojava bringen (offiziell Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, Anm. d. Red.). Und ohne Behandlung werden die Kinder in zwanzig Jahren sterben.


Gibt es denn hier keine Hilfe aus dem Ausland?

Das große Problem ist das Embargo gegen Syrien, wodurch es überall an Medikamenten und medizinischem Gerät fehlt. Und die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, verhandelt nur mit der Regierung in Damaskus. Wir brauchen hier dringend Mittel für Tuberkulosepatienten, für Krebserkrankte. Behandlungen mit Chemotherapie sind nicht möglich. Ein großes Problem sind Nierenerkrankungen, bei denen eine Dialyse notwendig ist. Wir konnten einer Geburtsklinik jüngst einen dringend benötigten Inkubator übergeben. Es hatte uns aber acht Monate Arbeit gekostet, ihn hierher zu bringen. Es wäre enorm wichtig, dass das Embargo verschwindet.

Was hat sich in Kobane seit dem Ende der Kämpfe vor über vier Jahren getan?

Es ist viel in Bewegung gekommen. Neue Häuser und Straßen sind entstanden. Kürzlich gab es eine Kunstausstellung, ein neuer Spielplatz wurde eröffnet. Zugleich gibt es hier basisdemokratische Strukturen, in denen Kurden und andere Ethnien Hand in Hand zusammenarbeiten. Und Frauen werden von Anfang an in alle Entscheidungen einbezogen. Die Kraft und Energie der Menschen hier ist faszinierend. Man spürt eine tiefe Verinnerlichung der Basisdemokratie. Die Selbstverwaltung funktioniert meines Erachtens.

Sind die Spuren des Krieges noch sichtbar?

Oh ja. Kobane hat diese beiden Seiten: die Zerstörung und den Wiederaufbau. Vor allem der Stadtteil nahe der Grenze liegt komplett in Trümmern. Er soll als Mahnmal gegen den Krieg erhalten bleiben.

In Idlib im Nordwesten Syriens wird weiter gekämpft. Was bekommen Sie davon mit?

Relativ wenig. Problematischer für die Menschen hier war der Einmarsch der Türkei in Afrin vor eineinhalb Jahren. Zehntausende flüchteten daraufhin nach Rojava. Es gibt Berichte von Gräueltaten durch die türkische Armee und die mit ihnen verbündeten Dschihadisten. Was die Lage zusätzlich verschärfte: In Kobane und anderen kurdischen Gebieten wurden Felder angezündet, nachdem der IS dazu aufgerufen hatte.

Wie gehen die Menschen mit der Bedrohung um?

Es gibt eine große Angst davor, was Erdogan tun wird. Ich war zuletzt im Dezember hier, als die Warnungen aus Ankara vor einem bevorstehenden Einmarsch in Syrien besonders intensiv waren. Damals konnte man überall hier die Angst spüren.

Wie wirkt sich das aus?

Während der Kämpfe in Kobane verzeichneten die Ärzte viele Fehlgeburten, was mit dem Stress und der Angst vor den Bomben zusammenhing. Später gingen die Zahlen zurück. Derzeit werden im Gesundheitszentrum jeden Monat 400 Kinder zur Welt gebracht. Doch mit den Drohungen von Erdogan ist die Zahl der Fehlgeburten wieder stark gestiegen.

Es scheint, als könnten die Menschen auch Jahre nach den schlimmen Kämpfen nicht zur Ruhe kommen. Wer hilft ihnen, das zu verarbeiten?

Eine wirkliche Therapie für traumatisierte Menschen findet nicht statt. In Rojava leben rund fünf Millionen Menschen, davon sind 1,5 Millionen Geflüchtete. Ärzte sagen zu mir: 'Wir sind hier alle traumatisiert.' Aber es gibt in der ganzen Region nur fünf Psychiater, die Traumata behandeln.

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Würden Sie sagen, Kobane und die Region werden von der Welt allein gelassen?

Absolut. Die Menschen hier meinen: 'Wir haben die Terroristen bekämpft, nicht nur für uns, sondern auch für euch. Und nun werden wir so wenig gehört? Wir haben eine offene Gesellschaft, haben basisdemokratische Strukturen geschaffen. Aber dennoch unterstützt man uns nicht.'


Mit Blick auf die kommenden Monate und Jahre: Was sorgt Sie am meisten?

Erdogan ist fast alles zuzutrauen. Zwar haben die USA ihren Kurs etwas verändert und wollen sich nun doch nicht ganz aus Syrien zurückziehen. Das entspannt die Lage etwas. Zugleich aber wächst der innenpolitische Druck auf Erdogan und man weiß nicht, ob er darauf mit einer außenpolitischen Antwort reagiert.

Herr Trabert, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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