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Afghanistan | Terrorexperte Neumann: "Es droht ein Bürgerkrieg"


Chaos in Afghanistan
Terrorexperte: "Es droht ein Bürgerkrieg"

  • Saskia Leidinger
InterviewVon Saskia Leidinger

Aktualisiert am 27.08.2021Lesedauer: 5 Min.
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Anschläge in Afghanistan: Hier endet die Luftbrücke der Bundeswehr, die Zahl der Toten in Kabul ist derweil gestiegen. (Quelle: reuters)

Ein Anschlag erschüttert Afghanistan. Die Rettungsmissionen westlicher Staaten in Kabul sind gescheitert. Terrorismusexperte Peter Neumann befürchtet nun einen Bürgerkrieg – mit Folgen auch für Deutschland.

Videos in den sozialen Netzwerken zeigen grauenhafte Szenen. Das Wasser eines Kanals am Flughafen in Kabul ist tiefrot gefärbt. Darin: unzählige Tote.

Ein Anschlag hat am Donnerstag die afghanische Hauptstadt erschüttert. Zwei Selbstmordattentäter haben sich mitten in einer Menschenmenge am Flughafen in die Luft gesprengt. Dutzende Afghanen und auch US-Soldaten kamen dabei ums Leben. Die Bundeswehr hat ihre Evakuierungsmission nach dem Angriff beendet.

Überraschend kam das Attentat nicht. Bereits in den Tagen zuvor wurde vor möglichen Anschlägen gewarnt – auch von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Warnungen wurden mit jeder Stunde dringlicher und konkreter.

Hinter dem Anschlag steckt ein Ableger der Terrorgruppe "Islamischer Staat". Einer, der die Gruppe und ihre Ziele kennt, ist Peter Neumann. Der Terrorismusexperte ist Professor für internationale Sicherheitsstudien am King's College in London.

t-online: Herr Neumann, was bezweckt der sogenannte Islamische Staat mit diesem Anschlag?

Peter Neumann: Das Ziel des Anschlags war, dass die Rettungsaktion früher endet als geplant. Leider beweist dies nun, dass Terrorismus funktioniert.

Was hat der IS davon?

Der IS will in Afghanistan Chaos stiften, denn davon profitiert der IS. Das ist sein Rezept vom Irak nach Syrien bis nach Libyen. Der IS ist ein Feind nicht nur des Westens, sondern sogar der Taliban, denen er jegliche Legitimität abspricht.

Wie bedeutsam ist diese Terrorgruppe in Afghanistan?

Der IS hat vor allem im Norden Afghanistans Anhänger, denen die Taliban zu moderat waren. Der IS ist für die Taliban besonders problematisch, da der "Islamische Staat" einen Alleinstellungsanspruch hat und sagt, dass er die einzig wahre Religion ist. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Taliban den IS besonders stark bekämpfen werden.

Al-Qaida, der IS und das Hakkani-Netzwerk – mindestens drei Terrororganisationen agieren in Afghanistan. Welche davon ist am bedeutsamsten?

Sie sind alle drei bedeutsam. Das Hakkani-Netzwerk unterstützt und kämpft derzeit für die Taliban. Die würde ich derzeit als eins betrachten. Al-Qaida ist zwar in Afghanistan präsent, aber nicht mehr so systematisch wie in den 90ern. Damals sahen die Taliban al-Qaida als Partner und haben sie eingeladen, ganze Trainingscamps zu errichten. Das ist aktuell nicht der Fall.

Größter Konkurrent für die Taliban ist also der "Islamische Staat". Wird es den Taliban gelingen, den IS zurückzuhalten?

In den letzten Wochen sind zwei Dinge passiert: Erstens ein totaler Zusammenbruch von "Law and Order". Es herrschen im Grunde bürgerkriegsähnliche Zustände – im Gegensatz zu den Erwartungen der westlichen Welt sind die Taliban nicht in der Lage, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Und zweitens sind jetzt auch die Nato-Truppen nicht mehr da, die den IS bekämpft haben. Das erlaubt diesen Gruppen aktuell, viel freier zu operieren.

Peter Neumann: Der Wissenschaftler forscht zu Terrorismus.
(Quelle: Sachelle Babbar)


Peter Neumann ist Professor für Security Studies am King's College in London und Direktor des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR).

20 Jahre waren die Nato-Staaten nun in Afghanistan. Dennoch werden dort laut einer Untersuchung des US-Außenministeriums die meisten Terroranschläge verübt. Was macht dieses Land zu einem solchen Brennpunkt für Terroristen?

In Afghanistan herrscht seit 40 Jahren fast ununterbrochen die eine oder andere Art von Bürgerkrieg. Es ist ein unbefriedetes Land, das lange auch Spielball externer Mächte war. Zudem gibt es viele Volksgruppen mit Dissens untereinander. Das macht dieses komplexe Land ideal für jede Art von Widerstand.

Und damit letztlich auch für Radikalisierung.

Die Menschen sehen sich zwar schon als Afghanen, aber eine nationale Identität ist nicht stark ausgeprägt. Das macht es selbst für die Taliban schwer, Kontrolle über das ganze Land zu haben, und einfach für andere Gruppen, einen Aufstand loszutreten. Zudem ist dieses Land voller Waffen.

Wo kommen diese her?

Die sind bereits dort. Jede große Armee, die in den letzten 50 Jahren in Afghanistan gekämpft hat, hat ihre Waffen zurückgelassen – inklusive der Amerikaner und der Russen. Es gibt kein Land, in dem mehr Waffen herumliegen und mehr Teenager schießen können.

Warum sind Terrororganisationen für die Menschen in Afghanistan so attraktiv?

Einem paschtunischen Afghanen wird gesagt, dass seine Lebensweise, seine Tradition, seine Art, den Islam zu praktizieren, fundamental von einer korrupten Regierung und westlichen Invasoren bedroht wird. Das ist ein existenzielles Szenario, was dazu führt, dass sich die Menschen den Taliban anschließen. Sie kämpfen dann aber auch nur für sich selbst – im Gegensatz zu Anhängern des IS, die von einem Kalifat träumen.

Neben vermeintlich religiösen Gründen gibt es dahinter aber immer auch ein Machtinteresse und ökonomische Gründe.

Richtig. Die Taliban sind deshalb nicht nur als islamistische Organisation zu sehen, sie sind auch eine Stammesmiliz. Sie repräsentieren die Interessen der Paschtunen und die sehen sich durch die westliche Lebensweise bedroht und kämpfen dagegen an. Zudem war den Afghanen der Kampf gegen ausländische Invasoren jeder Art immer wichtig. Das ist im Grunde Teil ihrer DNA.

Gibt der "Sieg" der Taliban über den Westen jetzt den Dschihadisten weltweit Aufwind?

Man sieht in den sozialen Medien, dass diese Machtübernahme sehr aggressiv und propagandistisch ausgeschlachtet wird. Das Narrativ ist: 20 Jahre nach dem 11. September besiegen die Taliban Amerika – und das können wir auch. Vor allem, da die Dschihadisten seit 2017/18 keine größeren Erfolge mehr hatten.

Wer hat jetzt ein Interesse daran, dass die Taliban das Land kontrollieren?

Alle Nachbarländer haben ein Interesse daran, dass sich die Situation stabilisiert und das bedeutet aktuell eine Konsolidierung der Macht durch die Taliban. Die wahrscheinlichere Alternative ist allerdings, dass wir eine Art Bürgerkrieg gegen den IS, ethnische Milizen und Warlords bekommen. Was für die Menschen und den Westen besser ist, lässt sich nicht sagen. Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Auf Pressekonferenzen haben sich Vertreter der Taliban bemüht, möglichst gemäßigt aufzutreten. Werden wir bald das wahre Gesicht der Taliban sehen?

Die Führung der Taliban ist pragmatischer geworden, sie haben aber ihre Überzeugung nicht geändert. Sie haben immer noch ein sehr extremes ideologisches Programm, das sie durchsetzen wollen. Es ist allerdings auch deutlich geworden, dass diese Pragmatiker nicht in der Lage sind, das Land zu kontrollieren und es gibt bereits jetzt einen Richtungsstreit mit Hardlinern. Wer die Macht am Ende haben wird, lässt sich noch nicht sagen.

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Welche Gefahr geht von der Rückkehr der Taliban nun für Deutschland aus?

Prognosen sind schwierig und möglicherweise in einer Woche wieder veraltet. Es gibt durch die positive Propaganda unter den Dschihadisten eine etwas erhöhte Terrorgefahr im Westen, indem sich Einzeltäter jetzt ermutigt fühlen.

Und koordinierte Angriffe wie dem 11. September?

Westliche Staaten müssen nun aufpassen, dass es keinen Flächenbrand in der gesamten Region gibt. Die Taliban haben keine globalen Ambitionen, die wollen dort regieren, wo die Paschtunen sind, und das ist in Afghanistan und in Teilen Pakistans. Die Gefahr ist viel mehr, dass Terrororganisationen in Afghanistan Unterschlupf finden und von dort aus Anschläge in Nachbarländern organisieren. Das haben wir bereits in Libyen gesehen. Dort wurden die Anschläge in Tunesien geplant.

Wie sollte Deutschland auf die neue Lage reagieren?

Deutschland und andere Staaten sollten sich in den nächsten 30 Tagen zusammensetzen und überlegen, wie sich eine humanitäre Katastrophe verhindern ließe und wie Kontrolle über die Terrorsituation in Afghanistan ausgeübt werden könnte. Das ist gerade eine wirklich gefährliche Situation und die Zukunft des Landes sieht düster aus.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Peter Neumann
  • U.S. Department of State: Country Reports on Terrorism 2019 [pdf]
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