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Sturm aufs Kapitol: "Ich bin auf dem Blut dieser Menschen ausgerutscht"


Anhörung zum Sturm aufs Kapitol
"Ich bin auf dem Blut dieser Menschen ausgerutscht"

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns, Washington

10.06.2022Lesedauer: 6 Min.
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Traumatische Erlebnisse: Eine Polizistin schildert aus ihrer Sicht die dramatische Situation beim Sturm auf das Kapitol. (Quelle: reuters)

Die erste öffentliche Anhörung zum Kapitol-Sturm am 6. Januar bringt neue Erkenntnisse zu Donald Trumps Verantwortung für den Gewaltexzess. Der Ausnahmezustand bleibt in den USA trotzdem die neue Normalität.

Eigentlich wäre Juli Waesche jetzt schon wieder auf ihrem Hausboot auf dem Potomac. Der Fluss, der die US-Hauptstadt Washington mit dem Atlantik verbindet, war schon damals das sichere Zuhause der älteren Dame, als am 6. Januar der Mob aus Trump-Unterstützern das Kapitol, den Sitz des US-Kongresses, stürmte.

Heute kommt sie auf ihrem Heimweg eher zufällig am Capitol Hill vorbei. Waesche sieht die große Leinwand, die in dem kleinen Park gegenüber des großen Kapitol-Komplexes aufgestellt wurde. Die erste öffentliche Anhörung des Untersuchungsausschusses zum Kapitol-Sturm wird hier live übertragen.

Rund 200 Menschen haben sich auf der Wiese versammelt. Einige haben Picknickdecken und Campingstühle dabei. Sogar ein kleines Buffet ist aufgebaut. Waesche kann es bis heute noch immer nicht glauben und fasst mit ihren Händen an ihre Wangen. "Ich kann nicht fassen, wie dumm diese Menschen sind. Wir sind so gespalten, wie wir es noch nie gewesen sind." Sie weiß, dass auch diese öffentliche Anhörung mit all ihren Videos, Tondokumenten und Zeugenaussagen daran kaum etwas ändern dürfte. Trotzdem will sie sich die Übertragung ansehen.

Republikaner als Verbündete

Auf der Bühne vor der Leinwand spricht gerade Chris Shays. Der 76-jährige Republikaner war 21 Jahre lang Kongressabgeordneter. Heute erklärt er, wie furchtbar die Ereignisse vom 6. Januar für ihn gewesen seien. Wie gefährlich Ex-Präsident Donald Trump für den Fortbestand der amerikanischen Demokratie sei.

Shays spricht hier nicht unter Freunden. Dennoch applaudiert ihm das progressive Publikum. Im Kampf gegen den Autokraten Trump und seine immer weiter radikalisierte republikanische Partei (GOP) sind selbst Politiker willkommen, die einst Feindbilder waren.

Zu diesen gehört auch Liz Cheney, die wenig später als Ausschussmitglied auf der Leinwand erscheint. Weil sie sich konsequent gegen Trump stellt, ist die Tochter des erzkonservativen Ex-Vizepräsidenten Dick Cheney plötzlich so etwas wie eine Heldin für das Lager der Demokraten. Im Stile einer echten Entertainerin eröffnet Cheney jene Justiz-Show, die Donald Trump in den kommenden Juni-Wochen überführen soll.

Als wäre das alles ein Unterhaltungsprogramm, kündigt sie an, was das Publikum heute und auch später noch zu erwarten habe. "Wir werden unveröffentlichtes Material zeigen. Sie werden sehen, wie selbst die Tochter von Trump sich gegen ihren Vater stellt." Alles wirkt wie der Trailer für eine Neuauflage der Netflix-Serie "House of Cards".

Trumps Plan für den Staatsstreich

Tatsächlich aber ist das alles mehr als nur eine Show. Zwar geht es auch darum, die Republikaner von der Verantwortung Donald Trumps für den tödlichen Sturm auf das Kapitol zu überzeugen. Es geht aber auch um eine Selbstvergewisserung, die diese älteste Demokratie der Welt unbedingt braucht.

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat planmäßig versucht, die legitime Wahl seines Nachfolgers Joe Biden zu verhindern, um selbst im Amt zu bleiben. Diese Erkenntnis scheint sich nach dieser ersten öffentlichen Anhörung des Untersuchungsausschusses zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 immer deutlicher herauszubilden:

1. Trump verbreitete die Lüge des Wahlbetrugs.
2. Trump versuchte, seinen Justizminister Bill Barr zu entmachten, weil dieser einfach keinen Wahlbetrug ausfindig machen konnte. (Barr ist bei der Anhörung mit der Aussage zu hören, diese Idee sei einfach "Bullshit" gewesen.)
3. Trump übte Druck auf Gouverneure aus, Stimmen für ihn "zu finden".
4. Trump versuchte, seinen Vizepräsidenten Mike Pence zur Blockade des Machtübergangs zu zwingen.
5. Trump rief seine Anhänger nach Washington und stiftete sie zum Marsch auf das Kapitol an.
6. Trump reagierte nicht, als der Mob das Kapitol stürmte und selbst enge Familienmitglieder ihn baten, etwas dagegen zu unternehmen.

Neue Erkenntnisse über Trumps Pläne

Das mag alles nicht neu klingen. Doch es gibt heute tatsächlich Neuigkeiten. Anhand von Zeugenaussagen kann der Ausschuss darlegen, dass mehrere Republikaner bei Trump um Begnadigungen für das eigene Verhalten am 6. Januar bettelten. Trump konnte dem Aufruf, seinen Vizepräsidenten Mike Pence aufzuhängen, offenbar durchaus etwas abgewinnen. Während Pence das Militär zum Eingreifen am Kapitol rufen wollte, hielten es Trumps Berater für wichtiger, den Spin der gestohlenen Wahl aufrechtzuerhalten.

Ein rund einstündiges Treffen im Oval Office vor dem 6. Januar zwischen Trump, dem Anwalt Rudy Giuliani und seinem Berater Michael Flynn sollen ebenfalls anwesende Anwälte aus Furcht vor den Plänen abgebrochen haben. Die rechtsextremistische Gruppierung "Proud Boys" hatte offenbar im Washingtoner Nachbarbundesstaat Virginia parapolizeiliche Eingreiftruppen aufgestellt. Trumps Berater und selbst die eigene Familie hatten offenbar bereits akzeptiert, dass er verloren hat. Er selbst aber versuchte den Justizminister zu Neuwahlen zu zwingen.

Im Park auf dem Capitol Hill Washington geht ein Raunen durch die Menge, als Trumps Tochter Ivanka bei ihrer Aussage auf der Leinwand erscheint. Sie habe die Worte des Justizministers Bill Barr akzeptiert, als dieser keinen Wahlbetrug feststellen konnte. Applaus, als Liz Cheney ihre eigene Partei angreift: "Ich sage das zu meinen republikanischen Kollegen, die das Unvertretbare verteidigen: Es wird ein Tag kommen, an dem Donald Trump weg ist, aber Ihre Schande wird bleiben."

Zeugen der Gewalt am Kapitol

Der britische Filmemacher Nick Quested tritt als Zeuge auf. Er hatte die "Proud Boys" am 6. Januar begleitet. Viele von ihnen hörten sich die Rede Trumps gar nicht an, sondern machten sich direkt auf den Weg zum Kapitol. "Ich habe dokumentiert, wie die Menge aus Demonstranten zu randalierenden Aufständischen wurde", sagt Quested. "Für alle, die nicht verstanden haben, wie gewalttätig dieses Ereignis war – ich habe es gesehen, ich habe es dokumentiert und ich habe es erlebt."

Am verstörendsten aber wirken die Worte der Polizistin Caroline Edwards, die bei dem Aufstand verletzt worden war. Bis heute könne sie kaum beschreiben, was sie gesehen habe. "Es war schlicht eine Kriegsszene", sagt sie. "Am Boden lagen Beamte, sie bluteten, sie übergaben sich. Ich sah Freunde mit blutüberströmten Gesichtern. Ich bin auf dem Blut dieser Menschen ausgerutscht."

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Alle großen US-Sender übertragen diese erste Sitzung zur Primetime live. Außer der rechtskonservative Sender "Fox News". Zwar zeigt man dort alle Bilder, allerdings komplett ohne Ton. Stattdessen redet der berüchtigte Moderator Sean Hannity mit allerlei Gästen das Ermittlungsgremium in Grund und Boden.

Statt Zeugenaussagen hört das Millionenpublikum hier wütende Republikaner, die behaupten, das Komitee lenke nur von den echten Problemen ab: Inflation, fehlende Babynahrung und die Grenzprobleme in Mexiko. Zwar überträgt "Fox News" auf seinem YouTube-Kanal die ganze Anhörung auch mit Ton. Das sehen sich aber nur rund 4.000 Menschen an.

"Sie haben Jagd auf mich gemacht"

Auf einer Decke im Park sitzt Suki Strasse mit ihrer Tochter Lilly. "Wir geben die Hoffnung nicht auf", sagen sie. Obwohl sie wissen, dass die meisten Republikaner sich von dieser Anhörung und diesen Bildern nicht beeindrucken lassen werden. "Ich muss mir dieses neue Videomaterial der Gewaltszenen eigentlich gar nicht anschauen", sagt Strasse. Sie wohne ganz in der Nähe des Kapitols. Als sie am 6. Januar von dem Sturm gehört habe, sei sie hingegangen. "Ich habe das alles mit eigenen Augen gesehen."

Schon an den Tagen vor dem Aufstand seien Trump-Anhänger und Rechtsextremisten durch Washington gelaufen, erzählt Tochter Lily. "Sie haben Jagd auf mich gemacht, weil ich eine Covid-Maske trug." Diese Typen hätten schon länger versucht, Angst und Schrecken zu verbreiten. "Dass es kurz darauf zu dem Aufstand kam, war kein Zufall. Sie hatten diesen Plan und Trump hat sie hierher gerufen", sagt Lily. Ihre Gesichter möchten Sie aus Sorge vor dem Hass lieber nicht in den Medien zeigen.

Auf der Leinwand sind die Verhöre von verhafteten Kapitol-Stürmern zu sehen. Immer wieder erzählen sie, dass der ehemalige Präsident sie gebeten habe, nach Washington zu kommen. Trump habe gesagt, er werde mit ihnen zum Kapitol gehen und sei dann gar nicht dort gewesen.

Es wäre nicht Amerika, wenn diese Anhörung mit all den Verhören und Videos nicht auch perfekt inszeniert wäre. In dem zusammengeschnittenen Film, der den Sturm aufs Kapitol in brutalsten Bildern zeigt, ist am Ende Donald Trumps Stimme zu hören. "Es gab viel Liebe. Das habe ich von allen gehört. Viele, viele Leute haben mir gesagt, dass es eine liebevolle Menge war."

Kurz bevor diese erste Sitzung zu Ende geht, schreibt Juli Waesche vom Potomac aus noch eine SMS: "Ich bin fast wieder an meinem Hausboot angekommen und höre bei CNN zu." Für viele Amerikaner ist das der richtige Sender. Für viele andere aber gerade der falsche. Die amerikanische Gesellschaft ist gespalten wie lange nicht mehr.

Noch vor Mitternacht ordnet der rechtskonservative Fox-News-Moderator Sean Hannity die Angelegenheit für die Trump-Anhängerschaft ein. Überhaupt nichts Neues habe es bei dieser "Hollywood-Produktion" zu sehen und zu hören gegeben. "Dies ist nur eine weitere Anti-Trump-Verleumdung, die nichts bewirken wird."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
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