Deutschlands Problem? "Die Einheit 1990 war ein schwerer Fehler"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die AfD dominiert im Osten Deutschlands, bei den Landtagswahlen könnte sie triumphieren. Warum ist das so? Der britische Deutschlandkenner James Hawes hat eine spezielle Erklärung.
Am Sonntag könnte die AfD in Sachsen und Thüringen als Wahlsiegerin aus den Landtagswahlen hervorgehen. Warum findet die radikale Partei im Osten derart mehr Zuspruch als im Westen? Weshalb ist der Osten rund 35 Jahre nach der Einheit immer noch so verschieden vom Rest des Landes? James Hawes, britischer Autor des Buches "Die kürzeste Geschichte Deutschlands", sagt: Der Riss durch Deutschland reicht viel, viel weiter zurück, als die meisten ahnen.
t-online: Herr Hawes, 1989 fiel die Berliner Mauer, ein knappes Jahr später waren die beiden deutschen Staaten nach Jahrzehnten der Teilung vereinigt. Ging es damals zu schnell?
James Hawes: Ja. Die Einheit 1990 war ein schwerer Fehler. Niemand hatte 1989 das Ende des Eisernen Vorhangs erwartet, jeder dachte nach dem Mauerfall, dass es mindestens drei, vier Jahre dauern würde, bis die Vereinigung Deutschlands überhaupt möglich würde. Doch dann ging es Schlag auf Schlag. Das rächt sich bis heute.
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl sah angesichts des fragilen Zustands der Sowjetunion nur ein enges politisches Zeitfenster für die Wiedervereinigung.
Das mag richtig sein. Aber gerade das Stichwort Wiedervereinigung ließ viele vergessen, dass die deutsche Einheit im Jahr 1945, als die Wehrmacht kapitulierte und Deutschland in einen westlichen Teil und eine sowjetisch beherrschte Zone aufgespalten wurde, gerade einmal rund 80 Jahre alt war. 1866 hatte Preußen unter Otto von Bismarck im Deutschen Krieg nicht nur Österreich, sondern auch die anderen vier vollwertigen Königreiche Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg militärisch geschlagen, was im Deutsch-Französischen Krieg 1871 dann die sogenannte kleindeutsche Lösung unter voller preußischer Hegemonie ermöglichte. Preußen hatte Deutschland unterworfen, geeint war es damit noch lange nicht. Diese Lüge verfolgt uns bis heute.
Zur Person
James Hawes, Jahrgang 1960, ist Schriftsteller und promovierter Germanist. Hawes war Dozent für kreatives Schreiben an der britischen Oxford Brookes University, 2017 erschien sein Buch "Die kürzeste Geschichte Deutschlands".
Auch heute ist Deutschland nicht geeint. Bei den drei anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland drohen hohe Stimmgewinne von AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht, die im Westen weit weniger Zuspruch haben. Warum sind radikale Parteien gerade im Osten Deutschlands so erfolgreich?
Der Osten Deutschlands war immer anders – und hat immer anders gewählt. Ich verwende in diesem Zusammenhang gerne den Begriff "Ostelbien", den einst Max Weber als Mitbegründer der Soziologie geprägt hat. Ostelbien besitzt einen ganz anderen historischen und kulturellen Hintergrund als der Westen Deutschlands. Was im Osten geschieht, überrascht nicht.
Welchen Hintergrund hat Ostdeutschland denn? In Ihrem Buch "Die kürzeste Geschichte Deutschlands" widmen Sie dieser Frage viel Platz.
Ich bin nun beileibe kein Marxist, aber in Bezug auf den Osten Deutschlands ist der Begriff "Kolonialismus" bis in unsere Gegenwart durchaus angebracht.
Wie bitte?
Köln war bereits mehr als 1.000 Jahre alt, als Berlin noch ein slawisches Fischerdorf gewesen ist. Elbe und Saale waren bis 1147 die östliche Grenze des deutschsprachigen Gebiets. Erst in dem Jahr begann die anhaltende Eroberung und Kolonisierung dieses Raums durch Ritter und Siedler aus dem Westen Deutschlands. Allerdings wehrten sich die heidnischen Slawen heftiger, als es die christlichen Invasoren erwartet hatten: Weil die Eroberer keinen vollständigen Sieg erringen konnten, lebten sie fortan unter einem ständigen Gefühl der Bedrohung durch die früheren Besitzer dieses Landes. Denn diese konnten jederzeit zurückschlagen, so die Befürchtung.
Die AfD soll heute in Ostdeutschland so erfolgreich sein, weil sich die Vorfahren der Menschen dort vor Jahrhunderten bedroht fühlten?
Ja. Ostelbien ist gewaltsam erobert worden, besonders in Ostpreußen wird dies deutlich. Neben der weithin bekannten Marienburg errichten die Deutsch-Ordensritter ein dichtes Netz von Kastellen zur Beherrschung des Landes. Ein stetiges Gefühl der Bedrohung und Unsicherheit löst etwas in Menschen aus: Es herrscht ein großes Bedürfnis nach einem starken Staat, der schnell und radikal auf tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen reagieren kann. Es ist geradezu ein Gesetz der Weltgeschichte, dass Siedlerkolonialismus das Verlangen nach einem autoritären Staatswesen erzeugt.
Wir befinden uns im Jahr 2024. Sind derartige Denkweisen zumindest in Deutschland nicht wortwörtlich Geschichte?
Wieso Geschichte? Seit Julius Cäsar das Wort "Germani" prägte, hat niemand das "Deutsch-sein" des Westens je verneint. Östlich der Elbe aber waren weitläufige Gegenden noch in menschlicher Erinnerung durchaus kulturell bestritten, und zwar tödlich: Es leben heute Tausende Deutsche und Polen, für die einst die Antwort auf die Frage "Wie nennen Sie Ihren Geburtsort?“ ganz buchstäblich Leben oder Tod bedeuten konnte. Mentalität vererbt sich bekanntlich von Generation zu Generation, ohne dass man es merkt. Daraus erklärt sich auch die Ablehnung in Ostdeutschland gegenüber allem, was als "fremd" empfunden wird.
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Betrachten Sie Ostdeutschland überhaupt als deutsch?
Der deutsche Osten ist historisch gesehen eine Siedlerkolonie. Von Deutschen zwar beherrscht, aber oft nur, wie Irland von England einst beherrscht worden ist. Wer das bezweifelt, soll bedenken: Die slawischen Sorben gibt es im Osten Deutschlands noch! Mit dem Entschluss 1990, den Osten wieder zum "natürlichen" Bestandteil Deutschlands zu erklären, sind mit ihm die Probleme zurückgekehrt, die mit der deutschen Eroberung Ostelbiens vor nahezu 1.000 Jahren entstanden sind. In Ostelbien gibt es eine lange Tradition, rechts zu wählen. Die stramm rechte Deutschkonservative Partei war während des Deutschen Kaiserreichs nahezu vollständig von den Wählern in Ostelbien abhängig; so auch die rechte Deutschnationale Volkspartei nach 1918. Und es ist auch eine Tatsache, dass die NSDAP bei der Reichstagswahl im Juli 1932 in fast allen Regionen Ostelbiens mehr als 40 Prozent holte.
Moment! Im ohne jeden Zweifel in Westdeutschland gelegenen Schleswig-Holstein erreichte die NSDAP damals 51 Prozent der Stimmen.
Ohne Zweifel …? Man frage doch die Dänen von 1864! Schleswig-Holstein war auch lange Zeit umstritten – und ist mehrheitlich protestantisch. Bei den Protestanten erzielten die Nationalsozialisten überall größere Wahlerfolge als bei den Katholiken. Ostelbien war ebenso in großen Teilen protestantisch, insofern sehe ich hier keinen Widerspruch.
Warum hatten Adolf Hitler und die Nationalsozialisten in protestantischen Regionen mehr Erfolg?
Im Gegensatz zum Katholizismus war der deutsche Protestantismus oft nicht fähig, bei den Menschen ein echtes Gefühl von Geborgenheit zu erzeugen. Es sei denn in Verbindung mit einer strengen Form der Staatsanbetung. Und genau diese Kombination machte den Nationalsozialismus wohl unter anderem attraktiv für viele Protestanten, besonders in Ostelbien. Sie sehen, die politischen Systeme wechselten im Laufe der Geschichte, das Denken blieb gleich. Auch die DDR schuf in rund 40 Jahren sozialistischer Diktatur keinen "neuen Menschen". Die Anfälligkeit vieler Ostdeutscher für vermeintlich starke Anführer blieb.
Haben Sie vor dem Hintergrund Ihrer historischen Ausführungen einen Ratschlag, wie sich diese Anfälligkeit eindämmen ließe?
Geschichte ist hartnäckig. Ostdeutschland wird immer anders bleiben, aber das ist keine Tragödie. Deutschland muss sich schlichtweg von der Fantasie verabschieden, dass in einer Demokratie mehr oder wenig alle Menschen mehr oder weniger zufrieden sein müssen. Schauen wir in die Vereinigten Staaten oder in meine Heimat Großbritannien: Die dortigen Gesellschaften sind tief gespalten – und trotzdem läuft der Laden irgendwie. Demokratie muss es aushalten, dass 20 bis 30 Prozent der Wähler eine diametral andere Vorstellung haben als die Mehrheit im Land. Und solange sie nicht bundesweit regieren, wäre es auch nicht augenblicklich dramatisch, wenn in einzelnen Landesteilen radikale Parteien an die Macht kämen.
Eine steile These. Sehen Sie keine Gefahr für die deutsche Demokratie, wenn die AfD nach der Landtagswahl etwa das Bundesland Thüringen regieren sollte?
Nein, die sehe ich nicht. Föderale Republiken können und müssen das aushalten. In den US-Bundesstaaten Nebraska oder Utah wird sicherlich auch dann noch ein radikaler Republikaner gewählt, wenn Trump die Wahl verliert. Diese Gouverneure beeinflussen deshalb aber nicht die Bundespolitik.
Ein AfD-Ministerpräsident könnte allerdings sehr wohl zur "Normalisierung" der Ultrarechten mitsamt ihrer Ideologie beitragen und zur Bedrohung für Rechtsstaat und Verfassungsschutz werden.
Diesen Gewöhnungseffekt wird es nicht geben. Denn die AfD ist keine normale Partei, das würde sie auch nicht in Regierungsverantwortung. Wenn sie erst einmal regieren sollte, wird man überall im Westen – in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg oder in Bayern – denken: Das wollen wir hier nicht. Die Unterschiede zwischen West und Ost würden noch stärker zutage treten. Am Ende wählen die Menschen im Westen so, wie sie schon immer mehrheitlich gewählt haben: eine der vier demokratischen Parteien der Mitte. Im Osten entscheiden sich viele Menschen hingegen für eine Partei am rechten oder linken Rand. Hauptsache, sie verspricht autoritäre Führung. Sei es die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht, das eigentlich nichts getan hat, als die Linke zu ersetzen.
Helmut Kohl, der sogenannte Kanzler der Einheit, war Historiker. Wie sehr hat er die Andersartigkeit des Ostens im Zuge der Wende unterschätzt?
Kohl war mit Blick auf die Menschen im Osten ziemlich gutgläubig. Viele im Westen dachten: Nun werden lauter Leute Teil unseres Staates, die genauso ticken wie wir, die auch dasselbe wollen, nur bislang wegen ihrer Diktatur nicht durften. Das stimmte so aber nicht. In Ostdeutschland etwa war die Skepsis gegenüber Amerika und dem Westen immer schon groß, und das lange vor dem direkten Zugriff der Sowjetunion auf die DDR. Entsprechend gab und gibt es in diesem ganz wesentlichen Punkt der Westbindung Deutschlands einfach keine gemeinsame Basis.
Verschätzt haben sich Kohl und seine Berater auch in Hinsicht auf den wirtschaftlichen Zustand der DDR.
Da war man völlig naiv. Deshalb wurde ja der Solidaritätsbeitrag erfunden. Ein Vorgang, der aus heutiger Sicht ein törichter Fehler gewesen ist.
Warum?
Weil der "Soli" nicht gehalten hat, was er versprochen hat: Bis heute gibt es im Osten Deutschlands keine nennenswerten Industriezentren oder wichtigen Handelsplätze in größerer Zahl. Insgesamt sind aber rund zwei Billionen Euro für den Aufbau Ost geflossen. Was hätte man mit all dem Geld im Ruhrgebiet oder im Saarland anfangen können? Der "Soli" gehört augenblicklich abgeschafft und sollte durch einen ortsabhängigen Beitrag ersetzt werden, bei dem Reichere mit ihrer Abgabe für Dinge zahlen, die sich in ihrer direkten Umgebung und ihrem Umfeld verbessern.
Ziel des "Solis" ist die Anpassung der Lebensverhältnisse im gesamten Land. Was ist daran falsch?
Er bestärkt doch nur das Gefühl der Ostdeutschen, man müsse sie aus "nationaler Pflicht" unterstützen. Bereits im Kaiserreich unter Bismarck galt es als "Staatsräson", dass das reiche Rheinland den ärmeren – aber politisch "zuverlässigeren" – Gebieten im Osten finanziell unter die Arme greifen sollte. In der Weimarer Republik wurde das seit 1926 mit der sogenannten Osthilfe fortgesetzt, und auch Adolf Hitler sorgte dafür, dass Geld aus dem Westen nach Osten floss – weil dort seine Stammwähler lebten. Für mich ist all das verlogen-preußisches Gedankengut aus dem 19. Jahrhundert.
Mehrere führende Köpfe der AfD in ostdeutschen Bundesländern stammen aus dem Westen, Björn Höcke in Thüringen ist der prominenteste. Haben wir es mit einer Art neuer "Kolonisierung" Ostdeutschlands zu tun?
Ich vermute, dass der Osten für Westdeutsche wie Herrn Höcke eine Art Sehnsuchtsort ist. Gewissermaßen das "echte" Deutschland, in dem er sich wohlfühlt.
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Im Gegensatz zum Westen Deutschlands?
Genau. Für Radikale wie Höcke ist der Westen ein Feindbild, zahlreiche Menschen im Osten teilen diese Abneigung. Die Nähe zu Russland erscheint ihnen natürlicher. Auch dies reicht über Preußen zurück bis ins Mittelalter. Das preußische Bild von Russland war immer janusköpfig. Mal arrangierte man sich mit dem Land, worunter vor allem die Polen haben leiden müssen, mal führte man gegeneinander Kriege. Heute gilt: Deutschland ist keine Atommacht, kann Russland also kaum etwas entgegensetzen. Auch deswegen biedern sich AfD und BSW Russland an. Und: Ihre Anhänger bewundern autoritäre Stärke.
Blicken wir abschließend auf den kommenden Wahlsonntag. Mit welchem Ausgang rechnen Sie?
Die AfD wird wahrscheinlich ein paar Punkte schwächer abschneiden, als in den Umfragen vorausgesagt. Das hoffe ich trotz des Terroranschlags von Solingen, den die AfD für ihre Zwecke instrumentalisiert. Trotzdem wird es für die Parteien der Mitte – für CDU, SPD, FDP und Grüne – wohl kaum möglich sein, eine "westliche Koalition" zu bilden.
Was dann?
Dann sollte so lange erneut gewählt werden, bis sich eine politische Mehrheit in den Landtagen findet, die zusammenarbeiten kann und will.
Da äußern Sie aber ein eigenwilliges Demokratieverständnis?
Überhaupt nicht. Denn wenn eine stabile Regierung von Herrn Höcke und Frau Wagenknecht herauskäme, ist auch das in Ordnung. Ich wiederhole: Eine lokal begrenzte Regierungsbeteiligung radikaler Kräfte wäre aller Voraussicht nach kein Beinbruch. Gewissen Teilen eines Landes kann man freien Lauf lassen. Wenn Herr Höcke doch an die Macht kommt, werden alle sehen, was das für "Standort Thüringen" bedeutet! Wichtig ist nur, dass solche Konstellationen nicht im ganzen Land mehrheitsfähig werden, in großen westdeutschen Bundesländern oder gar im Bundestag.
Und wenn doch?
Dieser Fall wird nicht eintreten.
Ihr Gottvertrauen in allen Ehren …
Die gute Nachricht ist: Die Deutschen wählen seit Jahr und Tag fast immer gleich. 2018 erschien mein Buch in Deutschland, damals waren laut Umfrage 68,5 Prozent der Deutschen Anhänger von Union, SPD, FDP oder Grünen. Was ist seitdem alles passiert? Corona, Krieg gegen die Ukraine, Energie- und Inflationskrise ... Trotzdem ist die Zustimmung für diese Parteien insgesamt laut aktueller Umfrage nur um zwei Prozentpunkte gefallen. Das macht mich zuversichtlich.
Herr Hawes, wir danken für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit James Hawes via Videokonferenz