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Coronavirus-Lockerungen in Deutschland: Das Ende der Geduld


"Das ist pure Willkür"
Die Deutschen und das Ende der Geduld


Aktualisiert am 21.04.2020Lesedauer: 6 Min.
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Bürger bei einer Protestveranstaltung in Flensburg: Die Kritik an den Corona-Maßnahmen wird lauter.Vergrößern des Bildes
Bürger bei einer Protestveranstaltung in Flensburg: Die Kritik an den Corona-Maßnahmen wird lauter. (Quelle: Willi Schewski/imago-images-bilder)

Angela Merkel

Noch am Wochenende verbreitete der oberste Krisenmanager der Bundeskanzlerin große Zuversicht: "Wenn wir jetzt die Nerven behalten, können wir einen zweiten Lockdown vermeiden", sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier der "Bild am Sonntag". Man dürfe sich jetzt nicht "gegenseitig mit Verschärfungen und Lockerungen überbieten". Auf dem dazugestellten Foto strahlt CDU-Politiker Altmaier in die Kamera, die Ärmel hat er hochgekrempelt.

Seine Chefin schlug einen Tag später ganz andere Töne an: Bundeskanzlerin Angela Merkel trat am Montag mit besorgter Miene vor die Fernsehkameras und schloss einen neuen Shutdown aufgrund der Corona-Pandemie ausdrücklich nicht aus. Dieser sei sogar "unvermeidlich" bei einem "exponentiellen Wachstum der Infektionszahlen". Zuvor hatte Merkel im CDU-Präsidium ihre Unzufriedenheit darüber geäußert, dass jetzt "Öffnungsdiskussionsorgien" geführt würden.

Der Grund für die Vollbremsung der Kanzlerin: Merkel befindet, dass viele Menschen im Land nach den ersten Lockerungen die noch geltenden Ausgangsbeschränkungen weniger ernst nehmen. Seit vier Wochen gelten die strengen Regeln und noch trägt die Mehrheit der Bevölkerung sie mit. Doch wie lange noch? Trotz der schrittweisen Öffnung von Schulen und Geschäften wächst der Unmut in der Bevölkerung und die Ungeduld vieler Unternehmer: Vielen geht das alles zu langsam.

Das Bild, das sich am vergangenen Wochenende auf den deutschen Straßen bot, erinnerte an das Aufwachen eines Landes aus dem Dornröschenschlaf: Kaum waren die ersten Lockerungen verkündet, gab es in Stuttgart und Berlin mehrere Demonstrationen gegen die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. Während die Veranstaltung in Stuttgart stattfinden durfte, wurden Demonstrationen in der Hauptstadt aufgelöst.


Dort ist die Situation besonders dramatisch: Die Zahl der Anzeigen wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz stieg deutlich in den letzten Tagen, die Polizei musste diverse Partys auflösen. Prompt appellierte die Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci am Montag an die Berliner Bevölkerung: "Wir sind mitnichten über den Berg, die aktuellen Zahlen sind keine Entwarnung."

Auch Verantwortliche in anderen Städten äußern sich im Gespräch mit t-online.de besorgt: Vom Senat in Hamburg heißt es, die Akzeptanz für die Maßnahmen sei zwar in etwa gleichbleibend hoch, jedoch seien "auch Schwankungen feststellbar". Die Polizei verzeichne dort "täglich bewusste und vorsätzliche Verstöße im dreistelligen Bereich, die konsequent geahndet werden."

Noch deutlicher formuliert es Lucia Schanbacher, sie ist Stadträtin für die SPD in Stuttgart: "Das sonnige Wetter treibt die Leute raus und mit Besorgnis sehe ich immer mehr Gruppen, die sich wieder in Parks treffen und grillen." Schanbacher appelliert: "Die Kontaktbeschränkungen gelten bis mindestens 3. Mai – und 'mindestens' muss es auch heißen."

Eines der wichtigsten Ziele schien erreicht

Wie stark gegen die Kontaktbeschränkungen verstoßen wird, unterscheidet sich von Ort zu Ort. Aber viele Behörden bestätigten gegenüber t-online.de, dass die Sorglosigkeit nach den ersten Lockerungen zugenommen hat. Es sind Schlaglichter, dennoch zeigt sich ein gemeinsames Muster: Besonders oft sind es junge Menschen, die sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen halten. Und das vor allem in den größeren Städten.

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Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Die Zahl derer, die ein Corona-Erkrankter ansteckt, ist am Wochenende unter 1 gesunken. Das wurde von der Bundesregierung in der Wochen zuvor als wichtiger Indikator ausgegeben, um die Pandemie bremsen zu können. Obwohl Virologen warnen, dass diese Zahl jederzeit wieder steigen könne, schien eines der wichtigsten Ziele bei der Eindämmung der Pandemie erreicht. Hinzu kommt auch schönes Wetter, die Sonne scheint, der April 2020 könnte der wärmste April seit vielen Jahren werden.

"Lockerungschaos wie in Nordrhein-Westfalen"

Doch dass die Menschen ungeduldig werden, liegt nicht allein am Wetter, sondern auch am Kurs der Bundesregierung, glaubt Konstantin Kuhle. Er ist Innenpolitischer Sprecher der FDP und sagte im Gespräch mit t-online.de: "Grundsätzlich sind die angekündigten Lockerungen richtig, doch von der Bundesregierung werden sie zu intransparent kommuniziert: Dass beispielsweise Läden bis 800 Quadratmeter öffnen dürfen und alle anderen nicht, das ist pure Willkür. So wird Verunsicherung in der Bevölkerung verbreitet."

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, verteidigt dagegen den Kurs der Regierung. Sie sagt zu t-online.de: "Es führt kein Weg daran vorbei, weiter geduldig und diszipliniert zu sein, wenn wir später nicht einen umso drastischeren Rückfall erleiden wollen." Göring-Eckardt kritisiert dagegen das Krisenmanagement von Armin Laschet, es brauche "Vertrauen, ein Lockerungschaos wie in Nordrhein-Westfalen trägt allerdings zur Verunsicherung bei. Da würde ich mehr Verantwortung fürs gesamte Land wünschen."

In der SPD sind viele noch zurückhaltender als die Kanzlerin: Finanzminister Olaf Scholz sprach davon, dass die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie wohl bis ins Jahr 2021 gelten könnten, SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sprach bereits vom Jahr 2022. Auch viele CDU-Politiker sind bemüht, keine schnellen Hoffnungen auf Normalität zu wecken.

Viele Unternehmenschefs wollen am liebsten schon in wenigen Tagen das, was die SPD-Politiker Lauterbach und Scholz noch in weiter Ferne sehen: Eine Rückkehr zum Normalbetrieb. Der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, drängt im Interview mit t-online.de auf eine zügigere Lockerung der Maßnahmen: "Wenn wir nicht schneller werden, dann wird der Lockdown unweigerlich zur großen Depression – mit gravierenden sozialen, psychischen und gesundheitlichen Folgen."

800 Quadratmeter seien "willkürlich"

Auch der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, mahnt bei "Börse am Sonntag" vor einem erneuten Shutdown der Wirtschaft. Dieser wäre "nicht im Interesse der Unternehmen und auch nicht der Bürgerinnen und Bürger".

Aktuell sieht die Lockerung des Lockdowns der Bundesregierung Folgendes vor: Einige Einzelhändler dürfen ihre Läden wieder für Kunden öffnen — vorausgesetzt, die Ladenfläche ist nicht größer als 800 Quadratmeter. Doch die neuen Regeln gelten nicht für alle gleichermaßen, in einigen Bundesländern muss nur die Verkaufsfläche auf 800 Quadratmeter begrenzt werden, in anderen darf das gesamte Geschäft nicht größer sein.

Diese Ungleichbehandlung löste scharfe Kritik aus, fast jede Branche will nun Läden öffnen, einige fühlen sich benachteiligt. Ludwig Veltmann, Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbundes, sagte der Deutschen Presse-Agentur, dass die Festlegung der Grenze von 800 Quadratmeter als Kriterium "willkürlich" gewählt sei.

Für viele nicht nachvollziehbar

Dies führe zu einer Wettbewerbsverzerrung bei sich überlappenden Sortimenten von wiedereröffneten und noch geschlossenen Geschäften: "Letztere werden sich folglich im Stich gelassen fühlen – zumal es bisher keine konkreten Perspektiven für ihre Wiedereröffnung gibt." Anstatt sich nur auf Verkaufsflächen zu fixieren, könne man auch mit Regelungen hinsichtlich Hygiene, Zutrittssteuerung und Mindestabstand dem Infektionsschutz gerecht werden.

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Ebenso auf Unverständnis stößt die Regelung, dass die Lockerungen nur für bestimmte Branchen gelten und für andere nicht. Während KfZ- und Fahrradhändler sowie Buchhandlungen oder ab dem 4. Mai auch Friseure wieder Kunden empfangen dürfen, bleiben beispielsweise Bars, Restaurants, Kultureinrichtungen, Kosmetikstudios oder Massagepraxen weiter geschlossen. Für viele Unternehmer ist das nicht nachvollziehbar.

Auch Prominente schalten sich ein: Schauspielerin Sophia Thomalla fragte in einem Instagram-Post Gesundheitsminister Jens Spahn, warum Friseure wieder öffnen dürften und Tattoo-Studios nicht schließlich gebe es beim Tätowierer nur ein paar Kunden am Tag, während "beim Friseur Tag der offenen Tür ist". Hygienevorschriften würden im Tattoo-Studio zudem besser umgesetzt als in Friseursalons. Spahn antwortete ihr, dass Friseurstudios aktuell relevanter für die Bevölkerung seien.

Der vielleicht größte politische Streitpunkt ist die Öffnung der Kirchen: In der Krise wollen auch die verschiedenen Glaubensrichtungen wieder für die Menschen zugänglich sein. Eine Warnung hatte bereits der Papst ausgesprochen, der kürzlich von einer "Gefahr" sprach, falls Gottesdienste rein digital stattfänden. Doch schon in der ersten Beschlussvorlage des Bundes zu möglichen Lockerungen war zwar von einer vorsichtigen Öffnung von Bildungseinrichtungen, Archiven, und Zoos die Rede, doch "Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen (…)" blieben weiter untersagt.

Merkel vertagt die Diskussion

Einer, der sich damit nicht zufrieden geben wollte, war der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet. Bereits zu Beginn des Lockdowns lehnte er ein Beschneiden der Religionsfreiheit durch den Staat ab. Auch die Verfassungsrichter in Karlsruhe bestätigten, dass ein solcher Schritt höchstens vorübergehend erfolgen dürfe.

Angela Merkel vertagte am Freitag die Diskussion: Bei einer Videokonferenz mit dem Innenministerium einigten sich Vertreter von Glaubensgemeinschaften und Bundesländern darauf, einen Entwurf für Gottesdienste unter Bedingungen der Corona-Krise einzureichen. Die Zeit drängt, denn am 23. April beginnt der muslimische Fastenmonat Ramadan, zu dem die Moscheen normalerweise bis auf den letzten Platz gefüllt sind.

Virologen sind bereits jetzt alarmiert

Auch wenn der Bund und die Länder sich erst in den kommenden Wochen auf eine Lockerung der Gottesdienstverbote einigen sollten, können schon vorher an manchen Orten bereits wieder Glaubensfeiern stattfinden: Seit Montag sind in Sachsen Gottesdienste mit maximal 15 Personen wieder erlaubt. Auch in Thüringen sollen ab dem 3. Mai religiöse Zusammenkünfte wieder gestattet werden, sogar mit bis zu 30 Teilnehmern.

In Kirchen, Geschäften und teilweise auch Bundesländern wird verglichen und immer wieder gefragt: Wenn die einen dürfen, warum dann die anderen nicht? Der Vergleich und das gegenseitige Abwägen machen es für Angela Merkel und die Regierung schwerer, die Krise ausgewogen zu managen. Doch während die Politik mit der Wirtschaft und der Bevölkerung um Lockerungen ringt, sind führende Virologen bereits jetzt alarmiert: Eine zweite Welle könnte schon aufgrund der bereits vorherrschenden Sorglosigkeit kommen, und diese würde Deutschland noch härter treffen als die erste.

Nach einem Wochenende, an dem die Lockerungen teils sehr großzügig ausgelegt wurden, lag die Reproduktionsrate (R) des teilweise tödlichen Virus am Dienstagmorgen wieder bei knapp 1.

Der Virologe und Berater der Bundesregierung, Christian Drosten, twitterte am Sonntagabend, ihm sei noch nicht klar gewesen, "wie sehr die Distanzierungsmaßnahmen jetzt schon von allen Seiten infrage gestellt werden". Und Drosten warnte deutlich: "Bei R = ca. 1 verbreitet sich das Virus unter der Decke der Maßnahmen weiter. Auch jetzt schon."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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