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Martin Schirdewan: "Es gibt da eine unglaubliche Wut"


Linken-Chef über russisches Öl
"Die Sanktionen sind ein totaler Fehler"

  • Annika Leister
Von Annika Leister

30.12.2022Lesedauer: 6 Min.
Nachrichten
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Drushba-Pipeline bei Brest: Martin Schirdewan hält die Sanktionen gegen die Ölleitung für einen Fehler. (Quelle: Viktor Drachev/imago images)

Seine Partei steckt in einer tiefen Krise, Deutschland und die Europäische Union werden von Skandalen erschüttert. Ein Gespräch mit Linken-Chef Schirdewan über Sahra Wagenknecht, "Reichsbürger" und Korruption.

Die Linke hat durchaus ihre Erfahrung mit Rückschlägen, aber 2022 war für die leidgeprüfte Partei dann doch ein besonders hartes Jahr: Nachdem sie bei der vergangenen Bundestagswahl nur knapp wieder ins Parlament eingezogen war, zerlegte sie sich in aller Öffentlichkeit. Inzwischen scheint es möglich zu sein, dass die prominenteste Linke, Sahra Wagenknecht, zur Europawahl 2024 mit einer eigenen Partei antritt.

Aber wie soll es weitergehen mit der Linken? Und welche Schwachstellen bei der Ampel sieht die Oppositionspartei? Im Gespräch mit t-online geht Martin Schirdewan, der seit diesem Sommer Co-Vorsitzender ist, in die Offensive: Er teilt kräftig gegen die politische Konkurrenz aus und erklärt, warum der Kurs der Koalition seiner Meinung nach fatal ist – und auch die Union einen gefährlichen Weg eingeschlagen hat.

t-online: Herr Schirdewan, was fühlen Sie, wenn Sie den Namen Sahra Wagenknecht hören?

Martin Schirdewan: Freude.

Ach, tatsächlich?

Ja. Weil wir dann über die Linke reden und die ist mir eine Herzensangelegenheit. Über die rede ich sehr gerne.

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Linken-Chef Martin Schirdewan (Quelle: IMAGO/M. Popow)

Zur Person

Martin Schirdewan, 47 Jahre alt, ist seit vergangenem Sommer an der Seite von Janine Wissler Co-Parteivorsitzender der Linken. Mit rund 61 Prozent Zustimmung setzte er sich bei der Wahl auf dem Parteitag deutlich auch gegen die Konkurrenz aus dem Wagenknecht-Lager durch. Seit 2017 sitzt Schirdewan für die Linke im Europäischen Parlament. Er hat Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert und 2007 promoviert.

Sie und Janine Wissler als Parteivorsitzende sowie die Landeschefs und Fraktionsspitzen haben am 10. Dezember die "Leipziger Erklärung" unterschrieben. Von ihr sollte ein Signal gegen die Spaltung der Partei ausgehen – und damit auch gegen Sahra Wagenknecht. Klingt nach einer ganz schönen Kraftanstrengung gegen jemanden, bei deren Namen Sie so viel Freude empfinden.

Die "Leipziger Erklärung" richtet sich nicht gegen jemanden. Sie zieht aber eine Grenze. In der Öffentlichkeit wird seit Wochen über eine mögliche Parteiausgründung spekuliert. Für mich geht das zu weit – und das empfinden die Spitzen in Ländern wie Bund genauso. Mit der Erklärung haben wir ein Signal der Geschlossenheit, Stabilität und Einheit gesendet. Gleichzeitig ist sie eine Einladung, ein inhaltliches Angebot an alle, mitzuwirken.

Gab es von Frau Wagenknecht schon eine Reaktion auf die "Leipziger Erklärung"?

Sie hat sich weder intern noch extern geäußert. Aber ich denke, sie hat das Zeichen verstanden.

Es finden sich in der Erklärung weitere Punkte, von denen Frau Wagenknecht abweicht. Zum Beispiel erklärt die Linke, die gefährlichste Partei im Bundestag sei die AfD. Sie dagegen sagt, das seien die Grünen. Wie weit ist Frau Wagenknecht von der Leipziger Linie entfernt?

Man muss deutlich zwischen Demokratiefeinden wie der AfD und demokratischen Parteien wie den Grünen unterscheiden. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass Sahra Wagenknecht Antifaschistin ist. Und sie vertritt in einigen Fragen auch Positionen, die ich teile.

Zum Beispiel?

Die Sanktionen der Bundesregierung, die die Ölpipeline Druschba betreffen ...

... die von Russland unter anderem durch Polen und die Slowakei verläuft ...

... sind ein totaler Fehler.

Warum?

Ganze ostdeutsche Industrieregionen werden damit komplett abgehängt. Die Raffinerien Schwedt und Leuna kämpfen ums Überleben. Das hat große Folgen für die Regionen, bis hin zur stabilen Versorgung mit Treibstoff. Dabei war das Vorgehen nicht einmal von EU-Sanktionen gedeckt. Das war eine Streber-Aktion der Ampelregierung, mit der man allen in der EU zeigen wollte: Seht her, wie gut wir sind.

Würde es überhaupt Sanktionen gegen Putin geben, wenn Sie in der Regierung säßen?

Gezielte Sanktionen gegen Putins Machtapparat, also die Oligarchen, und gegen den militärisch-industriellen Komplex befürworten wir. Bei Wirtschaftssanktionen haben wir traditionell eine sehr kritische Position, wenn die Zivilbevölkerung unter ihnen leidet. Das gilt auch in diesem Fall.

Wie bewerten Sie die Arbeit der Ampelregierung mit Blick auf Ostdeutschland insgesamt?

Über 30 Jahre nach der friedlichen Revolution befinden wir uns immer noch in einer Situation, wo ostdeutsche Arbeitnehmer mehr arbeiten zu geringeren Löhnen, niedrigere Renten erhalten und weniger Eigentum besitzen. Das ist eine strukturelle Benachteiligung, der eine große politische Anstrengung entgegengesetzt werden müsste. Die sehe ich bei dieser Regierung aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Die Ampel sieht nicht einmal, was die ostdeutschen Bedürfnisse sind. Sie ist auf dem ostdeutschen Auge blind.

Herr Habeck war aber persönlich in Schwedt, das Thema Jobsicherung stand lange im Fokus.

Ich war in Schwedt im Rahmen unserer "Heißen Herbst"-Kampagne. Es war ein fürchterlich kalter und regnerischer Tag im Herbst. Trotzdem standen da 1.000 Leute auf dem Platz. Es gibt da eine unglaubliche Wut und ein großes Unverständnis über diese Entscheidung der Bundesregierung. Es geht für diese Leute um ihre Jobs, es geht um die Zukunft der ganzen Region, es geht auch um Perspektiven für ihre Kinder. Das erledigt sich nicht durch Sonntagsreden bei einem Pressetermin des Wirtschaftsministers.

Gerade beschäftigt ein anderes Thema die Politik stark. Die sogenannten Reichsbürger, die einen Umsturz mit Gewalt planten. Als Vorsitzender einer antifaschistischen Partei: Was muss jetzt passieren?

Alle müssen jetzt verstehen: Die Reichsbürger sind nicht einfach eine skurrile Spinnertruppe, sondern gefährliche Rechtsextreme mit Vernetzung in den Polizei- und Militärapparat hinein. Und daraus müssen Konsequenzen folgen: Wer Reichsbürger ist und in der Armee oder der Polizei, fliegt raus aus dem Dienst. Sofort.

Wie bewerten Sie das Verhalten von CDU-Chef Friedrich Merz, der erst zu den "Reichsbürgern" schwieg und ihre Pläne dann in einem Atemzug mit den Aktionen der Klimademonstranten von der "Letzten Generation" geißelte?

Ich fasse mir an den Kopf, wenn ich so etwas lese. Merz ist da jede politische Verhältnismäßigkeit verloren gegangen. Proteste gegen den Klimaschutz kriminalisiert er, Putschversuche von Rechtsextremen verharmlost er. Das ist politisch unerträglich und absolut gefährlich. Es kommt aber nicht überraschend. Die Konservativen haben leider immer wieder Probleme, die Brandmauer nach rechts zu halten.

Sie meinen Thüringen, wo die CDU immer wieder auf die Stimmen der AfD setzt, um Mehrheiten zu finden?

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Unter anderem. Derzeit setzt die Union auf einen Politikstil à la Trump. Wenn sie so weiter macht, ist der rheinische Konservatismus am Ende, dann geht die Union ganz klar in Richtung Rechtspopulismus. Das ist extrem bedenklich.

Wie groß ist das Problem an der Spitze?

Ich habe bei Merz ständig das Gefühl, dass er in 280 Zeichen denkt. Social Media aber ist das Ende der Aufklärung. Der CDU-Vorsitzende täte gut daran, sich ihr und nicht den Likes auf seinem Twitter-Profil verpflichtet zu fühlen.

Sie sind EU-Abgeordneter. Das Parlament wurde gerade auch heftig erschüttert – durch einen Korruptionsfall. Wie blicken Sie auf den Skandal rund um Eva Kaili?

Die Unverfrorenheit, mit der politische Einflussnahme verkauft und erkauft wurde, hat mich schockiert. Der Schaden ist noch gar nicht zu ermessen. Wenn der Eindruck entsteht, dass Politik käuflich ist, dann ist das fatal. Vertrauen baut man nur schrittweise auf, aber man verliert es erdrutschartig.

Wie nehmen Sie Lobbyismus und Einflussnahme im EU-Parlament wahr?

Lobbyisten haben viel zu viel Einfluss auf die Gesetzgebung. Das gilt nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin. Ich erhalte viele, viele Anfragen, wenn es um wichtige Gesetzesvorhaben geht. Bei der Bankenregulierung zum Beispiel versuchen plötzlich alle möglichen Geld- und Finanzinstitute, Treffen mit mir zu bekommen. Und bei der Digitalgesetzgebung würden die großen Big-Tech-Unternehmen am liebsten jeden Tag in meinem Büro sitzen.

Fällt Ihnen ein besonders dreistes Beispiel ein?

Ganz aktuell: Wir haben im November eine Resolution im EU-Parlament zu Katar und der Menschenrechtssituation durchgesetzt. Kurz danach hat sich der katarische Botschafter gemeldet. Er sagte, er sei 'zufällig' gerade in Straßburg und habe großes Interesse an einem Treffen. Ich habe mich natürlich nicht mit ihm getroffen. Kurz danach hat er es noch mal versucht.

Wie gehen Sie mit solchen Anfragen um?

Sehr restriktiv. Während der Gesetzgebung zum Digitalgesetz habe ich zum Beispiel entschieden: Ich werde mich das ganze Jahr mit keinem Lobbyisten aus der Tech-Industrie zu dem Thema treffen. Ich weiß ja, was die wollen und wen ich vertrete. Dasselbe galt für mein gesamtes Team. Wenn wir uns mit Lobbyisten treffen, sind das meist Nichtregierungsorganisationen – und wir dokumentieren jedes Treffen öffentlich.

Das macht nicht jeder Abgeordnete.

Die Transparenzregeln in Brüssel sind im Vergleich theoretisch sehr streng, viel strenger zum Beispiel als in Deutschland. Aber sie müssen auch umgesetzt werden. Es gibt viele Abgeordnete, die haben seit Jahren nichts veröffentlicht. Die ignorieren die Regeln einfach. Und dann passiert nichts.

Wie lässt sich das ändern?

Es braucht eine unabhängige Ethikkommission, die Interessenskonflikte und Transparenzregeln prüft. Wenn sie nicht eingehalten werden, muss erst die Kommission einschreiten und im nächsten Schritt das EU-Parlament mit aller Härte durchgreifen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schirdewan.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Martin Schirdewan
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