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Grünen-Landrat kritisiert Flüchtlingspolitik: "Unsere Ressourcen sind am Ende"


Landrat schlägt Alarm
"Unsere Ressourcen sind am Ende"

  • Annika Leister
InterviewVon Annika Leister

Aktualisiert am 07.02.2023Lesedauer: 5 Min.
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Proteste gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft in Upahl, Mecklenburg-Vorpommern (Symbolbild): Der 500-Einwohner-Ort sollte 500 Geflüchtete unterbringen.Vergrößern des Bildes
Proteste gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft in Upahl, Mecklenburg-Vorpommern: Der 500-Einwohner-Ort sollte 500 Geflüchtete unterbringen. (Quelle: Bernd Wüstneck/dpa)

Immer mehr Kommunen schlagen Alarm: Sie sind überfordert mit der Unterbringung von Geflüchteten. Ein bayerischer Landrat kritisiert Bund und Länder im Interview scharf.

In diesen Tagen erreichen einige Brandbriefe das Bundeskanzleramt. Sie stammen von Kommunalpolitikern, die Alarm schlagen: Sie seien überfordert mit der Unterbringung von Geflüchteten in ihrem Kreis oder ihrer Gemeinde. Ihr Vorwurf: Bund und Länder ließen die Kommunen im Stich. Der Kanzler solle eingreifen, das Thema zur Chefsache machen.

Jens Marco Scherf hat einen solchen Brandbrief Mitte Januar geschrieben. Der 48-Jährige ist vor acht Jahren überraschend zum Landrat im fränkischen Miltenberg gewählt worden und zählt damit zu den wenigen Landräten der Grünen in Bayern. Er warnt in seinem Brief an den Kanzler: Die Belastungsgrenze sei weit überschritten und Kommunen schlicht nicht in der Lage, noch mehr Menschen aufzunehmen.

Wo liegen die Probleme? Wo sieht Scherf Lösungen? Ein Gespräch über umstrittene Notunterkünfte, seine Erwartungen an den geplanten Flüchtlingsgipfel und die Stimmung in seiner Kommune.

t-online: Wie steht es um die Unterbringung von Geflüchteten in Ihrem Landkreis?

Jens Marco Scherf: Die Lage ist prekär. Wir haben einen dramatischen Wohnungsmangel im Kreis und keinen Platz für Unterkünfte, aber es fehlt auch an vielem anderem. Unsere Ressourcen sind am Ende.

Befürchten Sie Verteilungsängste?

Das sind keine Ängste, das sind handfeste Verteilungsprobleme. Wir haben schon für die Regelbevölkerung viel zu wenig Wohnungen, zu wenig Ärzte, nicht genügend Plätze und Betreuungsmöglichkeiten in Kindergärten und Schulen. Integration gelingt nicht unter solchen Umständen. Man muss sich bemühen können, man muss Kraft und Zeit hineinstecken. Das können wir zurzeit gar nicht.

Jens Marco Scherf: Seit 2014 ist er Landrat für die Grünen in Bayern.
Jens Marco Scherf: Seit 2014 ist er Landrat für die Grünen in Bayern. (Quelle: ANNA HORNSTEIN FOTOGRAFIE )

Zur Person

Jens Marco Scherf, 48 Jahre alt, ist seit 1994 Mitglied bei den Grünen. Seit 2014 ist er Landrat im Landkreis Miltenberg. Zunächst wurde er in einer Stichwahl mit nur knapp 50 Prozent der Stimmen gewählt, 2020 wurde er dann mit 69 Prozent Zustimmung wiedergewählt. Scherf hat Lehramt studiert, arbeitete an verschiedenen Schulen und war ab 2008 Rektor der Verbandsschule Faulbach. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Haben Sie deswegen einen Brandbrief an den Kanzler geschrieben?

Es ist meine Pflicht als Kommunalpolitiker, zu sagen: Achtung, Stopp! Wir kriegen hier ein riesengroßes Problem.

Wie viele Geflüchtete hat Ihr Landkreis im vergangenen Jahr aufgenommen?

Etwa 1.600 Leute aus der Ukraine, dazu etwa 500 Menschen aus Afghanistan und Syrien. Wir haben außerdem etwa 800 Geflüchtete aus den Jahren 2015 und 2016, die noch Betreuungsbedarf haben. Seit Januar müssen wir weitere Menschen aufnehmen, weil die Ankerzentren in Bayern voll sind. Deswegen haben wir in der vergangenen Woche unsere erste Notunterkunft geöffnet.

Waren Sie darauf vorbereitet?

Wir haben bereits im vergangenen Herbst ein leerstehendes Schulgebäude als Reserve angemietet. Das war mir ein großes Anliegen. Ich wollte unbedingt vermeiden, Turnhallen zu belegen. Trotzdem ist die öffentliche Stimmung in Bezug auf die Notunterkunft zum Teil sehr kritisch.

Warum?

Wir haben die Notunterkunft von der Stadt angemietet mit Blick auf eine mögliche weitere Eskalation in der Ukraine. Aus der Ukraine kommen aber inzwischen weniger Menschen, stattdessen ist der Zuzug aus Syrien und Afghanistan wieder gestiegen. Jetzt werden in die Notunterkunft vor allem alleinstehende Männer einziehen. Für die Bevölkerung war das erst einmal ein Schreck.

Wie läuft es bisher?

Seit letzter Woche leben dort 30 junge Männer und benehmen sich tadellos. Aber: Die Sorgen in der Bevölkerung sind da, die lassen sich nicht wegreden.

Sie sind nicht der einzige Kommunalpolitiker, der wegen des Drucks Alarm schlägt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat deswegen hastig einen Flüchtlingsgipfel angesetzt. Was erhoffen Sie sich davon?

Wenig. Diese Gipfel werden immer unter Druck einberufen, dann bleibt es in der Regel bei einem einmaligen Treffen und reinen Ankündigungen. Es braucht aber einen Diskurs auf der Fachebene, Arbeitsgruppen zu ganz unterschiedlichen Themen, die mit Menschen aus der Praxis von allen Ebenen besetzt sind. Und das Allerwichtigste: Sie müssen dauerhaft im Gespräch bleiben und sich eng beraten.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich schon geäußert. Er möchte abgelehnte Asylbewerber rascher und konsequenter abschieben.

Das ist nur ein weiteres schnelles Versprechen aus Berlin, das uns nicht weiterhelfen wird. Selbst wenn die rasche Rücknahme mit den Herkunftsländern erfolgreich ausverhandelt und konsequent angewendet würde: Wir nehmen zurzeit vor allem Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan auf, die alle zu Recht eine gute Bleibeperspektive haben. Der Bund muss kurzfristig für Entlastung sorgen.

Wie?

Es kann nicht einfach wie bisher heißen: Ab, weiter, die Kommunen machen es ja! Bund und Länder müssen sich überlegen, wie sie Geflüchtete zentral in größeren Unterkünften unterbringen.

Aber in solchen großen Unterkünften gelingt doch Integration erst recht nicht.

Das kommt darauf an, wie man sie führt und ausstattet. Auch das ist eine Frage der Ressourcen. Warum erhalten Menschen dort nicht vom ersten Tag an Deutsch- und Integrationsunterricht von Fachkräften? Warum stemmen, wenn überhaupt, Ehrenamtliche diese Arbeit? Ich möchte außerdem daran erinnern: Die Unterbringung von Geflüchteten ist per Gesetz Länderaufgabe. Nur wenn das Land dieser Verpflichtung nicht nachkommt, und nur dann, sind wir als Kreisverwaltungen dran. Die Länder weisen gerne einfach zu. Ich würde die Verantwortung gerne wieder dahin zurückgeben, wo sie tatsächlich hingehört.

Wer versagt aus Ihrer Perspektive gerade eigentlich mehr: Länder oder Bund?

Die versagen beide gleichermaßen. Aber die Bundesregierung ist erst seit etwas mehr als einem Jahr im Amt, die Probleme gab es vorher auch schon.

Was würde in Ihrer Lage insgesamt helfen, was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir erstens, dass wir endlich ehrlich analysieren und reflektieren: Wann gelingt Integration, wann gelingt sie uns nicht? Was brauchen wir, damit sie gelingt? Ein Beispiel: Ich bekomme für die Beratung, Betreuung und Integration von Geflüchteten für den gesamten Landkreis dreieinhalb Stellen gefördert. Dreieinhalb Stellen auf 3.000 Geflüchtete – das entspricht nicht im Entferntesten dem, was wir tatsächlich brauchen.

Und zweitens?

Zweitens wünsche ich mir, dass wir auch die Geflüchteten stärker in die Pflicht nehmen. Wir haben immer wieder Kinder, die hier geboren wurden und dann nach sechs Jahren eingeschult werden, ohne dass sie ein Wort Deutsch sprechen. Aus meiner Sicht verletzen solche Eltern Kinderrechte. Ich war früher Lehrer und Schulleiter, mein Motto lautet: Fordern und fördern.

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Wie stellen Sie sich das "Fordern" in solchen Fällen genau vor?

So, wie wir es auch deutschen Leistungsbeziehern zumuten: über Sanktionen. Wer nicht Deutsch lernt, wer es seinen Kindern nicht ermöglicht, die Sprache zu lernen, dem sollten die Ämter die Gelder kürzen.

Aber aus Syrien und Afghanistan kommen ebenso wie aus der Ukraine oft Menschen, die tief traumatisiert sind. Die Krieg, Gewalt und Vergewaltigung erlebt haben. Was, wenn die eben nicht in sechs Jahren perfekt Deutsch lernen und es auch noch ihren Kindern beibringen können?

Dann müssen wir sie auf diesem Weg begleiten und unterstützen. Es müssen nicht alle gleich schnell sein. Der erste Schritt ist für mich nicht die Sanktion, sondern zu erklären, Möglichkeiten zu bieten, zu helfen. Aber wir müssen auch klarer machen, was wir eigentlich erwarten.

Sie sind bei den Grünen, manchmal klingen Sie eher wie von der CDU. Wie waren die Reaktionen aus Ihrer eigenen Partei auf Ihre Äußerungen?

Ich musste mich erklären, aber ich bin in einem guten sachlichen Austausch mit der Spitze in Berlin, sowohl bei der Fraktion als auch bei der Partei. Ob Grün, SPD, FDP oder CDU – das ist auf Kommunalebene ziemlich egal. Wir haben hier alle dieselben Probleme.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Jens Marco Scherf
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