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"Tag X" in Leipzig: Droht Terrorismus durch die autonome "Hammer-Bande"?


Hammer-Bande abgetaucht
Linker Terror aus dem Untergrund?

  • Jonas Mueller-Töwe
  • Carsten Janz
Von Jonas Mueller-Töwe, Carsten Janz

Aktualisiert am 12.06.2023Lesedauer: 7 Min.
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Fünf Verdächtige des Angriffs in Budapest: Deutsche Autonome verüben Angriffe auf Neonazis.Vergrößern des Bildes
Fünf Verdächtige des Angriffs in Budapest: Deutsche Autonome verüben Angriffe auf Neonazis. (Quelle: imago images/Polizei Budpaest)

Das Urteil gegen Linksradikale aus Leipzig könnte zum Auftakt einer Welle der Gewalt werden. Droht sogar Terrorismus? Das zumindest befürchten Sicherheitsbehörden.

Es ist kalt im Februar dieses Jahres in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Trotzdem, die Sonne scheint, ein Mann schlendert arglos durch eine Einkaufstraße und schaut auf sein Handy. Vielleicht ist es auch ein Blatt Papier, so genau ist es auf dem pixeligen Video einer Überwachungskamera nicht zu sehen. Er ist auf das, was jetzt folgt, nicht vorbereitet. Die Szenen, die sich dann abspielen, sind an Brutalität kaum zu übertreffen.

Antifaschismus mit dem Hammer

Acht teilweise Vermummte verfolgen den Mann, einer von ihnen zückt plötzlich einen sogenannten Totschläger und prügelt von hinten auf seinen Kopf ein. Der stolpert, fällt und wird dann von der Gruppe am Boden weiter getreten und geschlagen. Als die Gruppe fertig ist, sprühen sie dem Verletzten etwas ins Gesicht, das Reizgas sein könnte. Sie hatten ihn anlässlich des Gedenktags für die SS in Budapest offenbar als Neonazi identifiziert.

Die Angreifer waren demnach deutsche Antifaschisten. Und nicht irgendwelche.

Die ungarische Polizei sucht wegen des Überfalls unter anderem mit einem Fahndungsfoto nach Johann G., einer herausragenden Person in der deutschen Autonomen-Szene. Er ist seit gut zwei Jahren abgetaucht – und soll der Verlobte der gerade zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilten Lina E. sein. Wegen des Prozesses wollen Teile der Szene am heutigen Samstag in Leipzig randalieren, andere lediglich demonstrieren.

Ermittlungen ausgeweitet

Doch die Verbindung zwischen G. und E. wirft Fragen auf: Der jungen Linken und ihren Mitangeklagten hatte der Generalbundesanwalt am Landgericht vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung zur Begehung eben solcher Angriffe auf Neonazis gegründet zu haben. Verurteilt wurden sie unter anderem wegen Hammer-Attacken auf die ebenfalls militante Neonaziszene in Eisenach. Medien haben sie "Hammer-Bande" getauft.

Noch während des Prozesses kam es aber weiter zu Angriffen, bei denen Neonazis mit Hämmern traktiert und teils schwer verletzt wurden. Mehrfach wurden die Ermittlungen ausgeweitet und erstrecken sich nun laut Informationen der "Welt" auf 15 Personen im Umfeld der Frau. Es kam zu Durchsuchungen und weiteren Festnahmen. Der Verdacht steht im Raum, die Gruppe könne weit mehr Mitglieder haben als die am Landgericht Dresden angeklagten Personen.

Wie fest ihr Zusammenschluss tatsächlich ist, blieb unklar. G. soll laut einem Kronzeugen aber eine treibende Kraft hinter mehreren Überfällen sein. Zeitgleich werden weitere deutsche Autonome wegen der Attacken gesucht. Sie gelten ebenfalls als flüchtig – was den deutschen Sicherheitsbehörden zunehmend Sorge bereitet. Der Verfassungsschutz vermutet, dass die Gruppe fortbesteht und nicht vor weiteren Angriffen zurückschreckt.

Terrorismus? "Dann rückt der Moment näher"

"Die Schwelle zum Terrorismus sehen wir aktuell noch nicht überschritten", sagte kurz nach der Urteilsverkündung Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. "Aber wenn sich die Radikalisierungsspirale weiterdreht und die Taten immer brutaler und hemmungsloser werden, dann rückt der Moment näher, in dem man auch von Linksterrorismus sprechen muss." Denn ein Leben im Untergrund – das zeigen andere Fälle – führt häufig zu Radikalisierung und zunehmender Gewaltbereitschaft. So schätzt es auch ein Papier des Bundeskriminalamts ein, über das der "Spiegel" berichtete. Als beispielhaft dafür gilt die "Rote Armee Fraktion" (RAF). Ermittler sehen demnach mittlerweile Parallelen.

Über Jahrzehnte hatte die Gruppe mit brutalen Morden und Anschlägen die Bundesrepublik in Schrecken versetzt. Seit ihrer Auflösung vor knapp 25 Jahren war Terrorismus von links in Deutschland aber kaum mehr in den Nachrichten. Ihre Strategie der Stadtguerilla galt auch unter Sympathisanten als gescheitert. Die Untergrundlogistik der Terrorgruppe war zerschlagen, die Sowjetunion zerfiel als ideologischer Bezugspunkt. Die Revolution fiel aus.

Die Gewalt nimmt zu

Übrig blieb ein latentes Gewaltpotenzial der anarchistischen Autonomen-Szene, die unbestritten "die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung und damit die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen" will, wie der Verfassungsschutz es beschreibt. Militanz gilt ihr als zentral für das politische Selbstverständnis. Weitgehend beschränkte sie sich aber für viele Jahre auf Straßenschlachten mit der Polizei, auf Widerstand, wenn besetzte Häuser geräumt wurden, auf mehr oder minder spontane Auseinandersetzungen mit Neonazis und anderen Rechtsradikalen.

Vor allem bei Demos der politischen Gegner kam es zu Ausschreitungen. Zu Events wie dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 wurde die ausufernde Randale weit im Voraus europaweit geplant.

Und die Gewalt nahm zuletzt wieder zu: 2019 gab es laut Verfassungsschutz 9.200 gewaltbereite Linksextremisten, 2021 waren es sogar gut 10.300. Die Straf- und Gewalttaten sind zwar in dem Berichtszeitraum leicht gesunken, befinden sich aber insgesamt in einem Aufwärtstrend. 2021 registrierte die Polizei mehr als 6.100 linksextremistische Straftaten mit Hotspots in NRW, Sachsen und Berlin. Gewalttaten gab es gut 1.000, darunter auch ein versuchtes Tötungsdelikt. 2020 gab es davon fünf. In vielen Jahren wurden allerdings kaum Fälle bekannt, bei denen ein Verdacht auf Terrorismus nahelag.

Brandsätze und Drohbriefe

Nur wenige Kleingruppen störten dieses Bild: Die "militante gruppe" (mg) zündete in den 2000er-Jahren Bundeswehrfahrzeuge an, verschickte Drohbriefe mit Munition, bekannte sich zu über 20 Anschlägen. Drei Täter wurden 2009 dafür zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In Erinnerung blieben allerdings maßlose Ermittlungsmethoden, die Unschuldige jahrelang engmaschig überwachten. Der Terrorismusverdacht hielt rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Taten seien "nach der Art ihrer Begehung" nicht geeignet gewesen, "die Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Gesetzes erheblich zu schädigen", urteilte der Bundesgerichtshof.

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Als die Gruppe aufflog, übernahmen die sogenannten "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) ihre Nachfolge: Von 2009 bis 2011 explodierten unter anderem in Berlin nachts Brandsätze vor Gebäuden der öffentlichen Verwaltung. Verwendet wurde das "Modell Gasaki" aus Gaskartuschen – ein im Duktus der Gruppe "kombinierter Brand-/Sprengsatz niedriger Intensität". Aufgeklärt wurde die Anschlagsserie nie.

Die neue Dimension

Spuren führten in Szenetreffpunkte in der Hauptstadt, Magdeburg und Stuttgart, auch in Sympathisantenkreise der früheren RAF. Ein Mann wurde Ende 2021 wegen Beihilfe verurteilt. Da war die Gruppe allerdings schon seit fast zehn Jahren nicht mehr auffällig geworden. Eine Drohserie und ein weiterer Brandanschlag unter gleichem Namen hatte ein Paar aus der linksextremen Szene in Baden-Württemberg verantwortet. Bekennerschreiben nahmen immer wieder Bezug auf die RAF. Es folgten Haftstrafen. Konkrete Verbindungen zu den alten Strukturen der Revolutionären Aktionszellen wiesen Ermittler nicht nach. Menschen wurden nicht verletzt.

Damit hat der klandestine Kampf der Autonomen um Lina E. und Johann G. gegen organisierte Neonazis eine neue Dimension, die den Behörden nicht verborgen blieb. Besonders beschäftigt er Ermittler in Sachsen, da sich die Gruppe dort auf ein besonderes Unterstützerfeld im Stadtteil Leipzig-Connewitz verlassen kann. Das Landesamt für Verfassungsschutz spricht dort von einem "abgeschotteten und kampfsporterprobten Milieu der Kleingruppen".

Die Nachwuchs-Autonomen

In diesem Milieu war Gewalt auch immer wieder Streitpunkt: Schon immer bekämpften die Anarchisten zwar das Gewaltmonopol des Staats – ob die eigene Gewalt aber auch Menschen treffen solle, ist nicht unumstritten. So hieß es beispielsweise in Pamphleten der "RAZ", aus taktischen Gründen wolle man keine Gewalt gegen Personen anwenden. In Leipzig änderte sich das in den vergangenen Jahren zunehmend.

Einzelne der Kleingruppen radikalisierten sich – auch einhergehend mit dem Anstieg der rechten Gewalt gegen Geflüchtete, Juden, Linke und andere, die Rechte als Feindbilder ausmachten. 2016 griffen rund 250 Neonazis den Stadtteil an. Nicht zufällig trafen Angriffe der Autonomen wiederum Neonazis, denen vom Generalbundesanwalt die Bildung einer kriminellen Vereinigung und sogar Terrorismus vorgeworfen wird. Die Militanz der Rechten befeuerte auch die Militanz der autonomen Kleingruppen.

Protest gegen den Prozess

Das hatte Folgen für die Szene. "Ehemals akzeptierte Führungspersonen verlieren Einfluss auf diese Gruppen, die sich kaum noch politisch einbinden lassen und taktische Erwägungen in der Militanzfrage ablehnen", hält das Landesamt im Bericht für 2021 zur Situation in Connewitz fest. "Personalisierte Gewalt bzw. Gewaltdrohungen verschärfen die bestehenden Konflikte innerhalb der Autonomen Szene und damit ihre Spaltung."

Video | Videos zeigen Ausschreitungen vor "Tag X"
Quelle: Glomex

Ist man sich vielleicht nicht einig in der Frage der militanten Aktionsformen, herrscht gegenüber den strafrechtlichen Bemühungen des Staates, ihnen Herr zu werden, weitgehender Konsens. Der Prozess gilt Linken seit Jahren weit über das autonome Milieu hinaus als Symbol sich verschärfender Repression des Staates. Bei Solidaritätskundgebungen in Leipzig kam es zu Ausschreitungen. Der Leiter des Landeskriminalamts wurde mit Mord bedroht.

Morddrohungen gegen die Polizei

"Dirk Münster. Bald ist er aus Dein Traum, bald liegst Du im Kofferraum" war auf einem Transparent des Schwarzen Blocks im September 2021 zu lesen. Eine kaum verhohlene Anspielung auf das tödliche RAF-Attentat auf den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977. Ein weiteres Transparent, präsentiert bei einer Kundgebung im März dieses Jahres, versuchte sich in ähnlich martialischer Lyrik: "Gib dem Bullen, was er braucht, Hammer auf den Kopf, Stiche in den Bauch."

Für die seit Langem geplante Demo anlässlich des Urteils ("Tag X") in Leipzig sind am heutigen Samstag nicht nur ähnliche Töne, sondern vor allem auch Ausschreitungen zu erwarten. Daraus haben die Demo-Aufrufe, die sich seit Monaten im Umlauf befinden, kein Geheimnis gemacht. Angekündigt ist "1 Million Euro Sachschaden bundesweit" für jedes Jahr Haft der Angeklagten im Prozess. Ziele seien unter anderem "Neonazis und Rechte", "Repressionsbehörden" und "Parteien". Es solle ein Drohszenario für weitere Prozesse aufgebaut werden.

Erste Ausschreitungen am Abend

Und die Drohkulisse zeigte Effekte, wenn auch nicht die wahrscheinlich gewünschten: Nachdem die Polizei bereits vor der Demo die gesamte Stadt zur Gefahrenzone erklärte, in der am Wochenende anlasslose Personenkontrollen möglich sind, hat die Stadt Leipzig die Demo auch kurzfristig verboten. Trotzdem wird mit Krawall gerechnet. Wohl nicht ganz zu Unrecht.

Bereits am Abend versammelten sich mehrere Hundert Menschen in Connewitz, wie t-online-Reporter berichteten und die Polizei bestätigte. Mülltonnen wurden angezündet und zu kleineren Barrikaden aufgetürmt. Es kam zu Angriffen auf die Polizei, die Räumpanzer und Wasserwerfer in Stellung brachte. Insgesamt blieb es verhältnismäßig ruhig, es könnte allerdings nur der Auftakt eines Wochenendes der Gewalt gewesen sein.

In einem kürzlich veröffentlichten Aufruf heißt es zu Samstag: "Sollten wir es nicht schaffen, die Demo in Connewitz trotz eines Verbots durchzusetzen, werden wir dezentral im Stadtgebiet aktiv werden." Das Stadtfest und das Konzert von Herbert Grönemeyer mit 40.000 Besuchern in der "Red Bull Arena" böten Gelegenheit, sich unter die Menschenmassen zu mischen. "Wir rufen dazu auf, diese Events als Ausgangspunkt für Aktionen zu nutzen. (...) Wenn die Stadt unseren Protest verunmöglicht, wird das Konsequenzen haben, die dort treffen, wo es der Stadt weh tut!"

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Welt.de: "Generalbundesanwalt weitet Verfahren gegen Linksextremisten aus – Spur nach Syrien"
  • Spiegel.de: "Hammer auf den Kopf, Stiche in den Bauch""
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