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Vision für 2036: Interview mit Katja Kipping


Katja Kipping
Vision für 2036: "Mein Ziel ist die 20-Stunden-Woche"

InterviewVon Jonas Schaible

27.08.2018Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping: "Zeit ist die kostbarste Ressource, weil sie endlich ist."Vergrößern des Bildes
Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping: "Zeit ist die kostbarste Ressource, weil sie endlich ist." (Quelle: Axel Schmidt/reuters)

Wohlstand, internationale Solidarität, Kampf gegen Steuerflucht: Wie wird Deutschland 2036 aussehen? Katja Kipping spricht über die 20-Stunden-Woche und wie sie Steuerflüchtlinge in Monaco ärgern möchte.

Am 31.12.1999 rechneten viele Menschen mit dem Weltuntergang. Er blieb aus. Das neue Jahrtausend brach an, die Dotcom-Blase war noch nicht geplatzt, die Internetgiganten hießen Yahoo oder AOL. Das iPhone war noch lange nicht erfunden. Deutscher war man von Bluts wegen, weder Union noch SPD hatten je eine Parteichefin. Das World Trade Center stand noch. Ehemalige US-Präsidenten waren alle weiß.

Es hat sich viel verändert seitdem. Es wird sich viel verändern in den kommenden 18 Jahren. Nur: was? Wie sieht Deutschland im Jahr 2036 aus? Wie die Welt?

In den kommenden Wochen fragt t-online.de Spitzenpolitiker nach ihren Visionen. Möglichst radikal, möglichst mutig. Den Herausforderungen angemessen. Immer wird es um drei Themen gehen, und um die Frage: Wie wollen wir leben im Jahr 2036?

Den Anfang machte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, nun folgt Katja Kipping. Die Chefin der Linken wäre dann 58 Jahre alt, ihre Partei gerade einmal 29. Mit t-online.de hat Kipping über Wohlstand, internationale Sicherheit und den Kampf gegen Steuerflucht gesprochen.

t-online.de: Frau Kipping, wir wollen über die Zukunft reden. Die Linke steht im Verdacht, wenig Wirtschaftskompetenz zu haben. Sie wolle den Kuchen verteilen, nicht backen. Wenn wir ins Jahr 2036 schauen: Wie erwirtschaftet Deutschland seinen Wohlstand?

Katja Kipping: Wir setzen auf eine andere Wirtschaftspolitik, die mit der Logik bricht, dass die Politik nur dem Markt dient. Zudem geht es uns um zukunftsfähige Produkte. Der Autoindustrie wurde lange die Illusion verkauft, nichts müsse sich ändern. Doch der Markt ist längst im Umbruch. Die Mobilität der Zukunft ist nicht das Statussymbol Auto für jeden Einzelnen, sondern ein Mix aus öffentlichem Verkehr und kleinteiligen Mobilitätsangeboten wie CarSharing – mal als Lieferwagen, mal als Minimobil. Irgendwann auch als selbstfahrendes Taxi.

Das hilft im besten Fall gegen Stau und Luftverschmutzung und erhält Mobilität auf dem Land – aber es ist keine Antwort auf den Wandel der Wirtschaft, die zu mehr als sieben Prozent am Auto hängt. Vor allem viele Zulieferer würden künftig überflüssig.

Der technologische Wandel kommt, das stimmt. Die Robotisierung ist im vollen Gang. Ob wir wollen oder nicht. Maschinenstürmerei war noch nie erfolgreich. Viel manuelle Arbeit wird überflüssig.

Das heißt?

Wir müssen die Erwerbsarbeit gerecht umverteilen, damit dieser Fortschritt nicht als Bedrohung erlebt wird. Dafür brauchen wir neue Arbeitszeitmodelle und soziale Garantien.

Ich ahne, an welche sozialen Garantien Sie denken.

Ja, ich werbe seit 15 Jahren für das bedingungslose Grundeinkommen, damit jeder garantiert vor Armut geschützt ist. Übergangsweise kann ich auch mit einer sanktionsfreien Mindestsicherung mit Bedarfsprüfung leben. Das alles soll übrigens nicht damit enden, dass die einen sich langweilen, und die anderen weiter 50 Stunden schuften und gestresst sind. Alle sollen erwerbsarbeiten können, aber alle weniger.

Wie viel sollten alle 2036 arbeiten?

Umfragen zeigen, dass die Menschen sich jetzt schon eine 30-Stunde-Woche wünschen. Mein Ziel ist die 20-Stunden-Woche. Mir geht es um Zeitwohlstand für alle. Zeit ist die kostbarste Ressource, weil sie endlich ist.

Das beantwortet nicht die Ausgangsfrage, woher der Wohlstand kommt und in welchen Branchen die Menschen 2036 Arbeit finden. Wenn die Autobranche sich anpasst, wie Sie hoffen, wird sie nicht mehr 800.000 Menschen beschäftigen, sondern vielleicht die Hälfte.

Wenn alle dann nur halb so lang arbeiten, fällt keiner ins Bodenlose und alle haben Zeit für die anderen wichtigen Dinge im Leben. Und wir brauchen viel mehr für die Arbeit mit Menschen, in Bildung und Pflege.

Arbeit am Menschen ist allerdings nicht sehr profitträchtig.

Ja und? Ist sie deshalb weniger wert?

Nein, aber die Ausgangsfrage war ja, wie Sie materiellen Wohlstand schaffen wollen.

Natürlich werden weiterhin Güter produziert – nur mit weniger Personaleinsatz.

Ist das zwingend so? In Großbritannien wird nicht mehr viel produziert.

Das beste Mittel, um mittelständische Unternehmen zu unterstützen lautet, die Kaufkraft zu stärken. Es ist bekannt, dass Menschen mit kleineren Einkommen zusätzliches Geld stärker vor Ort ausgeben. Das kurbelt den Umsatz an. Dazu kommt: Volkswirtschaften hängen zusammen. Wenn die einen mehr exportieren als importieren, entstehen Handelsüberschüsse und das befeuert Krisen anderswo. Die schlagen dann auch zurück. Deshalb geht der Leitsatz von der nationalen Wettbewerbsfähigkeit fehl. Es wäre besser, es würde möglichst viel vor Ort gefertigt.

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Im Wahlprogramm war eine Vermögensteuer enthalten. Betriebseinkommen sollen nur bis fünf Millionen Euro freigestellt sein. Das dürfte viele Unternehmen in große Probleme bringen.

Wir wollen Millionenvermögen besteuern, weil wir das Geld brauchen für Bildung und im Kampf gegen Armut. Als Sozialistinnen wollen wir zudem andere Formen von Eigentum stärken, zum Beispiel Genossenschaften. In einer Genossenschaft hätte jeder Eigentümer einen Freibetrag. Wer solidarisch wirtschaftet, wird belohnt.

Eine Wohnungsbaugenossenschaft mit 5.000 Mitgliedern hätte dann 5.000-mal 5 Millionen frei?

Das ist die Grundidee für Produktionsgenossenschaften. Ob das eins zu eins auf Wohnungsgenossenschaften zu übertragen wäre, müssten wir beraten.

Dann von der solidarischen Wirtschaft zur internationalen Solidarität. In welchen Bündnissen und Organisationen sollte Deutschland 2036 nicht mehr Mitglied sein?

Deutschland sollte in allen Bündnissen bleiben – nur über den Spezialfall Nato, die wir auflösen wollen, müssen wir gleich noch reden. Multilateralismus ist ohne Alternative. Organisationen wie die Unesco, UNHCR, die UN, die Klimaforen müssen wir stärken. Andere wie die EU müssen wir demokratisieren. Die Nato wollen wir überflüssig machen.

Wie sollte die EU 2036 im besten Fall aussehen?

Das EU-Parlament muss ein Gesetzesinitiativrecht bekommen und gestärkt werden. Der EU-Rat wäre aber weiter Teil des Gesetzgebungsprozesses.

Müsste man das Parlament anders wählen?

Ich finde, wenn man eine stärkere Europäisierung will, sind europäische Wahllisten hilfreich. Ich finde außerdem EU-weite Volksabstimmungen gut.

Bräuchte man europäische Medien?

Es braucht auf jeden Fall eine Europäisierung der Debatte, dazu gehören auch europaweite Medien. Ich würde gerne mal mit Medienfachleuten diskutieren, inwieweit öffentlich-rechtliche europäische Medien in mehreren Sprachen vorstellbar sind.

Wünschen Sie sich für die EU inhaltlich mehr oder weniger Kompetenzen?

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Ich bin gegen Renationalisierung. Man muss die soziale Dimension der EU stärken. Die EU sollte alle Mitgliedstaaten verpflichten, eine sanktionsfreie Mindestsicherung einzuführen. Die Höhe kann sich unterscheiden, je nachdem ab wann in einem Land das Armutsrisiko beginnt. Eine solche Mindestsicherung wäre der materielle Ausdruck einer sozialen Unionsbürgerschaft. Sie müsste wie jede Mindestsicherung über Steuern finanziert werden. Die Sozialversicherungssysteme mit ihren Anwartschaften sollten dagegen weiter national geregelt werden. Sie kämen dann genauso wie Arbeitslohn obendrauf.

Anders als die EU wollen Sie die Nato auflösen. Was soll an ihre Stelle treten?

Sollten wir in die Regierung kommen, sollte Deutschland das Einstimmigkeitsprinzip der Nato nutzen und innerhalb der Nato per Veto Kriegseinsätze und Aufrüstung blockieren. Perspektivisch wollen wir die Nato überflüssig machen, stattdessen die UN stärken und sie zu einem System kollektiver Sicherheit machen. Spätestens seit Trump und Erdogan kann niemand mehr die Augen davor verschließen, dass die Nato kein Wertebündnis ist. Als Bollwerk des Westens gegen Russland hat es sich sowieso historisch erledigt.

Da würden viele im Baltikum, Polen und der Ukraine widersprechen.

Der Konflikt in der Ukraine zeigt doch, dass die alte Politik Konflikte eher angeheizt hat, statt sie zu verhindern. In der Ukraine gab es immer schon das Potenzial von internen Fliehkräften. Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine hat diese Fliehkräfte gestärkt. Und dann kamen noch korrupte Oligarchen und eine aggressive Außenpolitik Russlands dazu.

Die kam nicht dazu, sondern der Krieg begann damit, dass Russland auf der Krim und im Donbass einmarschiert ist. Die Frage ist, wie man solche Aggressionen verhindert. Sie sagen, Beistandsversprechen helfen gar nicht?

Ich sehe jedenfalls, dass die Politik, die jahrzehntelang von der Nato geprägt wurde, keinen Frieden gebracht hat. Abschreckung hat keinen Frieden gebracht. Also warum nicht auf ein System der kollektiven Sicherheit setzen?

Ich habe immer noch nicht verstanden, wie ein solches System aussehen soll. Gäbe es eine Bündnisverpflichtung wie in der Nato? Gemeinsame Militärübungen?

Nein, wir wollen die UN stärken und ansonsten eine andere Herangehensweise: Wir wollen kein Verteidigungsbündnis und keine Beistandsverpflichtungen. Die Welt braucht vielmehr zivile Konfliktprävention. Wir müssen raus aus der Logik der Aufrüstung und Militarisierung.

Man kann die russischen Kriegseinsätze in Georgien und der Ukraine auch so erklären: Eine korrupte autoritäre Herrscherklasse, die im Falle ihres Sturzes um ihre Sicherheit fürchten muss, versucht seit den Farbrevolutionen alles, um demokratische Aufstände zu unterdrücken. Auch im Ausland. So gesehen hätte Russlands Einmischung nichts mit der Logik der Aufrüstung zu tun, nichts mit Angst vor Panzern, sondern vor demokratischen Protesten.

Autoritäre Herrscher sind ein Problem.

Und sie existieren.

Ja, aber nicht nur in Russland. Die Türkei hat in Syrien die demokratische Enklave Afrin zerstört, die Kurden vertrieben und islamistische Milizen unterstützt. Auch gegen den Islamismus hat die Nato nicht geholfen. Der Krieg gegen den Terror ist gescheitert: Es gibt heute leider nicht weniger Islamisten, sondern mehr.

Und einige davon haben als IS weite Teile des Iraks übernommen, haben Zivilisten, Journalisten und internationale Helfer hingerichtet und alle Verhandlungen verweigert. Die Frage ist doch: Wenn autoritäre Regierungen oder Extremisten Gewalt ausüben, wer greift dann ein?

Ich frage nicht, wer zur Waffe oder Bombe greift. Mich beschäftigt, wie man verhindert, dass sich die Frage stellt.

Aber es kann passieren, und dann muss man irgendwie damit umgehen. Selbst wenn man die Logik der Militarisierung durchbricht.

Wenn man dem Islamismus den Nährboden entziehen will, braucht man keine Bomben, sondern vor allem sehr viel Geld und einen Marshallplan für den Nahen Osten. Die Logik der Eskalation spielt der Rekrutierung der Islamisten vielmehr in die Hände.

Ein Problem für Die Linke: Wenn Sie sich außenpolitisch nicht bewegen, haben Sie keine Regierungsoption. Die SPD war zu Koalitionen im Bund nicht bereit – wegen der Außenpolitik.

Ach, das Argument halte ich für vorgeschoben. Im Fall der Fälle muss man mit SPD und Grünen verhandeln. Die Entwicklungen spielen uns außerdem in die Hände. Angesichts von Trump und Erdogan hat die Begeisterung für die Nato doch sowieso abgenommen und andererseits verstehen viele Linke, wie wichtig internationale Zusammenarbeit ist.

Kooperation wäre auch nötig, um Steuerflucht zu bekämpfen. Schätzungen zufolge verliert allein Deutschland dadurch jedes Jahr zwischen 19 und 160 Milliarden Euro. Damit wären schnell alle Schulen saniert. Wie viel davon kann man 2036 einsammeln?

Einen großen Teil. Zuerst brauchen wir viel mehr Steuerprüfer. An manchen Tagen winken die Finanzbehörden alles durch, weil zu wenig Personal da ist, das darf nicht sein.


Wie viele wären sinnvoll?

Wir gehen davon aus, dass mindestens 11.000 Steuerprüfer fehlen. Die müssten wir schaffen. Das sind Arbeitsplätze, die direkt Geld einbringen. Bis zu 1,5 Millionen Euro im Jahr pro Betriebsprüfer. Außerdem wollen wir jeden Euro, der in Steueroasen fließt, direkt mit 50 Prozent besteuern. Der Betreffende muss dann nachweisen, dass es sich nicht um Steuerhinterziehung handelt.

Welche Staaten würden denn als Steueroasen gelten?

Die EU sollte strenge Standards dafür festlegen.

Der größte Teil des versackenden Geldes lagert nicht in Panama, sondern in den USA, in Großbritannien, Luxemburg und Deutschland. Auf alle Geldflüsse in die USA 50 Prozent? Das wäre gewagt. Träfe die Strafsteuer etwa nur die kleinen, politisch schwachen Oasen?

Nein, sie müsste für alle Steueroasen gelten, auch für die mächtigen. Zusätzlich müssen wir in Europa verhindern, dass sich Unternehmen wie Google und Amazon über fiktive Lizenzgebühren arm rechnen – es wäre viel erreicht, wenn Lizenzgebühren nur noch bis zu einer Grenze geltend gemacht werden könnten.

Was müsste noch passieren?

Momentan kann man seine Einkommensteuer drücken, wenn man den Wohnort in ein anderes Land verlagert. Wir fordern die Steuerstaatsbürgerschaft: Wer etwa in Monaco weniger Steuern zahlt, muss die Differenz hier nachzahlen.

Man zahlt also immer den deutschen Steuersatz, egal wo man lebt?

Ja. Das ist übrigens gar nicht besonders sozialistisch – in den USA gilt das längst.

Und wenn jemand anderswo mehr zahlt? Bekommt er dann Steuern erstattet?

Nein, dann hat er Pech gehabt.

Frau Kipping, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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