Christian Lindner Vision für 2036: "Deutschland kauft Regenwald, jedes Jahr"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Männlichkeit, Klimaschutz, Leben im Alter: Wie wird Deutschland 2036 aussehen? Christian Lindner spricht über Drohnen, Regenwald und Wachstumskritik, die er für antihumanistisch hält.
Am 31.12.1999 rechneten viele Menschen mit dem Weltuntergang. Er blieb aus. Das neue Jahrtausend brach an, die Dotcom-Blase war noch nicht geplatzt, die Internetgiganten hießen Yahoo oder AOL. Das iPhone war noch lange nicht erfunden. Deutscher war man von Bluts wegen, weder Union noch SPD hatten je eine Parteichefin. Das World Trade Center stand noch. Ehemalige US-Präsidenten waren alle weiß.
Es hat sich viel verändert seitdem. Es wird sich viel verändern in den kommenden 18 Jahren. Nur: was? Wie sieht Deutschland im Jahr 2036 aus? Wie die Welt?
In den kommenden Wochen fragt t-online.de Spitzenpolitiker nach ihren Visionen. Möglichst radikal, möglichst mutig. Den Herausforderungen angemessen. Immer wird es um drei Themen gehen, und um die Frage: Wie wollen wir leben im Jahr 2036?
Den Anfang macht FDP-Chef Christian Lindner, der dann 57 sein wird, im besten Kanzleralter also. Mit ihm hat t-online.de über den Klimawandel gesprochen, über Männlichkeit und würdiges Leben im Alter.
t-online.de: Herr Lindner, wir wollen über die Zukunft sprechen. Selbst wenn die Welt das Klimaabkommen umsetzt, wird die Temperatur Prognosen zufolge deutlich steigen. Dürren drohen, Stürme, Verwüstung. Was muss bis 2036 passieren?
Christian Lindner: Der Klimawandel ist eine Menschheitsaufgabe. Fahrverbote, E-Auto-Quote und neun Gigawatt weniger Braunkohle: Der deutsche Klimanationalismus bremst nicht die Erderwärmung, sondern nur das wirtschaftliche Vorankommen der Menschen. Wir können viel mehr sparen, wenn wir global handeln.
Wie sieht dieses globale Handeln aus?
Wir müssen erstens den CO2-Zertifikatehandel in Europa in Gang bringen. Dazu weiten wir ihn auf alle Sektoren aus, auch den Verkehr. Und wir beschleunigen den Verfall der Zertifikate, damit der Innovationsdruck steigt. Dann entscheiden nicht Politiker, welche Technologien zum Einsatz kommen, sondern Fachleute. Das macht alles effizienter und günstiger. Nur so werden wir Technologieführer in der Welt.
Was muss noch passieren?
Zweitens setzen wir unsere Technologie in Afrika oder Asien ein, damit dort nicht neue Kohlekraftwerke entstehen, sondern erneuerbare Quellen geschöpft werden.
Wo genau? Wenn Sie dort ansetzen, wo die meisten Emissionen entstehen, wäre das: China. Dort fürchten Firmen Technologiediebstahl. Wie wollen Sie Unternehmen bewegen, dort das Klima zu schützen?
China ist uns technologisch so auf den Fersen, dass die uns gar nicht brauchen. Ich schaue nach Afrika.
Afrika stößt nur einen kleinen Teil der weltweiten Treibhausgase aus.
Aber dort wachsen Städte, Bevölkerungen, Wirtschaften. Vor allem könnte Afrika mit unserer Hilfe zum Kontinent des blauen Wachstums ohne Ressourcenverbrauch werden. Wenn wir Askese und Verzicht predigen, wie es manche Wachstumsskeptiker tun, hält man Menschen in ihren unbefriedigenden Lebenssituationen gefangen. So lösen wir die Migrationsströme der Zukunft aus.
Sie halten Überlegungen, eine Wirtschaft ohne Wachstum zu schaffen, nicht für interessant?
Nein. Das gab es im Mittelalter. Wir haben Milliarden Menschen, die mit ihrer Lebenssituation unzufrieden sind. Sollen die ihr Leben durch einen brutalen Verteilungskampf verbessern? Stagnation widerspricht der Natur des Menschen. Der Mensch ist schöpferisch. Er will über sich hinauswachsen. Wachstum und damit den Gestaltungswillen zu strangulieren, wäre antihumanistisch.
Also weiter Wachstum. Aber ressourcenschonend. Wie soll das gehen?
Wir müssen unsere Entwicklungshilfe darauf konzentrieren, in Afrika erneuerbare Energien auszubauen und die Entwicklungsstufe schmutziger Produktion zu überspringen. Außerdem sollten wir demokratische Strukturen unterstützen. Korruption ist Gift für private Investitionen. Und meine dritte Idee: Deutschland kauft Regenwald, jedes Jahr.
Wo?
In Lateinamerika, Afrika oder Asien.
So etwas gab es mal mit Günther Jauch. Das brachte nicht viel, außer PR für eine Brauerei. Wie viel Geld müsste fließen, damit die Folgen spürbar sind?
Wir geben rund 28 Milliarden für die Förderung der erneuerbaren Energien hierzulande aus, die dem Klima nichts bringen. Für einen Bruchteil kann man eine Menge Wald kaufen.
Das liefe darauf hinaus, dass ehemalige Kolonialherren in ehemaligen Kolonien im großen Stil Land übernehmen.
Es geht um Zusammenarbeit beim Schutz von Klima und Umwelt, nicht um Kolonialismus. Kolonialismus betreibt heute China in Afrika. Sollen wir da zuschauen?
Und wenn die anderen nicht mitziehen? Die USA haben sich aus dem Pariser Abkommen zurückgezogen. Braucht es dann nationale Alleingänge?
Nein, dann wird die Menschheit die Folgen eines drastischen Klimawandels spüren.
Um das zu verhindern: Braucht es institutionelle Änderungen? Neue Foren?
Nicht nur wegen der Klimapolitik muss die internationale Ordnung modernisiert werden. Die WTO könnte zum Beispiel einen Welthandelsgerichtshof bekommen. Und vielleicht braucht es eine stärkere informelle Zusammenarbeit der Gesellschaften, die sich westlichen Werten verschrieben haben: Europa, Südkorea, Japan, Neuseeland, Australien, Kanada.
Eine Art G8 oder G20 ohne China und Russland?
Beides wird es auch weiterhin geben – aber wir brauchen zusätzlich sozusagen die W20, die westlichen 20. Als Koalition, um gemeinsam die Regeln gegen autoritäre Staaten wie Russland und China zu schützen. Momentan leider auch gegen die unilateralistischen USA.
Autoritarismus pflegt ein Bild von aggressiver Dominanz. Autoritäre Parteien werden maßgeblich von Männern gewählt. Kommen wir zum nächsten Zukunftsthema: Welches Bild von Männlichkeit wird 2036 in Deutschland vorherrschen?
Ich hoffe, dass dann die individuellen Wünsche ausschlaggebend sind, nicht das Geschlecht.
Sie nehmen aber wahr, dass das heute noch anders ist?
Rechtlich haben wir Gleichheit, aber eine familienbedingte Berufspause wird einem Mann hinter vorgehaltener Hand eher vorgeworfen. Da verfügen Frauen über mehr Freiheitschancen. Das würde ich als weiche Form der Freiheitseinschränkung bezeichnen, gegen die wir mentalitätspolitisch anarbeiten müssen.
Viele dieser Einschränkungen wirken unbewusst. Man erkennt sie vor allem daran, dass Männer seltener Elternzeit nehmen, Frauen weniger verdienen und seltener in Führungspositionen kommen. Wünschen Sie sich, dass sich das angleicht?
Absolute Gleichheit bei den Zahlen ist für mich keine Kategorie. Ich wende mich nur gegen vorgegebene Rollenmuster. Vielleicht ergibt sich ganz natürlich ein stärkerer Wunsch bei Frauen, länger bei den Kindern zu bleiben? Es sollten individuelle Lebensentscheidungen zählen.
Um das zu bewerten, braucht man Kriterien. Viele Linke nehmen an: Wenn es keine Zwänge gibt, müssten Männer und Frauen gleich bezahlt, gleich oft Krankenschwester oder Pfleger werden. Welche sind Ihre Annahmen?
Ich gehe nicht davon aus, dass Geschlechter rein gesellschaftlich konstruiert sind. Kinder werden nicht als Neutrum geboren.
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In der Politik sind Frauen deutlich seltener in Parteien, gerade auch in der FDP. Nur 31 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Frauen. Halten Sie das für Ausdruck individueller Neigungen oder für veränderbar?
Für die FDP ist es eine riesige Wachstumschance. Wir sind inhaltlich schon extrem attraktiv für Frauen. Unsere Aufgabe ist es, Strukturen anzupassen: Wann trifft sich der Ortsverband? Geht das auch online? Worüber wird diskutiert? Wie ist das Gesprächsklima? Frauen haben mehr Interesse an sachbezogenen Antworten, und sie lehnen Polemik eher ab, im Gegensatz zu Männern, die unterhalten werden wollen. Daran arbeiten wir. Aber die Geschlechteridentität ganz überwinden zu wollen, das halte ich für übersteigerte Gender-Ideologie, um etwas Tabasco ins Gespräch zu bringen.
Wäre weniger Tabasco nicht eine Möglichkeit, Politik für Frauen attraktiver zu machen?
Ich denke darüber nach. Mein Ansatz ist aber, dass die Demokratie von der Kontroverse und der Klarheit lebt. Vielleicht braucht eine Partei einfach viele Sprecher, von denen einige vorsichtiger mit Tabasco umgehen als ich.
Männer verüben den Großteil der Gewalttaten, bauen viel häufiger tödliche Autounfälle, werden öfter alkoholabhängig und begehen häufiger Suizid. Wie treibt man Männern das Zerstören aus?
Wir müssen die Sensibilität für die Bedürfnisse von Männern stärken. Zum Beispiel mit Boys Days. Wir brauchen auch mehr geschlechtsspezifische Pädagogik. Oft ist es so, dass Kinder im Kindergarten und der Grundschule keine männliche Bezugsperson haben, kein männliches Vorbild.
Vielleicht gibt es nicht zu wenig Vorbilder, sondern die falschen? Irgendwas vermittelt Männern offenbar noch, dass schnelles Autofahren sie zu besseren Männern macht.
Bei so vielen Klischees bin ich raus. Sie sehen als Vertreter einer jüngeren Generation nicht so aus, als interessierten Sie sich sehr für Autos.
Wo wir bei Generationenfragen sind, gehen wir zum letzten Thema: Die Babyboomer kommen bald ins Rentenalter. Wie sichert Deutschland ein würdiges Leben im Alter?
Durch ein zeitgemäßes Sozialsystem. Das gesetzliche Rentenalter ist nicht das Ende von Aktivität. Wir brauchen die Erfahrung der Älteren. Für die Babyboomer brauchen wir also einen gleitenden Übergang in den Ruhestand. Wer länger arbeiten will, sollte dafür belohnt werden.
Prognosen zufolge wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2036 etwa um eine Million Menschen steigen. Schon jetzt fehlen Pfleger. Was tun?
Wir werden mehr Menschen im Pflegebereich beschäftigen müssen, auch mehr in Vollzeit bringen. Da entstehen neue Arbeitsplätze, das ist auch eine Chance.
Wer soll diese Stellen besetzen?
Pfleger sind oft überlastet. Bei schwerer körperlicher Arbeit können künftig Roboter assistieren. Durch Digitalisierung der Bürokratie können wir die Qualität steigern und den Zeitaufwand verringern. Das macht die Berufe attraktiver. Ich erwarte auch eine Teilakademisierung, weil etwa Gesprächstherapien für Demente wichtiger werden. Dann wird auch besser bezahlt.
Die Pflegeversicherung deckt allerdings schon jetzt einen Pflegeplatz nur teilweise ab. Im Schnitt bleiben da Hunderte Euro übrig. Wenn Pflegende besser bezahlt werden, wird es noch teurer. Wie ist das zu bezahlen?
Wir müssen künftig mehr privat vorsorgen. Schon heute lässt sich außerdem die Behandlung von Krankheit und von Altersgebrechen kaum unterscheiden. Krankenversicherung und die Pflegeversicherung sind nur schwer voneinander abzugrenzen. Wir müssen darüber nachdenken, ob diese Trennung sinnvoll ist.
Welche Vorteile hätte es, beides zu verzahnen?
Es wäre ein Beitrag dazu, unseren Sozialstaat treffsicherer zu machen und es würde Bürokratie reduzieren. Ob die Pflegeversicherung komplett in der Krankenversicherung aufgehen sollte, weiß ich noch nicht. Aber die Diskussion brauchen wir.
Prognosen zufolge wird von den Neurentnern im Jahr 2036 ein Fünftel arm sein. Die können nicht privat vorsorgen, und jetzt sowieso nicht mehr.
Es gibt ja eine Grundsicherung im Alter. Wichtig ist aber, dass es sich schon mit kleinem Einkommen lohnt, privat vorzusorgen – also sollte man das nicht auf die Grundsicherung anrechnen. Sonst wird bestraft, wer etwas beiseitegelegt hat. Schließlich sollte der als unwürdig empfundene Gang zum Amt entfallen, wenn jemand Grundsicherung braucht.
Wie?
Die Rentenversicherungsträger und Sozialverwaltung sollten beim Rentenbescheid automatisiert auf die Möglichkeit hinweisen – besser noch: direkt aufstocken, ohne Antrag.
Im FDP-Programm steht als zentrale Maßnahme gegen Altersarmut: Wohneigentum. Wie passt das zu Mobilität, Flexibilität, Jobwechseln?
Nichts bekämpft Altersarmut besser als das mietfreie Wohnen. Man darf nur nicht an das Haus für mehrere Generationen denken. Anderswo wechselt man auch von Eigentum zu Eigentum und profitiert so sogar von Wertsteigerungen. Die Voraussetzung ist, dass man den Jüngeren nicht durch Einkommensteuern, Abgaben und Grunderwerbsteuer die Möglichkeiten dazu nimmt.
Besonders hoch ist die Eigentumsquote auf dem Land. Dort fehlt dafür oft die Infrastruktur.
Der Staat muss sich um gute Straßen, Glasfasernetze, Polizei, Schulen und auch ärztliche Versorgung kümmern. An der Universität Bielefeld hat die FDP eine neue medizinische Fakultät durchgesetzt, weil wir uns Strahlwirkung in den westfälischen Raum erhoffen, wo Landarztmangel droht.
Ärzte werden auch anderswo ausgebildet und gehen dort auch nicht in den ländlichen Raum. Eine Fakultät wird kaum etwas ändern.
Ich bin überzeugt, dass das funktionieren kann. Darüber hinaus könnten wir bei der Medizinerausbildung einen Bonus bei Wartesemestern einführen, wenn sich jemand verpflichtet, als Landarzt zu arbeiten.
Dann noch Mobilität: Die beste Versorgung hilft nichts, wenn man nicht zum Arzt kommt. Wie löst man das?
Ich gehe davon aus, dass das autonome Fahren alles ändert. Während Busse auf dem Land mitunter unterausgelastet fahren, können automatisierte Taxis zielgerichtet fahren. Dazu werden Drohnen die Dinge des täglichen Bedarfs vor die Haustür bringen.
Wann könnte es so weit sein?
Na, 2036 schon. Darüber reden wir doch.
Vielen Dank für das Gespräch.