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Corona-Alltag in Sachsen-Anhalt: Das Land der Maskengegner


Reise durch Sachsen-Anhalt
Das Land der Maskengegner


Aktualisiert am 29.09.2020Lesedauer: 8 Min.
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Ein Mann mit einem Mundschutz am Arm (Symbolbild): In Sachsen-Anhalt ist die Skepsis gegenüber den Corona-Maßnahmen besonders ausgeprägt.Vergrößern des Bildes
Ein Mann mit einem Mundschutz am Arm (Symbolbild): In Sachsen-Anhalt ist die Skepsis gegenüber den Corona-Maßnahmen besonders ausgeprägt. (Quelle: imago-images-bilder)

Nirgendwo in Deutschland sind die Corona-Regeln so locker wie in Sachsen-Anhalt. Daran ändert auch das Treffen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten nichts. Trotzdem ist die Wut auf die Bundesregierung riesig. Eine Reise durch ein Land, das auf der Kippe steht.

Albrecht Lindemann lehnt sich gegen eine Steinsäule und sagt: "Jetzt wächst die Wut. Die Menschen hier haben einfach genug von den heftigen Einschränkungen." Lindemann ist evangelischer Pfarrer, er steht in seiner Kirche Sankt Bartholomäi in Zerbst, einer kleinen Stadt mitten in Sachsen-Anhalt. Der Hauptteil des Kirchenschiffs hat seit dem Zweiten Weltkrieg kein Dach mehr, bei gutem Wetter finden die Gottesdienste draußen statt. "Freiheit, wenigstens über dem Kopf", sagt Lindemann, deutet nach oben und lächelt.

Über 3.000 Gemeindemitglieder betreut Lindemann gemeinsam mit zwei anderen Pfarrern in der Kleinstadt. Es gibt wohl niemanden in der Gegend, der ein genaueres Bild von der Stimmung hat als der 45-Jährige. Jeden Tag um Viertel vor acht sitzt er in seinem Pfarrbüro, jeden Tag kommen die Menschen herein und erzählen ihm von ihren Sorgen in der Corona-Zeit – und von ihrer Wut auf die Bundesregierung.

Alleingang des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt

Die Leute, sagt Lindemann, fragten sich zunehmend, für wen da in Berlin eigentlich Politik gemacht werde. Vor Ort seien viele Maßnahmen zwar gelockert worden, "doch der Frust wird nicht so schnell verschwinden". Er schließt die Kirche ab und macht sich auf den Weg in sein Pfarrbüro.

Sachsen-Anhalt ist das einzige Bundesland in Deutschland, in dem kein Bußgeld für Maskenverweigerer verhängt wird. CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff setzte sich damit im Alleingang gegen die Kanzlerin Ende August durch. Und auch bei den Beratungen zwischen der Kanzlerin und den Regierungschefs der Länder am letzten Dienstag änderte sich daran nichts Grundlegendes.

Für die 2,2 Millionen Einwohner von Sachsen-Anhalt bleibt damit vieles möglich, was im Rest Deutschlands undenkbar ist: Fußballspiele mit bis zu 5.000 Zuschauern sind wieder erlaubt. Wenn Hochzeiten professionell organisiert werden, können bis zu 500 Menschen kommen. Und ab dem 1. November dürfen Clubs und Diskotheken wieder öffnen.

Parallelwelt in der Pandemie

Während andere Ministerpräsidenten die Anti-Corona-Maßnahmen verschärfen wollen, schließt Sachsen-Anhalt einen solchen Schritt aus. Auch mit Verweis auf die Stimmung im Land: Ein Drittel der Menschen findet, dass die Beschränkungen zu streng sind und 40 Prozent halten Reiner Haseloffs Kurs des Lockerns für richtig.

In Sachsen-Anhalt lässt sich beobachten, dass es eben nicht das eine Deutschland gibt. Die harschen staatlichen Maßnahmen, so sehen es die Leute in den eher dünn besiedelten Regionen, wurden unter dem Eindruck der höheren Infektionszahlen in großen Städten beschlossen. Das hat viele Menschen so verbittert, dass eine Art Parallelwelt in der Pandemie entstanden ist. Nun ringt die Politik vor Ort um Antworten, um dem wachsenden Unmut zu begegnen.

Eine Reise durch Sachsen-Anhalt in diesen Tagen ist die Reise durch ein Bundesland, das auf der Kippe steht. Und womöglich gleicht sie einem Besuch in der nicht allzu fernen Zukunft: Was derzeit in Sachsen-Anhalt passiert, könnte schon bald in ganz Deutschland der Fall sein.

"Tragen Sie eine Maske am Bahnhof" steht auf einer Anzeige am Bahnsteig in Zerbst. Doch niemand trägt eine Maske. Auch in den Zügen setzen viele die Maske nicht auf, Abstand hält fast niemand. Wer hier unterwegs ist, könnte glauben, im September 2019 unterwegs zu sein.

Albrecht Lindemann ist mittlerweile in seinem Pfarrbüro angekommen. Er will jetzt erklären, wie die Stimmung so ins Rutschen geraten konnte. Am Anfang der Pandemie sei niemand vor die Tür gegangen, zu groß war die Angst vor dem neuen Virus. Im März gab es dann die erste Meldung eines Corona-Falls. Doch in der gesamten Zeit waren sieben Fälle gleichzeitig die stärkste Häufung von Infektionen in der Kleinstadt. Das war der Gipfel der Krise, seither sinkt die Infektionsrate wieder.

Lindemann sagt: "Die Zahlen stiegen nicht an. In Düsseldorf, Berlin und Stuttgart gab es immer wieder lokale Ausbrüche. Dort war das der Beweis für die Dramatik der Lage. So bitter es klingen mag: Diese Beweise fehlten bei uns. Und deshalb nehmen viele die Bedrohung nicht ernst." Insgesamt haben sich bislang gut 2.300 Menschen in Sachsen-Anhalt offiziell mit dem Coronavirus angesteckt. In Bayern, das rund sechsmal so viele Einwohner wie Sachsen-Anhalt hat und wo der vermeintlich so erfolgreiche Krisenmanager Markus Söder (CSU) agiert, sind es allerdings fast 30 Mal so viele.

Ist doch alles halb so wild bei uns – diesen Eindruck teilen viele in Sachsen-Anhalt. Auch wenn die meisten sich nicht namentlich zitieren lassen wollen. "Das Virus scheint einfach irrsinnig weit weg hier", sagt eine junge Mutter.

"Ich glaube, dass Haseloff für die Akzeptanz der Demokratie kämpft"

Es etabliere sich eine neue Form des Widerstands, erzählt Pfarrer Lindemann: "Jetzt ist demonstratives Händeschütteln ein Akt des Protests gegen die Corona-Beschränkungen." Er schätzt, dass nur etwa zehn Prozent der Menschen in der Stadt eine Maske dort tragen, wo es eigentlich nötig sei.

Die Herbstsonne steht mittlerweile tief, Lindemanns Arbeitstag neigt sich dem Ende zu. Glaubt er, dass Ministerpräsident Haseloff und die Landesregierung den richtigen Kurs mit den vielen Lockerungen eingeschlagen haben? Lindemann schweigt eine Weile und sagt dann: "Ich glaube, dass Reiner Haseloff damit eigentlich für die Akzeptanz der Demokratie kämpft."

41 Kilometer entfernt von Zerbst, in der Magdeburger Staatskanzlei, sitzt eben dieser Reiner Haseloff und findet, dass der Pfarrer seine Politik ganz gut auf den Punkt bringt. Der Ministerpräsident lehnt sich entspannt zurück, bevor er sagt: "Mit Geldstrafen gewinnt man nicht Menschen für die Bekämpfung der Pandemie, sondern man verstärkt die Verbitterung."

Er gilt in der CDU als Querulant

Haseloff weiß um seine Rolle als Einzelgänger der Ministerpräsidenten, gelegentlich unterstützt ihn der sächsische Regierungschef Michael Kretschmer in seinem Kurs. Doch niemand pocht so rigoros auf Lockerungen wie Haseloff. Oft sitzt er bei den Runden der Länderchefs in seinem hohen Schreibtischstuhl und redet über sein iPad auf die Kanzlerin ein.

Er gilt in der CDU als Querulant, als jemand, der mit seiner Politik nächstes Jahr eben die anstehende Landtagswahl gewinnen will. Aber Reiner Haseloff ist auch seit neun Jahren Ministerpräsident und in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Er kennt die Stimmung im Bundesland. Und er sah sie bereits einmal kippen: "In der Flüchtlingskrise 2015 trat der Staat schon mal so auf, dass eine klare Meinung vorgegeben wurde. Die Folge davon war, dass die AfD nun in allen Landesparlamenten und im Bundestag sitzt. Das darf uns kein zweites Mal passieren."

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Im Jahr 2015 gingen im Osten Deutschlands die Pegida-Demonstranten zu Tausenden auf die Straße. Eine Wiederholung solcher Demos will Haseloff unbedingt vermeiden. Er glaubt, wenn man den Menschen jetzt nicht die maximal mögliche Freiheit einräumt, würden sie zum zweiten Mal vor den Kopf gestoßen: Ob man als Regierung grundsätzlich die Flüchtlinge sehr unterstütze oder scharfe Maßnahmen in der Corona-Pandemie – entscheidend sei der Eindruck des starken Staats, der hängen bliebe, glaubt Haseloff. Und das würde bei den Menschen in der ehemaligen DDR extremen Widerstand auslösen.

Haseloff blickte in der Krise entsetzt nach Düsseldorf und München, wo die jeweiligen Landesregierungschefs die Corona-Krise nutzten, um ihr politisches Profil zu schärfen: Der lockere Armin Laschet (CDU) und der steinharte Söder. Haseloff sagt: "Dass der eine Ministerpräsident in dieser Debatte auf Lockerungen und der andere besonders auf Vorsicht setzte, war sicher für die Menschen etwas verwirrend." Es ist die sanfte Umschreibung dafür, dass er die Taktik seiner Kollegen für brandgefährlich hält.

Haseloff trug den Kurs der Bundesregierung zunächst mit

Mit keinem der beiden Kurse hätte er bei sich zur Einigung beigetragen und nur die politischen Ränder gestärkt, sagt er. Er trug den Kurs der Bundesregierung – im Gegensatz zu Armin Laschet – mit. Als dann die Länder wieder mehr Verantwortung übernahmen, schaffte Haseloff die härtesten Maßnahmen ab.

Halberstadt in Sachsen-Anhalt ist eine Stadt, die bekannt ist für ihre Würstchen. Die Fahrt von Magdeburg dorthin geht vorbei an verfallenen Fabrikgebäuden, an Äckern und krummen Landstraßen. In einem großen Fabrikgebäude am Hauptbahnhof sitzt Silke Erdmann-Nitsch an einem wuchtigen Holztisch.

Sie ist die Geschäftsführerin der Halberstädter Konserven- und Würstchenfabrik, das Unternehmen ist einer der wichtigsten Mittelständler im Land. Die Jahresproduktion der Würstchen liegt bei 1.200 Tonnen, der Familienbetrieb wirbt mit dem Slogan: "Alles was Mann gern ist".

Draußen sitzen die Mitarbeiter, eng aneinander gedrückt

Wer mit Frau Erdmann-Nitsch spricht, erfährt viel über die wirtschaftliche Situation in Sachsen-Anhalt. Und über den Zusammenhang zwischen ökonomischer Unsicherheit und Frust. Erdmann-Nitsch erzählt, wie sie die meisten Maßnahmen bei ihren über 200 Mitarbeitern selbst anregen musste: "Wir haben sehr früh damit angefangen, die Temperatur bei unseren Mitarbeitern zu messen, weit, bevor das offiziell empfohlen wurde."

In Halberstadt ist die Infektionszahl von Corona kaum bezifferbar, fast jeder Test in der Stadt fällt negativ aus. Erdmann-Nitsch erzählt, wie sie in der Krise ihre Mitarbeiter immer wieder zum Abstand ermahnen musste.

Sie sagt: "Natürlich haben auch bei uns viele Angestellte erstmal nicht wirklich verstanden, warum plötzlich so restriktive Maßnahmen eingeführt werden." Während die Geschäftsführerin spricht, sitzen die Mitarbeiter draußen, eng aneinander gedrückt vor dem Fenster auf einer Bank und machen Mittagspause.

Bis 2021 komme das Kurzarbeitergeld ja sicher

Im Osten Deutschlands, wo die Wirtschaft ohnehin nicht flächendeckend stark ist, wirkte der Corona-Lockdown wie ein Katalysator. Zum Unternehmen von Erdmann-Nitsch gehören auch Hotels, sie hat inzwischen wieder neue Stellen ausgeschrieben.

Doch die Mitarbeiter dafür zu finden, sei gar nicht so leicht, erzählt sie. Viele potenzielle Bewerber seien froh, in der Kurzarbeit gelandet zu sein, die von der Bundesregierung bis Ende nächsten Jahres verlängert wurde.

Diese Menschen seien zwar wütend über ihren möglichen Jobverlust. Doch angesichts der Ungewissheit der Lage sei vielen das immer noch lieber als jetzt einen neuen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Bis 2021 komme zumindest das Kurzarbeitergeld ja sicher.

"Das ist schon eine Diskrepanz, die sich da auftut"

So sehr die Maßnahmen gelockert wurden, den wirtschaftlichen Schaden können sie kaum einfangen. Zu dramatisch sind die Rückgänge in der Corona-Krise: In Sachsen-Anhalt brach die Wirtschaft im ersten Halbjahr um acht Prozent ein, der Export ging sogar um über zwölf Prozent zurück. Zur Bewältigung der Corona-Pandemie hatte der Landtag im Frühjahr 500 Millionen Euro bewilligt, um Unternehmen und Kommunen zu helfen.

Besonders hart traf es die Kranken- und Pflegeheime in der Pandemie. Die "Elbinsel" in Magdeburg ist eine Einrichtung mit 91 Betten, die in Einzelzimmern stehen. Dort zeigen sich wie unter einer Lupe die enormen Auswirkungen der Einschränkungen. Die Leiterin der Einrichtung, Anja Riedel, kommentiert die Lage im Land diplomatisch: "Besonders bei uns im Bundesland, wo die Fallzahlen ja so gering sind, und trotzdem die Maßnahmen so drastisch, das ist schon eine Diskrepanz, die sich da auftut.“

In ihrem Haus müssen die Bewohner keine Maske tragen, lediglich die Betreuer und das Pflegepersonal. "Manche Bewohner haben uns schon gesagt: Wir haben schon alles überstanden – was soll uns das Virus anhaben?"

Das eigentliche Problem seien jedoch die Angehörigen gewesen, sagt Riedel. Bei denen habe es oft gar keine Einsicht gegeben, genauer will sie das aber nicht erzählen. In einem Pflegeheim wie der "Elbinsel" spitzte sich die Lage offenbar oft zu. Man bekommt nur eine grobe Vorstellung, welche Szenen sich hier abgespielt haben müssen.

Aber einmal, erzählt Riedel, sei ein Schlagersänger vorbeigekommen. Es gab Bowle für die Bewohner, alle setzten sich nach draußen, der Musiker spielte auf dem Parkplatz: "Für einen kurzen Moment war der ganze Wahnsinn sehr weit weg."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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