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Tagesanbruch – Steuerreform in Deutschland: Die Mitte macht‘s


Was heute wichtig ist
Es braucht nicht mehr Geld, sondern mehr Mut

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.08.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Finanzminister Olaf Scholz und Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Kabinettsitzung im KanzleramtVergrößern des Bildes
Finanzminister Olaf Scholz und Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Kabinettsitzung im Kanzleramt (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wer hat, der hat. Und Deutschland hat ganz schön viel. Die Arbeitslosigkeit ist historisch niedrig, die Steuermilliarden klingeln im Staatssäckel. Das weckt Begehrlichkeiten – und es macht bequem. Wer schon viele Jahre lang regiert, der neigt dazu, auf die Frage nach mehr Reformen vor allem eine Antwort zu geben: mehr ausgeben. Mehr Geld für Rentner, mehr Geld für Kitas und für Schulen, mehr Geld für die Pflege, mehr Geld für die Bundeswehr und für Entwicklungshilfe auch, mehr Geld für die Bahn, für Straßen und für Autobahnen, mehr Geld für die Gebäudedämmung und bald auch für den Klimaschutz. Habe ich etwas vergessen? Bestimmt. Seit Jahren wächst der Bundeshaushalt. Und wächst und wächst.

Nun kann man der großen Koalition schwerlich mangelnden Gestaltungswillen vorwerfen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat gerade gezeigt: Union und SPD haben in den ersten 15 Monaten dieser Legislaturperiode schon mehr als 60 Prozent ihrer Versprechen eingelöst oder immerhin angepackt. Das klingt gut und offenbart doch ein Problem – denn die Antwort auf "was anpacken?" lautet allzu oft: "mehr umpacken!" Die Groko ist eigentlich eine Grogeko: eine große Geldausgebekoalition. Was in die Kasse sprudelt, wird schnellstens umverteilt. Das kann man machen, wenn die Zeiten rosig sind, und bestimmt lässt sich für jeden Spiegelstrich auf der Ausgabenliste des Finanzministers eine gute Begründung finden. Wir wollen eine solidarische Gesellschaft sein, wir wollen gut leben, und international haben wir auch noch allerhand Verpflichtungen.

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Trotzdem herrscht Mangel. Nicht an Mammon, sondern an Mut. Dem Mut in der Regierung, umzudenken statt umzuverteilen und den Bürgern das Geld gar nicht erst abzuknöpfen, sondern es ihnen zu lassen. Allen Bürgern. Ringt man sich dazu durch, den Solidaritätszuschlag 30 Jahre nach dem Mauerfall endlich abzuschaffen, dann sollte man ihn wirklich abschaffen. Für alle. Beschwört man seit Jahr und Tag das Motto "mehr Netto vom Brutto", dann sollte man ernst damit machen. Für alle. Und besonders für jene, die das Rückgrat unserer Gesellschaft bilden: die Mittelschicht. Dazu gehören die Familienväter und -mütter, die jeden Tag zur Arbeit gehen, die sich reinhängen, beruflich vorankommen, Kinder aufziehen, sich nebenher vielleicht auch noch in einem Verein engagieren, aber den Spitzensteuersatz berappen müssen. Dazu gehören auch die mittelständischen Unternehmen, die zwar tolle Produkte herstellen und vielen Menschen Arbeit geben, aber unter hohen Abgaben ächzen – sei es der Soli oder die verwirrende Mehrwertsteuer oder der Strompreis. In der Union schmettern viele Stimmen seit Jahren das hohe Lied von der "Entlastung", doch aus der SPD schallt meist das "Umverteilungs"-Tremolo zurück. Im großen Grogeko-Chor wird daraus dann eine Irgendwie-nichts-Halbes-und-nichts-Ganzes-Dissonanz.

Umso bemerkenswerter ist ein Vorstoß, der nun, nein, nicht aus der CDU, sondern aus der SPD kommt: Eines der Kandidatenduos für den Parteivorsitz, Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius und die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping, fordern eine große Steuerreform. "Wir wollen den klassischen Mittelstand entlasten, Familien und Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen", erzählten die beiden den Kollegen von "Spiegel Online". "Wir wollen, dass mehr Netto vom Arbeitslohn bleibt, dafür müssen wir die Lohnnebenkosten senken. Der Spitzensteuersatz darf erst von einem deutlich höheren Einkommen an greifen. (…) Der beginnt viel zu früh!"

Das sind neue Töne bei den Genossen, und die Kandidaten wissen sie zu begründen: "40 Prozent der Haushalte haben keine finanzielle Luft, um Vermögen aufzubauen, seien es Kapitalerträge oder Immobilien. Sie haben auch nichts geerbt", sagt Pistorius. "Diese Haushalte haben keine Reserven und leben im permanenten Risiko. Sie können für die materielle Zukunft ihrer Familie kein Vermögen bilden und auch nicht viel für ihre Kinder zurücklegen. Diese Entwicklung ist ungesund für unsere Gesellschaft. Das Problem müssen wir anpacken."

Na, dann mal los! Wer hat, der hat. Und manchmal ist es am besten, wenn er (oder sie) es einfach behalten darf. Der Gesellschaft kommt das trotzdem zugute. Nur mit einer starken Mittelschicht bleibt auch unser Staat stark.


WAS STEHT AN?

Endspurt im Wahlkampf: Wer in den Parteien etwas auf sich hält, tritt heute in Sachsen oder Brandenburg auf. Oder am besten in Sachsen UND in Brandenburg. In vielen Städten gibt sich die Politprominenz das Mikrofon in die Hand – ob in Potsdam oder Oranienburg, in Dresden oder Leipzig. Unsere Reporter haben andere Ziele gewählt: Sie fuhren in die Dörfer im Spree-Neiße-Kreis, die mit dem Strukturwandel kämpfen, in denen Menschen seit Jahren keinen Politiker gesehen haben, aber großen Frust schieben. Woher rührt dieser Frust? Und warum bringt er so viele Leute dazu, die AfD zu unterstützen? Mein Kollege Martin Trotz, der selbst aus Ostdeutschland stammt, denkt seit Langem über diese Fragen nach. Also hat er sich gemeinsam mit Arno Wölk auf die Suche begeben: bei den Menschen vor Ort – und in sich selbst.


Es gibt Tage, ohne die die Welt nicht so aussähe, wie wir sie kennen. Einschnitte, die so tief sind, dass sie den Gang der Ereignisse für immer in andere Bahnen lenken. Am Sonntag jährt sich ein solcher Tag. Es wird Gedenkveranstaltungen geben, der Bundespräsident reist nach Polen, der US-Vizepräsident kommt auch, Reden werden gehalten, Kränze niedergelegt. Vertraute Bilder flimmern über den Fernsehbildschirm, wir sehen den Ritualen der Erinnerung zu, aber der Anlass mag manchem weit weg vorkommen. Ein angenehmer Puffer befindet sich zwischen uns und der Monstrosität der Geschichte. Er schützt uns vor ihrer Wucht. Denn dieser Tag vor 80 Jahren barg den Keim von Ereignissen, die in die Entstehung zweier deutscher Staaten mündeten, in das Ende der Kolonialreiche, in die Teilung der Welt, in das Verschwinden ganzer Staaten und in ihre Auferstehung. Vor allem aber war es der Auftakt zu einem Sterben, einem Metzeln und Morden ungeheuren Ausmaßes.

Als sich am 1. September 1939 die Nachricht vom Beginn des Krieges verbreitete, blieben die Jubelchöre aus. Der deutsche Aggressor, der seine Panzer über die polnische Grenze schickte, verzichtete auf Fähnchen schwenkende Paraden und stilisierte sich selbst zum Opfer. "Zurückgeschossen" werde nun, eine notwendige Maßnahme der Selbstverteidigung. Der hochgerüstete, durchmilitarisierte Goliath im Zentrum Europas wollte vom kleinen Nachbarn Polen zum Handeln gezwungen worden sein.

Natürlich war das eine Lüge. Erstaunlich daran ist vor allem, dass sie überhaupt jemand glaubte. Doch das Lügen gehörte zum Handwerk des Nazi-Regimes, und unter unseren Eltern, Großeltern, Urgroßeltern gab es viele, die sich gern belügen ließen. Ein verlorener Weltkrieg, Hunger, Inflation, Wirtschaftskrise – in einer Dimension, die nicht mit unseren überschaubaren Krisen von heute vergleichbar ist – hatten den Menschen die Hoffnung genommen, einem vermeintlichen Heilsbringer den Weg bereitet, auch die niederen Instinkte freigelegt. Als "Arier" konnte jeder etwas Besseres sein. Die Schlechteren musste es in dieser Logik natürlich auch geben, Juden, "Untermenschen", "Zigeuner", "Volksverräter". Sie waren die Opfer, als die geschundene deutsche Seele nun selber schinden wollte.

Als am Sonntag vor 80 Jahren der Startschuss abgefeuert wurde, um die Welt in Brand zu setzen und sie schließlich in Asche zu legen, ahnten wohl die meisten Menschen, dass Ungeheures bevorstand: Krieg. Viele konnten sich erinnern, was das bedeutete, hatten große Schlachten selbst miterlebt. Der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann, ist nun fast ein Lebensalter entfernt, und das Wissen um seinen Schrecken schwindet. Gemeinsam mit unseren Nachbarn haben wir uns ein Europa erbaut, das auf die Kenntnis des Horrors gegründet ist und uns die Sicherheit geben will, so etwas niemals selbst zu erleben.

Wir sehen die Redner an ihrem Pult und schauen den Kranzniederlegungen zu, aber der Anlass kommt manchem von uns weit weg vor. Ein angenehmer Puffer befindet sich zwischen uns und der Monstrosität der Geschichte. So soll es sein, es ist gut so. Nur einlullen darf es uns nicht. Niemals. Deshalb empfehle ich Ihnen heute einen Text unseres Zeitgeschichteredakteurs Marc von Lüpke. Sein Protokoll des 1. September 1939 zeigt: Der Krieg gegen Polen war vom ersten Augenblick an ein Verbrechen. Und alles, was folgte, war es auch. Vergessen wir das nie.


DIE GUTE NACHRICHT

U-Bahnen sind eine prima Sache, wenn man in verstopften Städten schnell von A nach B gondeln will. U-Bahnen können aber auch eine prima Sache sein, um das Klima zu schützen – sagen Schweizer Forscher: Sie haben untersucht, wie sich die Wärme aus den Tunneln zum Heizen und Kühlen Hunderttausender Wohnungen nutzen ließe.


WAS LESEN?

Wie fühlt sich das an, wenn man als SPD-Mitglied in einer Region Wahlkampf macht, in der die SPD gerade mal auf fünf Prozent Zustimmung kommt, die aber als Hochburg von AfD und NPD gilt? Peter Goebel kann ein Lied davon singen. Der Versicherungsvertreter zieht in der Sächsischen Schweiz von Haus zu Haus und lässt sich selbst von Schroffheit nicht entmutigen. Unsere Reporterin Madeleine Janssen war mit ihm unterwegs.


Unsere Kolumnistin Lamya Kaddor wiederum hat einen, wie ich finde, herausragenden Kommentar zur Stimmungslage in Ostdeutschland geschrieben: Wir überwinden das Ost-West-Denken nicht, indem wir diesen Teil des Landes auf Rassismus reduzieren.


Es begann mit einem Gespräch über eine große Erleichterung für viele Patienten: Eine Handvoll Tabletten soll eine dauerhafte Behandlung mit Spritzen ersetzen. Ist es dann angemessen, wenn eine einzige dieser Tabletten gegen Multiple Sklerose 5.000 Mal teurer ist als ein Stückchen Gold vom selben Gewicht? Aus dieser Frage ist eine aufwendige Recherche entstanden, zu der mein Kollege Boris Kartheuser Sie in die Welt der Zulassung von Medikamenten mitnimmt, in der es um Milliarden geht, um Risiken und deren unterschiedliche Beurteilungen, um Experten, deren Unabhängigkeit fraglich ist – und um Erkrankte, die auf Therapie hoffen, aber sich plötzlich als Versuchskaninchen wiederfinden.


Herr Salvini ist ja gern in Badehose unterwegs. Nun ist er allerdings auch politisch baden gegangen.




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