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Tagesanbruch: Die SPD – Drei Erkenntnisse und ein Drama


Was heute wichtig ist
Drei Erkenntnisse und ein Drama bei der SPD

MeinungVon Florian Wichert

Aktualisiert am 02.12.2019Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.Vergrößern des Bildes
Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. (Quelle: Jörg Carstensen/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Samstagabend um 18.07 Uhr endete die fünfmonatige Suche der SPD nach einer neuen Parteispitze – mit einem Knall. Der Sieg des Duos Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans mit 53 Prozent der Stimmen stürzte die Regierung auf einen Schlag in eine Krise. Das liegt nicht daran, dass beide auf bundespolitischer Ebene wenig bis gar nicht erfahren oder bekannt sind, sondern vielmehr an ihren Versprechen vor der Wahl: Teile des Koalitionsvertrages mit der Union neu zu verhandeln oder aus dem Bündnis auszutreten.

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Plötzlich ist alles möglich: ein schnelles Aus der großen Koalition, ein jähes Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel, eine Minderheitsregierung, Neuwahlen, eine Selbstzerstörung der SPD – oder doch eine Auferstehung?

Sicher sind erst mal nur drei Punkte – und die stehen hier.

1. Ruhe wird bei der SPD nicht einkehren.

Schon seit Samstag hagelt es noch mehr Kritik und auch Spott als zuvor für die SPD. Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans von der CDU urteilte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland über das überraschende Votum: "Es passt zum Selbstzerstörungsmodus der SPD". Selbst SPD-Altkanzler Gerhard Schröder, der bereits das Verfahren unglücklich fand, fühlte sich in "seiner Skepsis bestätigt." "Die Zeit" kommentierte in Anlehnung an den vor zwei Jahren gescheiterten Kanzlerkandidaten Martin Schulz: "Die Partei neigt dazu, ihre Hoffnung schnell auf Politiker zu projizieren, denen dann doch das nötige Charisma und die Visionen fehlen."

Der "Tagesspiegel" sah einen "Brexit-Moment. Die Mehrheit wollte einfach mal etwas anderes. Egal, was daraus folgt." Und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" formulierte gar: "Die SPD schafft sich ab". In der Minderheit: Kommentatoren wie mein Kollege Johannes Bebermeier, der den Politikwechsel in seinem Videokommentar als überfällig bezeichnete.

Doch die Partei ist nicht nur in Anhänger von Esken/Walter-Borjans oder Geywitz/Scholz geteilt, sondern genauso in Groko-Befürworter/-Gegner, in Jung/Alt oder in Bezug auf Inhalte. In dieser Gemengelage müssen Esken und Walter-Borjans ihren Ankündigungen nun Taten folgen lassen und mindestens den Koalitionsvertrag aufdröseln, was die Union wiederum verhindern möchte und auch kann. Alternative: der Austritt aus der großen Koalition. Der wiederum könnte zu Neuwahlen und dem nächsten Desaster führen. Nehmen die Wähler der SPD dann auch noch krumm, dass sie sich der Regierungsverantwortung entzieht, droht eine traurige Existenz als Oppositionspartei mit weniger als zehn Prozent, geführt von zwei wenig charismatischen Vorsitzenden.

2. Esken/Walter-Borjans müssen schnell an Profil gewinnen.

Das neue Führungsduo hat bislang kaum etwas vorzuweisen. Die Stuttgarterin Saskia Esken brach einst ihr Studium der Germanistik und Politik in ihrer Heimatstadt ab, arbeitete nach einer Ausbildung zur Informatikerin als Softwareentwicklerin und schaffte es 2013 und 2017 nur über die Landesliste Baden-Württembergs überhaupt in den Bundestag, nachdem sie ihren Wahlkreis Calw mit nur 16 bis 21 Prozent der Stimmen nie gewinnen konnte.

Der promovierte Volkswirt Norbert Walter-Borjans erlangte als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen Bekanntheit, weil er mehrfach im Ausland gestohlene Steuer-CDs kaufte. Seine Etats allerdings wurden mehrfach vom Verfassungsgerichtshof des Landes als verfassungswidrig gerügt. Und der Schuldenstand Nordrhein-Westfalens wuchs in seiner Amtszeit um knapp 30 Prozent auf 174 Milliarden Euro.

Diese beiden sollen nun also die SPD vereinen und den Niedergang stoppen – ein kaum zu bewältigendes Ziel.

3. Der größte Gewinner heißt Kevin Kühnert.

Die große Koalition wird nun infrage gestellt – und Kevin Kühnert hatte genau das forciert. Der 30-jährige Juso-Chef schlug sich klar auf die Seite von Esken/Walter-Borjans und wurde so zum Königsmacher. Ohne ihn und die Jusos wäre das Votum wohl anders ausgefallen.

Kühnert darf nun auf einen Posten als Partei-Vize hoffen, den er auch anstrebt. Oder wird er Generalsekretär und leitet das Ende von Lars Klingbeil ein? Egal, welcher Posten es wird: Kühnert gewinnt an Macht, an Einfluss und ist nicht nur charismatischer als Esken/Walter-Borjans, sondern auch deutlich jünger. Er ist auf dem Weg, der neue starke Mann in der SPD zu werden. Sofern die Partei bis dahin nicht zu schwach für einen starken Mann ist.

Für Olaf Scholz ist die Niederlage ein Drama.

Erst ein wüster Kampf im Rennen um den Parteivorsitz – um dann gemeinsam die Partei zu einen und vor dem Niedergang zu retten? Das funktionierte schon bei der CDU nicht, wo Annegret Kramp-Karrenbauer 2018 mit knapper Mehrheit vor Friedrich Merz gewählt wurde und der Verlierer pflichtbewusst ankündigte, seine neue Chefin fortan zu unterstützen. Die Realität sieht seitdem etwas anders aus. Merz versucht, sich für die nächste Kanzlerkandidatur in Stellung zu bringen und doch noch ans Ziel zu kommen.

Bei der SPD unterlag das Duo Klara Geywitz/Olaf Scholz mit 45 Prozent der Stimmen ebenfalls knapp. Und Scholz kündigte pflichtbewusst an, das Sieger-Duo fortan zu unterstützen. Und auch hier handelte es sich um ein Lippenbekenntnis.

Scholz als Verfechter der schwarzen Null auf der einen und die Forderungen von Esken/Walter-Borjans nach Investitionen auf der anderen Seite passen einfach nicht zusammen. Scholz soll zunächst weiter Vizekanzler und Finanzminister bleiben, sein Rückzug ist allerdings nur noch eine Frage der Zeit – ob freiwillig oder erzwungen. Ein erneutes In-Stellung-Bringen wie es Merz bei der CDU zu gelingen scheint, ist für Scholz aktuell nicht denkbar. Jahrelang hatte er gewartet, gezögert, taktiert, um im rechten Moment da zu sein. Nun war er da, aber der Moment am Ende nicht der richtige. Seine Politik ist nicht mehr erwünscht. Für Scholz ist das ein Drama. Seine Hoffnungen auf das Kanzleramt sind am Samstag vorerst gestorben.


WAS STEHT AN?

Das Ringen um den Koalitionsvertrag und ein mögliches Aus der großen Koalition nimmt schon heute Fahrt auf. Die SPD ringt dabei erst mal mit sich selbst, die CDU bekennt sich zum Koalitionsvertrag und wartet ab. Der Fahrplan bis zu einem möglichen Aus ist allerdings eng getaktet.

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  • Heute tritt der geschäftsführende SPD-Fraktionsvorstand zusammen, um über einen Verbleib in der Regierung zu diskutieren.
  • Morgen trifft sich das erweiterte SPD-Präsidium, um die Halbzeitbilanz der Koalition zu beurteilen und eine Empfehlung für den am Freitag beginnenden dreitägigen Bundesparteitag abzugeben.
  • Von Freitag bis Sonntag wählt der SPD-Parteitag in Berlin die neue Parteispitze ins Amt. Entscheidender sind aber die inhaltlichen Festlegungen mit Blick auf die weitere Zusammenarbeit in der großen Koalition.
  • Am 9. Dezember entscheidet das CDU-Präsidium, wie es auf die Ergebnisse des SPD-Parteitags reagieren soll – und ob eine Verständigung zwischen den Koalitionspartnern vorstellbar ist.
  • Einen Tag später tagen die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD, anschließend soll es noch bis zum 15. Dezember einen Koalitionsausschuss mit den Spitzen von CDU, CSU und SPD geben.

Geht es also schnell mit einer Entscheidung?


Rund 25.000 Teilnehmer, 200 Staaten und mächtig Druck auf dem Kessel: Heute beginnt die 25. UN-Klimakonferenz, die zwei Wochen dauert und in Madrid stattfindet. Nur einen Monat hatte die spanische Regierung Zeit, die Konferenz zu organisieren, nachdem die chilenische Regierung Ende Oktober wegen der sozialen Proteste im Land abgesagt hatte.

Das Motto "Tiempo de actuar", auf Deutsch "Zeit zu handeln", ist noch geschmeichelt. Fast täglich gibt es neue dramatische Prognosen und Hiobsbotschaften für das Klima. Noch immer reicht es längst nicht, was die Mitgliedstaaten des Pariser Klimaabkommens planen, um den Temperaturanstieg auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Erst vor wenigen Tagen hatte das EU-Parlament den Klimanotstand ausgerufen.

Das größte Problem nach wie vor: Es ziehen längst nicht alle an einem Strang. Während zivilgesellschaftliche Bewegungen wie "Fridays for Future" für eine Trendwende kämpfen, stellen nationalistische Regierungen die internationale Zusammenarbeit komplett infrage. Ohne die funktioniert der Klimaschutz nicht.

Zur Eröffnung der Klimakonferenz wird EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprechen, die erst gestern ihren ersten offiziellen Tag als EU-Kommissionspräsidentin hatte.


Vergangene Woche protestierten Tausende Bauern mit einer Traktoren-Kolonne am Brandenburger Tor – heute folgt ein Termin im Kanzleramt: Für den "Agrargipfel" mit Kanzlerin Angela Merkel kommen Vertreter von rund 40 landwirtschaftlichen Verbänden und Aktionsbündnissen für drei Stunden ins Kanzleramt. Die Bauern wollen weiter Druck machen, um mehr Gehör bei der Politik und den Verbrauchern zu finden. Sie wollen beispielsweise einen Neustart bei umstrittenen Plänen für mehr Insektenschutz.

Ärger gibt es auch um neue Beschränkungen beim Düngen unter anderem mit Gülle. Brüssel hatte Deutschland wegen zu hoher Nitratwerte im Grundwasser verklagt und 2018 beim Europäischen Gerichtshof Recht bekommen. Viele Landwirte wurmt, dass erst 2017 geänderte Vorgaben deswegen schon wieder verschärft werden müssen.


Und noch mal Brüssel: Dort treffen sich um 10 Uhr die EU-Verkehrsminister. Unter den Teilnehmern: Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Das Ziel: eine gemeinsame Position zu Fahrgastrechten bei europäischen Bahnen. Unter anderem sollen Bahnunternehmen – beispielsweise bei Verspätungen – künftig wie Fluggesellschaften im Fall von höherer Gewalt von der Haftung befreit sein. Bei Streitpunkten wie einheitlichen Genehmigungsverfahren im europäischen Verkehrsnetz oder zu EU-weiten Mautregelungen wollen sich die Verkehrsminister zumindest näher kommen.


WAS LESEN ODER ANSCHAUEN?

Beflügelt von den Wahlergebnissen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst dieses Jahres will die AfD an die Regierung. Der scheidende Co-Parteichef Alexander Gauland drohte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Parteitag in Braunschweig offen. Die anderen Parteien, und damit meinte er insbesondere die CDU, würden die AfD nicht mehr ignorieren können und "uns vom Gestaltungsspielraum dieses Landes ausschließen". Aber wie könnte die AfD an die Regierung kommen? Und wo? Und welche Rolle spielen der als Parteichef bestätigte Jörg Meuthen und sein neuer Co-Chef Tino Chrupalla? Mit diesen Fragen hat sich Madeleine Janssen beschäftigt.


In der ARD-Talkshow "Anne Will" feierten die designierten SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ihren ersten gemeinsamen Talkshow-Auftritt nach dem Mitglieder-Votum. Dabei ging es vor allem auch um die Zukunft der großen Koalition. Eins sei nach der Sendung klar, schreibt meine Kollegin Nina Jersey in ihrer TV-Kritik: "Für Olaf Scholz ist der Albtraum wohl noch nicht vorbei."


Netflix geht ins Risiko: 160 Millionen Dollar hat das Streamingportal in den altmodischen Mafia-Streifen "The Irishman" gesteckt, so viel wie noch nie zuvor in einen selbst produzierten Film. Es ist ein Frontalangriff auf die etablierten Hollywood-Studios: Diese hatten die Finanzierung des Werks von Kultregisseur Martin Scorsese abgelehnt und geben ihr Geld lieber für Superhelden-Blockbuster aus. Die Helden von "The Irishman" (Robert de Niro, Al Pacino, Harvey Keitel) sind übrigens alle jenseits der 70 Jahre. Ob die Wette auf das Hollywood-Gegenstück zur Olsenbande aufgeht? Mit dieser Frage hat sich unser Autor Arno Raffeiner befasst.


DIE GUTE NACHRICHT

Es gehört zum Winter wie die Kälte und der Schnee: das Chaos bei der Bahn in Form von Zugausfällen und Verspätungen sobald das Thermometer Richtung null Grad wandert. Diesmal allerdings soll alles besser werden. Dafür wendet die Bahn in diesem Jahr rund 70 Millionen Euro auf. So gab die Deutsche Bahn AG bekannt, dass für den Winterdienst in dem bundesweit 33.400 Kilometer langen Schienennetz rund 40 Mio. Euro und für schneefreie Bahnsteige in den 5.700 Bahnhöfen etwa 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Schon seit dem Sommer seien Streugut beschafft, Mitarbeiter und Räumfirmen geschult und die Züge einem Wintercheck unterzogen worden. Selbst wenn die Gleise bei Extremfrost oder starken Schneeverwehungen per Hand frei geräumt werden müssten, stünden 18.000 Räum- und Sicherungskräfte der Bahn und externer Firmen bereit. Ob es hilft? Abwarten.


WAS AMÜSIERT MICH?

Das SPD-Votum für die neue Parteiführung hat Folgen. Das Grokodil steht vor einer Zerreißprobe.


Ich wünsche Ihnen einen hervorragenden Start in die neue Woche. Morgen schreibt wie gewohnt Florian Harms an dieser Stelle.

Ihr

Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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