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Coronavirus-Pandemie: Die schlimmste Erschütterung seit 100 Jahren


Was heute wichtig ist
Die schlimmste Erschütterung seit 100 Jahren

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.04.2020Lesedauer: 7 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Auf der Intensivstation im Krankenhaus Großhadern. Quelle: Kneffel/dpaVergrößern des Bildes
Auf der Intensivstation im Krankenhaus Großhadern. Quelle: Kneffel/dpa (Quelle: Peter Kneffel/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Zeiten ändern sich, Menschen nicht unbedingt. Wie viel Kritik hat Angela Merkel in der Vergangenheit für ihren Regierungsstil einstecken müssen! Politische Gegner rügten ihre Mutlosigkeit, Parteifreunde lästerten über ihre Detailversessenheit, Kommentatoren (auch hier im Tagesanbruch) echauffierten sich über ihr ewiges Zaudern. Die Welt dreht sich schneller als je zuvor, aber die Kanzlerin tuckert im ersten Gang durch die Zeitläufte: So ging das Lamento, und angesichts der vielen Herausforderungen, von der Migration übers Klima bis zur Demografie, war das oft nicht falsch.

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Nun haben die Zeiten sich radikal geändert, aber Angela Merkel ist dieselbe geblieben, und ihr Regierungsstil auch. Vorbereitung, Ablauf und Verkündung der gestrigen Corona-Beschlüsse mit den Ministerpräsidenten illustrieren, warum die früher gerügte Arbeitsweise der Kanzlerin derzeit alles andere als falsch ist. Sie lässt sich vom allabendlichen Talkshow-Geschnatter ebenso wenig aus der Ruhe bringen wie von den 95 Konzeptpapieren allwissender Wissenschaftler, sie lässt den hibbeligen Armin Laschet und seine ins Zwielicht geratene Heinsberg-Studie abtropfen und hält sich stattdessen stur an die Fakten, die ihr Adlatus Helge Braun zusammenträgt. Deutschland habe erst einen "zerbrechlichen Zwischenerfolg" im Kampf gegen das Virus errungen, warnt die Kanzlerin, nun dürfe es "kein falsches Vorpreschen" geben. Merkel tastet sich in kleinen Schritten durch die Corona-Krise, und der mächtige CSU-Fürst Markus Söder reitet als ihre Schildwache voraus, da sein Bayernland besonders stark heimgesucht wird: "Wir setzen weiter auf Vorsicht", ertönt sein Schlachtruf. Früher wurde Merkel für ihren visionslosen Pragmatismus gescholten, nun schützt sie das Land mit dieser Taktik: abwägen, abstimmen, abtasten und im Zweifel auf Nummer sicher gehen.

Nummer sicher sieht so aus:

Erstens: Gesundheit geht vor Wirtschaft. Deutschland wird sich deshalb noch monatelang im Ausnahmezustand befinden – so lange, bis ein Impfstoff entwickelt worden ist.

Zweitens: Eine Herdenimmunität anzustreben, bei der sich rund 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infizieren (rund 73.000 Menschen täglich), würde zwangsläufig in ein Massensterben münden. In den Krankenhäusern können nur rund 32.000 schwere Fälle gleichzeitig behandelt werden, deshalb darf die Zahl der täglichen Neuinfektionen nicht über 5.000 steigen.

Drittens: Ein Infizierter steckt derzeit im Schnitt 1,2 weitere Personen an. Diese Reproduktionszahl ist das wichtigste Kriterium, sie muss schnellstens auf höchstens 1 gedrückt werden, sonst drohen auch hierzulande Zustände wie in Oberitalien, Spanien oder dem Elsass: Die Überlastung des deutschen Gesundheitssystems ist bei einem Reproduktionswert von 1,1 am 15. Oktober erreicht, bei einem Wert von 1,2 am 12. Juli und bei einem Wert von 1,3 schon am 11. Juni. Man mag es sich nicht ausmalen.

Viertens: Die wichtigsten Beschlüsse gingen in der gestrigen Pressekonferenz zwischen den vielen Worten zum Masken-Trage-Gebot, der langsamen Schulöffnung ab 4. Mai und dem dauerhaften Verbot von Großveranstaltungen fast unter: Der öffentliche Gesundheitsdienst wird massiv verstärkt, Tausende zusätzliche Mitarbeiter sollen die Infektionsketten in der Bevölkerung verfolgen. Denn das ist die schärfste Waffe im Kampf gegen das Virus: Jede Ansteckung muss schnellstens erkannt werden, um neue Krankheitsfälle zu verhindern. Dafür braucht es nicht mehr wahllose, sondern vor allem mehr gezielte Tests: Die richtigen Personen müssen zum richtigen Zeitpunkt getestet werden, um sie und ihre Kontaktpersonen in Behandlung oder Quarantäne zu schicken. Außerdem werden Senioren- und Pflegeheime zu scharfen Schutzmaßnahmen verpflichtet, denn Alte sind am stärksten gefährdet (mein Kollege Tim Blumenstein hat alle Beschlüsse hier zusammengefasst).

Das ist die Lage, und sie ist tatsächlich so gravierend, wie sie klingt. Genau genommen ist sie sogar noch prekärer, da mag man noch so viel Zuversicht und Optimismus versprühen, und Sie wissen, dass ich das gern tue. Aber wir sollten nicht die Augen vor dem Sturm am Horizont verschließen. Denn "Gesundheit geht vor Wirtschaft", das bedeutet eben auch: Selbst wenn wir irgendwann artig mit Gesichtsmaske wieder beim Friseur sitzen und das eine oder andere Kind für ein paar Stunden in die Schule schicken dürfen, stehen uns schwere Zeiten bevor. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert ein düsteres Szenario für die Weltwirtschaft: Demnach werden wir den schlimmsten wirtschaftlichen Niedergang seit 100 Jahren erleben. Besonders stark trifft er die westlichen Industrienationen, vor allem die großen Volkswirtschaften der Euro-Zone. Deutschlands und Frankreichs Wirtschaft könnten um sieben Prozent schrumpfen, in Spanien und Italien geht es noch steiler bergab. Jeder zehnte Arbeitnehmer in der Euro-Zone muss noch in diesem Jahr mit dem Jobverlust rechnen. Schwache Länder kann der Hammerschlag verwüsten, aber auch unsere Exportrepublik wird er hart treffen – weil Produktion und Handel einbrechen und weil das Corona-Schlamassel weitere Krisen befeuert. Der IWF rechnet mit sozialen Unruhen und Massenprotesten, vor allem in korrupten Staaten. Wer sich erinnert, dass die Revolte des "Arabischen Frühlings" im Jahr 2011 und die anschließenden Kriege in Syrien, Libyen und dem Jemen, der Terror und die Flüchtlingsströme auch in den Erschütterungen der Finanzkrise 2008 wurzelten, der ahnt, was auf uns zukommen kann.

Da ist es beileibe nicht das Schlechteste, in einem Land mit einer pragmatischen, besonnenen Regierung und überwiegend vernünftigen Mitbürgern zu leben. Die sich an die Kontaktsperre-Regeln halten, selbst wenn die manchmal schmerzen. Ja, das kann schon nerven, den ganzen Tag zu Hause zu hocken, auf Freunde zu verzichten, sich durch den zähen Brei aus Heimarbeit, Haushalt, Hausaufgabenbetreuung und Krisenprogramm in der Flimmerkiste zu kämpfen. Aber Vorsicht ist nun mal die Mutter der … nein, nicht das, was Sie denken. Ursprünglich lautete das Sprichwort nämlich anders. Statt der Porzellankiste stand dort vermutlich die Weisheit. Und das, finde ich, ist in diesen Tagen doch ein ziemlich gutes Motto, oder nicht?


WAS STEHT AN?

"Es muss unser Ziel sein, jede Infektionskette verfolgen zu können", hat Angela Merkel gesagt. Das sei "von ganz, ganz entscheidender Bedeutung." Es sind Sätze, die es in sich haben, denn damit ermöglicht die Kanzlerin uns einen Blick auf das langfristige Konzept zur Bekämpfung der Corona-Krise. Die blitzschnelle Verfolgung jeder Infektion und die eilige Isolierung der Betroffenen ist die schärfste Waffe im Versuch, Covid-19 im Keim zu ersticken. Diese Strategie geht über die Empfehlungen der Leopoldina-Professoren weit hinaus, weil sie sich nicht mit einer groben Begrenzung der Krankheitszahlen begnügt. Wir sollten uns deshalb klarmachen, was dieser Weg bedeutet. Und dazu schauen wir nach Singapur.

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Der südostasiatische Stadtstaat war der Corona-Musterschüler. Lob gab es von der WHO, neidvoll blickten andere gebeutelte Nationen auf das vorbildliche Krisenmanagement. Die Stadt hat sich darauf verlegt, der Krankheit keinen Fußbreit Raum zu lassen: Infektionen wurden lückenlos verfolgt und Betroffene unter Quarantäne gestellt. Drakonische Strafen drohen jedem, der die Auflagen ignoriert. Zugleich genossen die Bürger den Lohn für ihre Disziplin. Verrammelte Geschäfte, geschlossene Schulen und Restaurants? Nicht in Singapur, das Leben nahm dort weitgehend seinen normalen Gang.

Aber nun ist man auch dort gestolpert. Die Kurve der Neuinfektionen steigt inzwischen steil an, das gefürchtete exponentielle Wachstum sieht nun aus wie überall auf der Welt. Vom lockeren Lebenswandel ist nichts mehr übrig: Lockdown, Schotten dicht, Bürgersteige hochgeklappt. Die Hütte brennt. Was ist passiert?

Man hat einen Fehler gemacht. Nur einen kleinen, aber leider entscheidenden. Als weltweit die Zugbrücken hochgingen, kehrten auch die Bürger Singapurs in ihre Heimat zurück. Und weil man dem Rest der Welt in Sachen Seuchenbekämpfung nicht über den Weg trauen wollte, verdonnerte die Stadt ihre Heimkehrer zu strikter zweiwöchiger Quarantäne in den eigenen vier Wänden. Das hätte gutgehen können – wenn, ja wenn man den Angehörigen der Rückkehrer, die in denselben Wohnungen zu Hause waren, nicht erlaubt hätte, weiterhin außer Haus zu gehen. Solange jedenfalls, wie die Rückkehrer keine Symptome zeigten.

Das war's. Das hat genügt. Jetzt geht nichts mehr bei der exakten Nachverfolgung, kreuz und quer ziehen sich die Infektionsketten durch die Stadt. Der Regierung blieb nur noch der Griff zur Notbremse, mit Krachen und Quietschen kam das öffentliche Leben zum Stillstand. Diese schnelle Reaktion mag Singapur vor dem Schlimmsten bewahren. Aber nur gerade so. So sieht es also aus, unser Vorbild für die neue Bundesstrategie.

Die Unterdrückung von Covid-19, nicht bloß die Abflachung der Kurve, ist die beste Option, die wir haben. Sie erlaubt Betriebsamkeit, ein Wiederbeleben der Wirtschaft und einen Lebenswandel, der dem normaler Tage irgendwann wieder ähnelt. Nur dieser Weg hat sich im Umgang mit dem Coronavirus bisher überhaupt in der Praxis bewährt. Südkorea und Taiwan, die auf dasselbe Pferd setzen, hatten ihre Schreckmomente, sind aber jedes Mal davongekommen. Eine Hochrisikostrategie bleibt es trotzdem: Wer diesen Weg beschreitet, darf sich keine Blöße geben – null, nada, niente – oder wir können uns für den nächsten "Lockdown" schon mal das Fernsehprogramm zusammenstellen. Das müssen wir wissen, wenn wir uns hoffnungsvoll an die Lockerung der Ausgangssperre machen. "Normalität" gehört weiterhin in Anführungszeichen gesetzt. Für mindestens den Rest des Jahres, wahrscheinlich lange darüber hinaus. Machen wir die ersten Geschäfte also wieder auf – und die Augen auch.


Von morgens bis abends beschäftigen wir uns nun mit diesem Virus, aber zwischendrin können wir auch mal in die Vergangenheit blicken. Zum Beispiel auf die Seelower Höhen östlich von Berlin, nahe der heutigen Grenze zu Polen. Heute vor 75 Jahren begann dort die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden. Rund eine Million sowjetische Rotarmisten rannten gegen die Verteidigungslinien der Wehrmacht an. Unser Zeitgeschichteredakteur Marc von Lüpke erzählt Ihnen die ganze Geschichte.


WAS LESEN UND ANHÖREN?

Noch im November nannte Friedrich Merz das Erscheinungsbild der Bundesregierung "grottenschlecht". Vier Monate später verkündete er seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz und lief sich für den Parteitag warm. Doch die Corona-Krise verhagelte ihm die Planung – und nun schlägt er leisere Töne an: Im Interview mit unserem Politikreporter Tim Kummert erklärt Merz, was er vom Krisenmanagement der Bundesregierung hält und wann er denn nun an die Spitze der CDU vorstoßen will.


Und was sagen führende Ökonomen zu den Corona-Beschlüssen der Bundesregierung? Unser Wirtschaftschef Florian Schmidt hat darüber mit Peter Bofinger und Michael Hüther gesprochen.


Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, wiederum glaubt, dass Deutschland die Corona-Krise mit am besten bewältigen wird. Zwar gebe es Leute, für die es nicht gut aussieht: "Menschen, die eine geringe Qualifikation haben, die schlecht bezahlte Berufe haben, sind viel verletzlicher." Er meint aber ein Rezept dagegen zu kennen: Solidarität und eine wirklich soziale Marktwirtschaft. Was genau er damit meint, hören Sie in unserem Podcast "Tonspur Wissen".


WAS AMÜSIERT MICH?

Wo kriege ich jetzt bloß so eine Maske her? Schnell mal den Mario Lars fragen.

Ich wünsche Ihnen einen humorvollen Tag. Das ist nämlich, wenn man trotzdem lacht.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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