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Tagesanbruch: Europa braucht eine gemeinsame Corona-Krisenpolitik


Was heute wichtig ist
So geht das nicht weiter

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.05.2020Lesedauer: 7 Min.
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Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz kündigte medienwirksam an, die Grenze nach Deutschland am 15. Juni wieder vollständig zu öffnen. Offenkundig war es ihm wichtig, anderen Regierungschefs und der EU-Kommission zuvorzukommen.Vergrößern des Bildes
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz kündigte medienwirksam an, die Grenze nach Deutschland am 15. Juni wieder vollständig zu öffnen. Offenkundig war es ihm wichtig, anderen Regierungschefs und der EU-Kommission zuvorzukommen. (Quelle: Jochen Hofer/APA/dpa/dpa-bilder)

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WAS WAR?

Na bitte, geht doch: Die Zahl der Infizierten sinkt (nun sind es nur noch rund 174.000), der Reproduktionsfaktor fällt (zehn Erkrankte stecken im Schnitt nur noch acht andere Menschen an), die Grenzen nach Frankreich, Luxemburg, Österreich und zur Schweiz werden geöffnet (gelockerte Kontrollen ab Samstag, Urlaubsverkehr voraussichtlich ab Mitte Juni). Endlich gute Nachrichten von der Corona-Front, zumindest für uns Deutsche. Da können wir uns nach all den Wochen der Unsicherheit und des Verzichts doch mal entspannt aus dem Fenster lehnen, Hurra rufen und mit einem guten Tropfen anstoßen!

Können wir? Bevor wir das Glas an die Lippen heben, sollten wir kurz innehalten. Die Gefahr ist noch nicht gebannt, darauf hat die Kanzlerin gestern aus gutem Grund verwiesen: "Es wäre doch deprimierend, wenn wir, weil wir zu schnell zu viel wollen, wieder zu Einschränkungen zurückkehren müssten, die wir alle hinter uns lassen wollen", sagte sie im Bundestag. Doch das ist nicht der einzige Schuss Wasser, den wir in unseren Wein gießen müssen. Sicher, es ist erfreulich, wie gut Deutschland und viele unserer Nachbarländer aus der Gesundheitskrise herauszukommen scheinen – weniger erfreulich ist hingegen, wie sehr dieser Erfolg mit Egoismus, Enttäuschungen und einem Rückfall in nationales Denken erkauft worden ist.

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Der Kanzler in Wien rühmt sich gefühlt dreimal täglich, dass Österreich im Vergleich zu anderen EU-Staaten viel besser gegen das Virus vorgehe. Die Regierungen in Budapest und Warschau nutzen die Krise, um den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung sturmreif zu schießen, und niemand hindert sie daran. Die Presse in Rom geifert aus Wut über abgelehnte Eurobonds gegen Deutschland und wähnt dort "Hitlers Enkel" am Ruder. Die Regierungen in Berlin und Paris konzentrieren sich voll auf den Corona-Kampf vor ihrer Haustür und scheinen zu vergessen, dass nebenan auch noch jemand wohnt. Das Krisenmanagement der EU-Staaten mag kurzfristig effektiv sein. Aber auf lange Sicht ist es ein Elend: Jedes europäische Land macht seine eigene, nationale Politik, und die neue EU-Kommission von Frau von der Leyen und der Europäische Rat unter dem Vorsitz von Herrn, Moment, ich schaue noch mal eben nach, ah ja: Michel haben noch nicht die nötige Autorität entwickelt, um den Laden zusammenzuschweißen.

So kann das nicht bleiben, das muss sich schleunigst ändern. Findet Europa nicht zu einer echten Gemeinschaftspolitik, wird diese Krise bleibende Schäden in der Union und in unser aller Leben hinterlassen. Wenn der Egoismus über den Einheitswillen triumphiert, geht der Abstieg im globalen Machtgefüge schneller, als wir uns umgucken können. Dann wird uns auch die nächste Krise überrumpeln und Billionensummen kosten – sei es eine weitere Pandemie, eine Cyberattacke, das neue atomare Wettrüsten oder die Klimakatastrophe.

Warum haben sich der deutsche und der französische Innenminister gestern nicht zusammen vor die Presse gestellt und die Grenzöffnung als gemeinsamen Plan verkündet? Warum wird die Anschaffung und Verteilung von Gesichtsmasken, Desinfektionsmitteln, Schutzkitteln und Beatmungsgeräten nicht von der EU für alle Länder, Regionen und Städte transparent und gerecht koordiniert? Wann akzeptiert Deutschland, dass die Union einen Finanzminister braucht, der die gemeinsame Geld- und Wirtschaftspolitik koordiniert und ihr globales Gewicht verleiht? Warum müssen sich die europäischen Diplomaten von dem Hitzkopf in Washington vormachen lassen, dass man durchaus mal die Samthandschuhe ausziehen kann, wenn man mit chinesischen Behördenbetonköpfen verhandelt? Warum haben wir uns die Pekinger Virus-Vertuschungsmanöver monatelang gefallen lassen und artig dazu genickt? Warum lassen sich EU-Botschafter von einer chinesischen Staatszeitung zensieren? Wo ist die gemeinsame Strategie, die unseren Kontinent gestärkt aus der Corona-Krise herausführt – nicht mit plakativen Brüsseler Floskeln à la Green-Deal, White-Deal oder Sonstwie-Deal, sondern mit greifbaren Taten?

Es ist höchste Zeit, dass Europa mehr wird als die Summe seiner Einzelteile. Nur wenn wir bereit sind, auch in Krisensituationen als Bundesgenossen, statt vor allem an uns selbst zu denken, hat die Europäische Union eine Zukunft. "Zur Politik der europäischen Einigung gibt es keine verantwortbare Alternative. Wenn wir Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für alle Bürger unseres Kontinents auf Dauer sichern wollen, dann bleibt es unsere Aufgabe, mit Engagement und Optimismus für den Bau des Hauses Europa einzutreten. Denn Europa – und das gilt besonders für die junge Generation – ist unsere Zukunft!"Hat einer gesagt, der wusste, worauf es ankommt. Lange her. Wie schmerzlich es 13 Jahre später auffällt, dass leidenschaftliche Europäer wie Helmut Kohl heute fehlen!


WAS STEHT AN?

Egal wie reich, egal wie mächtig: Das Virus macht keinen Unterschied. Die Natur, hier in Gestalt von Covid-19, schert sich nicht um das dicke Portemonnaie, die schicken Klamotten, das schnelle Auto. Dem Erreger ist es gleich, ob man ein Firmenimperium befehligt oder nur die Registrierkasse bedient. So ist es doch? Nein, leider alles falsch.

Seit das Coronavirus unter uns ist, hat soziales Gefälle ihm als Rutschbahn gedient. Die virale Wirkung der Armut konnten wir schon klar erkennen, als in der Mega-Nation Indien die Regierung ohne Vorwarnung die landesweite Ausgangssperre verhängte. Abertausende von Wanderarbeitern, die in der Stadt keine Chance mehr hatten, sich zu ernähren, begannen ihren Exodus: die Glücklicheren hineingequetscht in die letzten noch fahrenden Züge und Busse, die Pechvögel zu Fuß, in großen Gruppen, in denen sie beim langen Marsch in ihre Heimatdörfer das Virus auch noch in den letzten Winkel Indiens trugen. Nun ja, mag man an dieser Stelle noch denken, katastrophal gelaufen, aber Indien ist bestimmt ein Unikum. Begeben wir uns also hinüber ins reiche Singapur: geschäftstüchtig, Hochburg des Handels, extravagante Architektur – und lange ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Bekämpfung des Coronavirus. Doch irgendwann ist es den Behörden entwischt. Die Panne eskalierte, jetzt ringt auch der Stadtstaat mit der Krise. Warum? Weil das Virus die beengten Quartiere der Gastarbeiter erreichte.

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Allerlei ist über das Coronavirus noch immer unbekannt, aber schon jetzt können wir mit Sicherheit sagen: Es hat dafür gesorgt, dass uns ungelöste soziale Probleme mit Wucht auf die Füße fallen. Rund um den Globus ist das so. Zum Beispiel auch in Montreal, das sich zum Zentrum des Ausbruchs in Kanada entwickelt hat. Eine ordentliche Großstadt, aber nicht riesig: ungefähr so viele Menschen wie in Hamburg leben dort. Damit endet aber auch schon die Ähnlichkeit. Es gibt dort viele Opfer. 20.000 Erkrankte hat man in der Stadt bisher gezählt, 2.000 von ihnen sind gestorben. Die beiden Hotspots der Epidemie: Altersheime und die armen Immigrantenviertel. Das eine hat mit dem anderen durchaus etwas zu tun: Einwanderer akzeptieren die schlecht bezahlten Jobs und schuften in den Heimen. Wieder einmal mit von der Partie, wie schon in Singapur: viele Menschen mit wenig Geld in kleinen Wohnungen – eine Steilvorlage für Infektionen.

Die Altersheime und die Arbeitsverhältnisse, das ist in Corona-Zeiten schon fast ein roter Faden. Wir stoßen immer wieder darauf, etwa auch in Schweden. Kaputtgespart, unterbesetzt und so mies ausgestattet, dass mancherorts Papierservietten und Gummibänder zu Gesichtsmasken zusammengetackert werden: Angesichts solcher Zustände in den Pflegeheimen muss man sich über hohe Fluktuation beim Personal eigentlich nicht wundern. Und auch nicht darüber, dass sich jemand, der nur stundenweise und obendrein schlecht bezahlt wird, im Zweifel lieber krank zur Arbeit schleppt, weil das Geld sonst nicht reicht. Die vielen Todesopfer von Covid-19 in Pflegeeinrichtungen haben die Schweden überrascht, aber überraschend sind sie nicht.

Womit wir bei den Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland angekommen wären. Sind auch wir perplex über das, was erwartbar ist? Das bloße Wort "Gemeinschaftsunterkunft" sollte uns als Alarmglocke in den Ohren klingeln. Auch "Billigjob" ist ein Anlass zu genauem Hinhören. Undurchsichtige Beschäftigungskonstrukte, in denen sich ein Sub-Unternehmer an den nächsten reiht? In den Fleischfabriken in Coesfeld und im Münsterland wissen wir, wie das alles ausgegangen ist. Das Virus nutzt nicht nur Schwachstellen im Körper aus, sondern auch in der Gesellschaft. Das Muster kennen wir jetzt. Und müssen sofort besser darauf achten. Sonst kommt uns Covid-19 noch öfter zuvor.


Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) gibt heute die Zahlen der Steuerschätzung bekannt. Die Bundesregierung rechnet infolge der Corona-Krise mit der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte, das wird sich in den Haushaltsbüchern auf der Sollseite niederschlagen.

Der Bundestag verabschiedet weitere Corona-Hilfen: mehr Geld für das Gesundheitswesen, die Erhöhung des Kurzarbeitergelds, ESM-Kreditlinien für klamme Eurostaaten (immerhin).

In Jerusalem wird Israels neue Regierung vereidigt. Benjamin Netanjahu will sich im Ministerpräsidentensessel mit seinem Rivalen Benny Gantz abwechseln: erst er, dann der. Auch strengreligiöse Parteien und die sozialdemokratische Arbeitspartei sollen das Zweckbündnis stützen.

Der Bundesgerichtshof muss sich heute mit der Frage beschäftigen, ob nur Ritter Sport quadratisch sein darf: Bleibt die charakteristische Form der Schokolade als eingetragene Marke geschützt oder dürfen andere Hersteller sie nachahmen? Klingt wie eine Petitesse, kann aber sehr lukrativ sein.


WAS LESEN?

Was bedeutet die schrittweise Öffnung der Grenzen nun für Urlauber, Hotels und Sehenswürdigkeiten? Meine Kollegin Sandra Simonsen beantwortet Ihre Fragen.


Die Infizierten- und Totenzahlen sinken – doch nun beobachten Ärzte aus mehreren Ländern Fälle einer gefährlichen Entzündungskrankheit bei Kindern. Auch deutsche Mediziner mahnen, dass ein Zusammenhang mit Covid-19 möglich sei. Unsere Gesundheitsredakteurin Nicole Sagener hat die Details.


Nicht nur Virologen warnen vor einer zweiten Corona-Welle – auch die Wirtschaft bangt, dass sie abermals getroffen wird. Fest steht: Auch wenn der Staat vielen Unternehmen großzügig unter die Arme greift, allen ist damit nicht geholfen. Besonders kleinere und mittelgroße Firmen kämpfen weiter ums Überleben. Was genau sie umtreibt, hat meine Kollegen Saskia Leidinger notiert.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ja, was wollen diese Schreihälse auf den Straßen denn nun?

Ich wünsche Ihnen einen grenzenlos schönen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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