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Tagesanbruch: Krieg im Kaukasus – direkt vor unseren Augen


Was heute wichtig ist
Direkt vor unseren Augen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.11.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Blutfleck auf einem Hotelbett in Stepanakert nach einem Raketenangriff der aserbaidschanischen Artillerie.Vergrößern des Bildes
Blutfleck auf einem Hotelbett in Stepanakert nach einem Raketenangriff der aserbaidschanischen Artillerie. (Quelle: AP/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wir neigen dazu, nur das zu sehen, was direkt vor unseren Augen geschieht. Derzeit geschieht dort einerseits immer weniger: leere Straßen, geschlossene Kneipen, das öffentliche Leben erlahmt. Ab heute gilt der neue "Lockdown", doch schon am Wochenende waren vielerorts seine Vorboten zu spüren. Andererseits geschieht vor unseren Augen derzeit enorm viel. Die Kritik an den jüngsten Corona-Beschlüssen schwillt an, ebenso wie die Kritik an den Kritikern. An vorderster Front verkämpft sich wieder einmal der Virologe Hendrick Streeck, der die Gabe hat, mit seinen Thesen mehr Verwirrung als Aufklärung zu stiften. Die islamistischen Verbrechen in Frankreich zeigen uns, wie gefährlich die pervertierte Variante des Islams immer noch ist. Unser Außenpolitikredakteur Patrick Diekmann erklärt hier die Hintergründe, der Psychologe Ahmad Mansour erläutert, warum wir die Bedrohung auch in Deutschland ernster nehmen sollten. Der wilde Wahlkampf in den USA, der brüchige Burgfrieden in der CDU, der beharrliche Freiheitskampf in Belarus: Von überall fliegen uns Nachrichten entgegen. Trotzdem gehen manche Ereignisse im Aufmerksamkeitsstrom unter, und eines davon möchte ich heute Morgen herausgreifen.

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Der Krieg in Bergkarabach nimmt Tag für Tag an Brutalität zu, kostet immer mehr Menschenleben, spielt aber in den meisten Medien trotzdem keine große Rolle. Dabei sind die Ereignisse dramatisch, auf den Schlachtfeldern im Kaukasus ebenso wie in den Verhandlungen zwischen den verfeindeten Aserbaidschanern und Armeniern. Bei ihren Gesprächen am Freitag in Genf sicherten beide Seiten zu, Angriffe auf Wohngebiete zu vermeiden. Das Versprechen hielt nicht einmal 48 Stunden. Gestern meldeten beide Kriegsparteien neue Angriffe auf bewohnte Gebiete. Armenien warf der aserbaidschanischen Armee vor, die Stadt Martuni zu beschießen. Aserbaidschan beschuldigte die Armenier, die Stadt Terter und mehrere Dörfer zu attackieren. Ist es schon das dritte, vierte oder fünfte Mal, dass eine vereinbarte Feuerpause in dem Konflikt gebrochen wird? Ich habe aufgehört zu zählen.

Kaukasus: Das klingt in den Ohren der meisten Mitteleuropäer weit weg, irgendwo dort unten, wo irgendwie immer Konflikte herrschen, ist eben so. Diesen Zynismus sollten wir uns selbst nicht gestatten. Wir sollten nicht denselben Fehler machen wie im Syrienkrieg, an dem irgendwann kaum noch jemand in Europa Anteil nahm. Wir sollten die Augen öffnen und uns für das Schicksal der Frauen und Kinder in den Kellern von Stepanakert interessieren. Wir können zum Beispiel meiner Kollegin Anna Aridzanjan auf Twitter folgen, die täglich ihre Eindrücke von der Tragödie teilt.

Wenn europäische Medien über den Konflikt berichten, weisen sie stets auf die Verantwortung beider Kriegsparteien hin. Das ist einerseits richtig. Andererseits gerät so aus dem Blick, dass die Aggression ungleich verteilt ist. Aserbaidschans autoritärer Präsident Ilham Aliyev hat die Öleinnahmen seines Landes genutzt, um seine Armee massiv aufzurüsten. Nach allem, was wir wissen, versucht er nun mit Unterstützung des türkischen Autokraten Erdoğan, Söldnern aus Syrien und Kampfdrohnen aus Israel, die armenisch besiedelten Gebiete in Bergkarabach zu erobern. Dabei setzen seine Soldaten offenbar verbotene Streumunition gegen Zivilisten ein. Die Wunden, die diese Geschosse reißen, sind bestialisch. Die Armenier feuern zurück und schießen dabei offenbar ihrerseits mit geächteten Waffen.

So geht es hin und her, Tag für Tag, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und in Moskau, Ankara und Jerusalem sitzen Herr Putin, Herr Erdoğan und Herr Netanjahu und müssen sich fragen lassen, warum ihre Länder durch Waffenlieferungen die erneute Eskalation dieses seit Jahrzehnten schwärenden Konflikts zugelassen haben. Das heißt: Wenn sie jemand fragt. Denn genau das sollten die Diplomaten in Berlin und Brüssel nun schleunigst tun. Und zwar nicht zu leise.


WAS STEHT AN?

Welch ein Spektakel: Alle vier Jahre starrt die ganze Welt wochenlang nach Amerika, um minutiös zu verfolgen, wie die US-Bürger ihre Nummer eins wählen. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass das mächtigste Land der Welt das Geschehen rund um den Globus beeinflusst. Kein Wunder auch angesichts des Dauerfeuers der Wahlpropaganda, das die rivalisierenden Parteien auf die Bildschirme und ins Web jagen. Dem Center for Responsive Politics zufolge geben Republikaner und Demokraten diesmal 14 Milliarden Dollar für ihre Kampagnen aus – mehr als doppelt so viel wie vor vier Jahren. Es ist der teuerste Wahlkampf der US-Geschichte. Wenn man aus dem Staunen herausgekommen ist, mag man sich einfach mal kurz vorstellen, was sich mit dieser Summe anstellen ließe, investierte man sie gegen die Klimakrise, gegen den Hunger in Entwicklungsländern oder für Sozialprogramme in Amerikas Elendsregionen.

Es geht um die Macht, und dafür ist den Konkurrenten nichts zu teuer. Es geht darum, welchen Weg die USA im digitalen Zeitalter einschlagen. Und es geht darum, ob Amerika an seinen gesellschaftlichen Konflikten zerbricht – oder ob die Bürger inmitten der Corona-Krise wieder zusammenfinden, um die riesigen Herausforderungen der kommenden Jahre anzupacken: den Klimaschutz, die Verteidigung der Demokratie gegen Populismus und Nationalchauvinismus, den Weltmachtanspruch Chinas, die neue atomare Bedrohung, die Monopole der Digitalkonzerne.

Wäre Corona nicht über die Welt gekommen, hätte Donald Trump gute Chancen auf die Wiederwahl gehabt. Er profitierte vom Aufbauprogramm seines Vorgängers Barack Obama, belebte die Wirtschaft durch Steuergeschenke für Unternehmen, profitierte vom Höhenrausch der Börsen, wo viele Amerikaner ihre Altersvorsorge angelegt haben. Sein permanentes Twitter-Geschrei ging zwar vielen Leuten auf die Nerven, suggerierte aber zugleich, dass er sich für keinen Konflikt zu schade ist und es mit jedem aufnimmt, seien es die listigen Chinesen, der irre Kim oder die undankbaren Deutschen. Wer in Oklahoma oder Wyoming lebt, weder die "New York Times" noch die "Washington Post" liest, die politischen Eilten in der Hauptstadt ohnehin für korrupte Windeier hält und sich über mehr Geld im Portemonnaie freut, der hatte bis Jahresbeginn ziemlich wenig Gründe, Mister Trump nicht zu wählen.

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Doch das miserable Management der Corona-Krise hat die Unfähigkeit des Präsidenten entlarvt; immer mehr Amerikaner haben in ihrem Familien- oder Freundeskreis Opfer zu beklagen. Schon mehr als 90 Millionen der gut 200 Millionen wahlberechtigten Bürger haben ihre Stimmen vorab abgegeben, und die meisten von ihnen dürften dem Demokraten Joe Biden zuneigen. Trotzdem ist die Wahl noch nicht entschieden, aufgrund des heiklen Wahlmännersystems kann Herr Trump selbst dann triumphieren, wenn er viel weniger Stimmen bekommt als sein Herausforderer. Entscheidend ist, wer die Mehrheit in den umkämpften Swing States holt, wo die Bevölkerung mal für die Demokraten, mal für die Republikaner stimmt: Arizona, Florida, Michigan, North Carolina, Pennsylvania, Wisconsin.

Für Donald Trump geht es bei dieser Wahl aber noch um viel mehr: nicht nur um sein Amt und seine Macht, sondern auch um sein Luxusleben und seine Freiheit. Müsste der hochverschuldete Immobilienhai das Weiße Haus verlassen, könnten ihm nicht nur die Pleite, sondern auch Anklagen drohen. Die Staatsanwaltschaft in Manhattan bereitet offenbar schon ein Strafverfahren wegen der Fälschung von Geschäftsunterlagen, Versicherungs- und Steuerbetrug vor. Im Fokus stehen dubiose Geldgeschäfte seines Imperiums, in die auch die Deutsche Bank verwickelt sein soll. Auch das erklärt den rabiaten Wahlkampf des Präsidenten: Er muss unbedingt gewinnen, um nicht zu riskieren, womöglich im Knast zu landen.

Damit hat Donald Trump dasselbe Problem wie viele Autokraten, sagt Timothy Snyder. Der 51-Jährige zählt zu den renommiertesten Historikern Amerikas. Seine Standardwerke zum Holocaust haben mich erschüttert, sein schmaler Band "On Tyranny. Twenty Lessons from the Twentieth Century" hat mich fasziniert, kein anderes Buch habe ich öfter verschenkt. Umso erfreuter war ich, als Herr Snyder uns die Zusage für ein Interview gab. Also haben mein Kollege Marc von Lüpke und ich mit dem Professor über die Lage in den Vereinigten Staaten gesprochen und uns seine düstere Prognose angehört: Eine Niederlage werde Donald Trump niemals hinnehmen, stattdessen könnte der Präsident auf Chaos und Gewalt setzen – trotzdem bestehe Hoffnung für die USA. Warum? Das lesen Sie in unserem Gespräch mit Timothy Snyder. Damit sind Sie für den Showdown morgen gerüstet.


Frankreich gedenkt heute des Lehrers Samuel Paty, der von einem islamistischen Mörder getötet wurde. An allen Schulen ist um 11.15 Uhr eine Schweigeminute geplant. Die französische Regierung hat dazu aufgerufen, die Schweigeminute auch in deutschen Schulen abzuhalten. Das wäre ein starkes Signal, findet aber ein geteiltes Echo.


Sechs Castor-Transporter mit hoch radioaktivem Atommüll werden heute vom britischen Sellafield ins Zwischenlager im südhessischen Biblis gefahren. Die Polizei rechnet trotz des Lockdowns mit Protesten.


Zehntausende Teilnehmer verfolgen heute die weltgrößte Technologie-Konferenz "Web Summit". Ein brisantes Thema ist die wachsende Macht von Google, die immer mehr Menschen unheimlich wird. Meine Kollegin Laura Stresing und ich haben uns von dem Digitalexperten Philipp Klöckner erklären lassen, wie Googles Einfluss beizukommen ist.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Die irische Regierung hat bereits vor zwei Wochen einen neuen Lockdown verhängt – und er scheint zu wirken. Taugt Irland also als Vorbild für Deutschland? Meine Kollegen Lars Wienand und Sandra Simonsen klären Sie auf.


Die Corona-Pandemie wütet seit acht Monaten – und noch immer meldet das Robert Koch-Institut veraltete Zahlen. Unser Rechercheur Jan-Henrik Wiebe erklärt Ihnen, woran das liegt.


Veraltet oder aktuell, in jedem Fall steigen die Corona-Infektionszahlen weiter. Mediziner warnen vor mangelnden Intensivbetten und fehlendem Pflegepersonal. Was geschieht, wenn nicht mehr alle Covid-19-Patienten behandelt werden können, erläutert Ihnen unsere Gesundheitsredakteurin Melanie Weiner.


Warum ist es jetzt sinnvoll, eine Maske zu tragen? Die New York Times zeigt es uns anschaulich.



WAS AMÜSIERT MICH?

Jeder hat ja nun seine eigenen Sorgen.

Ich wünsche Ihnen einen sorgenfreien Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per Mail.

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