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Brennpunkt: Gao – Die Sahelzone entwickelt sich zum Pulverfass


Tagesanbruch
Brennpunkt: Gao

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.02.2021Lesedauer: 7 Min.
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Bundeswehrsoldatin vor einer Patrouillenfahrt in Gao, Mali.Vergrößern des Bildes
Bundeswehrsoldatin vor einer Patrouillenfahrt in Gao, Mali. (Quelle: imago-images-bilder)

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WAS WAR?

Manchmal liegen zwischen einem Entschluss und einer Erkenntnis mehr als 7.000 Kilometer. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 marschierte die Bundeswehr in Afghanistan ein, um das Land gemeinsam mit den USA und weiteren Nationen zu befrieden und zu zivilisieren. 19 Jahre sowie 59 tote und Tausende traumatisierte deutsche Soldaten später geht es dort nicht mehr um Frieden und Zivilgesellschaft, sondern nur noch um die Frage, wie man halbwegs glimpflich aus dem Schlamassel herauskommt. Donald Trump wollte Hals über Kopf die Zelte abbrechen und das Land den Taliban überlassen, die im Gegenzug ihre Angriffe auf die Regierung und ihre Anschläge gegen Zivilisten bleiben lassen sollten. Weil sie das nicht tun, zögert der neue US-Präsident Joe Biden den Abzug hinaus – prompt ist auch das Ende des Bundeswehreinsatzes wieder ungewiss. Gemeinsam rein, gemeinsam raus, lautet die Devise. Doch egal, ob es nun noch Wochen oder Monate dauert, unterm Strich steht längst fest: Die hochgesteckten Ziele wurden samt und sonders verfehlt. Wie alle ausländischen Armeen sind auch die Truppen des Westens am Hindukusch gescheitert.

Mehr als 7.000 Kilometer westlich von Afghanistan liegt die nächste Herausforderung des Westens, und die Lage dort ähnelt derjenigen am Hindukusch: Extreme Armut, Klimaschäden, Terrorbanden und schwache Staatsstrukturen machen die Sahelzone gegenwärtig zur gefährlichsten Region für die Sicherheit Europas. Während man in den EU-Staaten von morgens bis abends über Corona redet, entwickelt sich der Nordwesten Afrikas zu einem Pulverfass. Von der Klimakrise verstärkte Dürren rauben den Menschen die Nahrung, islamistische Terroristen rauben ihnen die Sicherheit, Covid-19 und weitere Seuchen rauben ihnen die Gesundheit. Vor wenigen Tagen schlug das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen Alarm: Die Gewalt in Mali, Burkina Faso und Niger nimmt rapide zu, schon mehr als zwei Millionen Menschen sind auf der Flucht, die Hälfte davon allein in Burkina Faso.

Ausgerechnet Burkina Faso. Der kleine Staat, der als Stabilitätsanker der ganzen Region neue Hoffnung geben sollte. Bundeskanzlerin Angela Merkel wählte deutliche Worte, als sie das Land vor einem Jahr besuchte: "Die Terroristen sind schnell, und deshalb müssen wir schneller werden, damit wir sie auch wirklich bezwingen können", verkündete sie. "Und das ist nicht eine Verantwortung dieser Staaten allein, es ist eine Verantwortung, die auch Europa betrifft. Denn wenn hier das Chaos Überhand gewinnen würde, dann wirkt sich das auch auf andere Bereiche aus." Eine klare Ansage – der wenig folgte.

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Dabei ist die Gefahr glasklar: In der Bundesregierung fürchtet man, dass sich der "Flüchtlingsdruck" aus der Sahelzone übers Mittelmeer gen Norden entladen und Terroristen in Europa einsickern könnten. 12.000 ausländische Soldaten sind deshalb in der Region stationiert, auch die Bundeswehr hat rund 1.100 Soldaten nach Mali geschickt und bildet dort Sicherheitskräfte aus. Doch ausrichten können sie wenig. Im vergangenen Sommer mussten die Deutschen zusehen, wie sich das lokale Militär an die Macht putschte und den gewählten Präsidenten in die Wüste jagte. Aus Burkina Faso werden Anschläge auf Kirchen und Priester gemeldet. Im Tschad wüten die Islamisten von Boko Haram, während Dauerpräsident Idriss Déby Oppositionelle unterdrückt.

Die Probleme in der Sahelzone werden nicht kleiner, sondern größer. Islamisten und kriminelle Banden terrorisieren die Bevölkerung, verschiedene Ethnien bekriegen sich, die ausländischen Soldaten haben genug damit zu tun, sich selbst zu beschützen. So entsteht das Bild eines halbherzigen Militäreinsatzes, dessen Kommandeure selbst nicht so genau wissen, was sie vor Ort eigentlich tun sollen. Die deutschen Politiker wünschen sich Ruhe da unten, sind aber nicht bereit, dem Problem große Aufmerksamkeit zu schenken und das nötige Geld lockerzumachen, um die Armut zu bekämpfen. Tote deutsche Soldaten will erst recht keiner riskieren, also bekommt die Bundeswehr, anders als die französischen Einheiten, kein Kampfmandat. So hängen die Soldaten in der Luft, während die Macht in der Region nach und nach in die Hände von Extremisten gelangt. Versuche von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), das Bundeswehrmandat "robuster" zu gestalten, scheitern am Widerstand der SPD. Außenminister Heiko Maas stellt klar, dass Deutschland sich nicht an Kampfeinsätzen beteiligen werde.

Ist das klug? Was beim ersten Hören töricht klingt, wird beim zweiten verständlich. Mit Waffengewalt allein sind die Konflikte in der Sahelzone nicht zu bewältigen, auch das ist eine Lehre aus Afghanistan. "Wir haben hier keinen Terroraufstand, sondern eine soziale Revolte und einen Bürgerkrieg – und mit Terrorismusbekämpfung wird man diese Probleme sicherlich nicht lösen", sagt der Afrikaexperte Denis Tull von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Probleme seien hausgemacht: Wo es keine staatlichen Strukturen gibt, fehlt es an Schulen, Krankenhäusern, Gerichten, Jobs. Kurz: an Lebensperspektiven.

Genau da könnte ausländische Hilfe ansetzen. Um den Menschen in der Sahelzone ein Leben in Sicherheit und Würde zu ermöglichen, um Flucht und Migration einzudämmen, bräuchte es nicht nur mehr Geld für den Staatsaufbau – sondern vor allem eine andere Politik. Bislang unterstützen Berlin, Paris und Brüssel lokale Autokraten wie Herrn Déby in Mali. Diese Herrscher gebärden sich als Sicherheitspartner der EU, doch statt Terroristen und Schleuserbanden zu bekämpfen, bereichern sie sich vor allem selbst. Auch die mit EU-Millionen gepäppelte G-5-Armee der Sahelstaaten gleicht eher einer Trümmertruppe.

So kann es nicht weitergehen, wenn das Pulverfass in Nordwestafrika nicht Europas nächstes großes Problem nach der Corona-Krise werden soll: Diese Erkenntnis beginnt in Berlin zu reifen, und die Erfahrung des Afghanistaneinsatzes trägt dazu bei. Manchmal liegen zwischen einem Entschluss und einer Erkenntnis eben mehr als 7.000 Kilometer.

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WAS STEHT AN?

Die Erwartungen waren groß, als Kardinal Rainer Maria Woelki vor mehr als zwei Jahren Aufklärung versprach: Da war bereits herausgekommen, dass auch im Erzbistum Köln Priester jahrzehntelang Kinder und Jugendliche missbraucht hatten. Dass vertuscht wurde, wo es nur ging. Das sollte sich nun alles ändern – hieß es. Akten wurden Staatsanwaltschaften übergeben und ein Betroffenenbeirat eingerichtet, eine Kanzlei sollte alles unabhängig untersuchen dürfen. Das Erzbistum wollte bis zur Veröffentlichung des Berichts keinerlei Einblick haben.

Aber wie das so ist mit großen Versprechungen: Halten konnte Woelki das alles nicht. Mittlerweile ist klar, dass alle damals übergebenen Akten lediglich verjährte Fälle betrafen, der Betroffenenbeirat zerfällt und fühlt sich instrumentalisiert, die unabhängige Untersuchung war vielleicht gar nicht so unabhängig, wie es ihr Name vermuten ließ. Zwar nahm das Erzbistum dort dem Vernehmen nach tatsächlich keinen Einblick, wie unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe berichtet. Doch in besonders brisanten Fällen wurden Sondergutachten in Auftrag gegeben – und darin schauten die Verantwortlichen dann natürlich doch hinein. Als die Gutachten dann für manche Würdenträger unbequem ausfielen, gab es plötzlich "äußerungsrechtliche Bedenken" hinsichtlich der gesamten Untersuchung. Und mittlerweile verhindern so viele Anwälte und Rechtsexperten im Auftrag des Erzbistums die Veröffentlichung der Studie, dass man leicht den Überblick verliert.

Angeblich soll nun bald eine neue unabhängige Untersuchung erscheinen. Doch der Schaden ist längst angerichtet und kaum wiedergutzumachen. Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus – wäre nicht Corona, würden sie dafür vermutlich Schlange stehen. Zumindest sind die Austrittstermine auf absehbare Zeit ausgebucht. Wenn heute die Deutsche Bischofskonferenz beginnt, wird es also viel zu bereden geben. Und – falls die Herren mutig sind – auch zu entscheiden.


Deutschland hat zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Das soll sich ändern: Heute wollen Kanzlerin Merkel und die Minister Seehofer, Altmaier und Scholz eine Bilanz ihrer Wohnraumoffensive ziehen. Sie selbst sind sehr zufrieden mit sich: "Alle zentralen Beschlüsse des Wohngipfels vom September 2018 sind umgesetzt oder auf den Weg gebracht", lässt die Regierung verkünden, "der Bund fördert sozialen Wohnungsbau und Städtebau mit mehreren Milliarden Euro. Er verkauft Bauland an die Kommunen bis zum Nulltarif. Die Mietpreisbremse wurde verbessert, das Wohngeld erhöht." Ergo: "Wir können eine außergewöhnlich erfolgreiche Bilanz ziehen."

Andere sehen das ganz anders. "Statt einer Wohnraumoffensive hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren Maßnahmen ergriffen, die den Wohnungsmarkt zu zerstören drohen", sagt Kai Warnecke, Präsident des Eigentümerverbands "Haus und Grund". Internationale Fondsgesellschaften verdrängten private Vermieter als Eigentümer, Immobilien würden so zu Anlageobjekten. Auch von der Immobilienwirtschaft kommt Kritik: Das Wohnungsangebot in den Großstädten sei weiterhin knapp, die Preise stiegen, Bauland fehle. Der Deutsche Mieterbund wiederum fordert Bund und Länder auf, viel mehr Geld in den Bau neuer Sozialwohnungen zu stecken: Die fehlten allerorten, und was gebaut werde, sei für viele Menschen unbezahlbar.

Sagen wir es so: Das Thema wird mit Sicherheit auch die nächste Bundesregierung noch intensiv beschäftigen.


Boris Johnson hat es auf der Insel vorgemacht, nun zieht die Bundesregierung nach: Ab heute will eine Corona-Arbeitsgruppe unter der Leitung von Kanzleramtschef Helge Braun einen Plan für weitere Öffnungen erarbeiten. Einen kleinen Frühlingsgruß spendierten gestern schon mal die Südländer Bayern und Baden-Württemberg: Dort sollen Gärtnereien, Gartenmärkte und Blumenläden ab dem 1. März wieder aufmachen dürfen.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Um Flucht und Vertreibung ging es oben. Wie groß das Problem weltweit ist, zeigt der preisgekrönte Film "Human Flow" des chinesischen Künstlers Ai Weiwei.


Senta Berger zählt auch mit 79 Jahren noch zu den größten Publikumslieblingen des Landes. In ihrem neuen Film wird sie mit roher Gewalt konfrontiert. Grund genug, meinem Kollegen Steven Sowa zu verraten, warum sie sich nächtelang Boxkämpfe anschaut.


Kinos, Restaurants und Geschäfte sind geschlossen, Konzerte, Partys und sogar Abende mit Freunden sind verboten: Die Corona-Pandemie verändert nicht nur das Leben jedes Einzelnen, sondern auch unsere Gesellschaft. Der Psychiater Karsten Wolf glaubt, dass das auch positive Folgen haben kann. Im Interview mit meiner Kollegin Sandra Simonsen erklärt er, warum.


Adolf Hitler war Putschist, Diktator, Massenmörder – aber wie wurde er zu dem, der er war? Schon lange versuchen Historiker, seine Kindheit und Jugend zu ergründen, doch es gibt nur wenige Quellen. Jetzt ermöglicht ein Dachbodenfund neue Einblicke in das Wesen seines Vaters Alois. Unser Zeitgeschichteredakteur Marc von Lüpke erklärt Ihnen, was davon zu halten ist.


Lars Feld gilt als wichtige Stimme für den freien Markt, nun muss der Ökonom den einflussreichen Kreis der "Wirtschaftsweisen" verlassen. Damit verschiebt sich das gesamte wirtschaftspolitische Spielfeld in Deutschland, kommentiert mein Kollege Florian Schmidt.


WAS AMÜSIERT MICH?

Sie sind ja herzallerliebst, die lieben Kleinen, aber manchmal wären ein paar Stündchen ohne sie auch nicht übel.

Allen Eltern wünsche ich einen gelassenen Tag. Und allen anderen Verständnis für unsere Lage.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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