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IS-Massaker an Jesiden im Irak: "Meine Nachbarn posierten mit abgeschlagenen Köpfen"


Jeside über IS-Massaker
"Meine Nachbarn posierten mit abgeschlagenen Köpfen"

  • Matti Hartmann
Von Matti Hartmann

09.08.2021Lesedauer: 6 Min.
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Ein IS-Terrorist: Der islamistischen Organisation, die vor allem im Irak und in Syrien wütete, schlossen sich auch viele Extremisten aus Deutschland an.Vergrößern des Bildes
Ein IS-Terrorist: Der islamistischen Organisation, die vor allem im Irak und in Syrien wütete, schlossen sich auch viele Extremisten aus Deutschland an. (Quelle: AGB Photo/imago-images-bilder)

Sedat war fünf Jahre alt, als er zum ersten Mal "Anbeter des Bösen" genannt wurde. 25 Jahre später sah er im Internet Männer mit abgetrennten Köpfen posieren. Einige davon waren ehemalige deutsche Nachbarn, die Angehörige seiner Religionsgemeinschaft ermordeten.

Vor sieben Jahren, im August 2014, überfielen Dschihadisten des selbsternannten "Islamischen Staats" das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden um das Shingal-Gebirge im Nordirak. Die Welt sah entsetzt zu, wie Männer zusammengetrieben und ermordet, Frauen verschleppt, vergewaltigt und versklavt wurden.

Es war ein Genozid mit Ansage und langer Vorgeschichte. In Deutschland saß der Comic-Zeichner Sedat Özgen damals vor seinem Computer, verfolgte wie erstarrt das Blutvergießen, entdeckte alte Bekannte unter den mordenden Kämpfern und erinnerte sich an die Vergangenheit seiner eigenen Familie.

1980er-Jahre: Immer wieder verschwinden Verwandte

Es ist eine typische, jesidische Migrationsgeschichte: Sedat wurde 1984 in der Provinz Batman in der Türkei geboren. 1985 zog seine Familie wie viele andere auch nach Deutschland. Gewalt, Ausgrenzung und systematische Benachteiligung gehörten schon damals zum Alltag der im Grenzgebiet zwischen Türkei, Irak und Syrien lebenden Jesiden, erzählt er:

"Bekannte und Verwandte verschwanden spurlos. Wenn ein Mann in die Stadt ging, um als Tagelöhner zu arbeiten, konnte es sein, dass er nicht zurückkam. Frauen wurden entführt und vergewaltigt. Nicht Tausende auf einen Schlag wie beim IS. Aber immer wieder. Am besten hast du nirgendwo erwähnt, dass du Jeside bist."

Flucht ins Siegerland, He-Man und Alltagsrassismus

Die Familie ergriff die Flucht. Sedats Vater hatte bereits in den Jahren zuvor mehrfach in Deutschland gearbeitet, alle Jobs angenommen, die er als Gastarbeiter bekommen konnte. Jetzt nahm er Frau und Kinder mit, um ihnen Sicherheit und Bildung bieten zu können. Zuerst nach Goch am Niederrhein, dann nach Kreuztal im Siegerland. Sedat erinnert sich an eine relativ normale Kindheit und Jugend.

"Wir haben Fußball gespielt oder mit He-Man-Figuren. Ich hatte deutsche, italienische, türkische und arabische Freunde. Ich glaube, ich bin nicht viel anders aufgewachsen als die meisten deutschen Kinder, nur dass mein Umfeld etwas diverser war. Und ich habe als Kind schon gemerkt, dass ich als Ausländer oft ein Außenseiter bin. Der Rassismus war in den 80er- und 90er-Jahren noch ausgeprägter."

Die Jesiden sind Monotheisten ohne heilige Schrift, die Wurzeln der Religion reichen bis circa 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurück. Sie glauben an Wiedergeburt und Seelenwanderung, lehnen die Vorstellung von einem Teufel ab, da Gott in seiner Allmacht keinen Widersacher haben könne. Sie glauben, dass jeder gute Mensch in den Himmel kommt – egal, ob er Jeside ist oder einer anderen Religion angehört.

"Ich dachte, jeder glaubt an Gott und fertig"

Von den Konflikten in seiner alten Heimat wusste Sedat lange nichts. Erst als er fünf Jahre alt war und ihn auf einmal ein Spielkamerad beleidigte, wurde ihm überhaupt bewusst, dass er Jeside ist. Ein Junge mit kurdischen Eltern hatte ihn "Anbeter des Bösen" genannt.

Sedat: "Der war vielleicht ein Jahr älter als ich. Ich wusste gar nicht, was der meint. Ich kannte nicht mal den Unterschied zwischen Muslimen, Jesiden oder Christen. Ich dachte, jeder glaubt an Gott und fertig. Auch später habe ich von arabischen Kindern immer wieder gehört: 'Du bist ein Ungläubiger, ihr seid Schmutz.' Dann habe ich gedacht, das sind doch meine Freunde, warum sagen die so etwas? Wir sind ja alle zusammen aufgewachsen. Wir waren Grundschulkinder."

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Im Schnelldurchlauf: Zwei aus der Not geborene Erfolgsgeschichten

Sedat kam auf die Gesamtschule, dann aufs Gymnasium. Abitur, Designstudium mit Schwerpunkt Illustration, Abschluss als Jüngster seines Jahrgangs. Sedat jobbte eine Weile, fand aber keine gute Arbeit und baute sich eine Existenz als Selbstständiger auf. Erste Aufträge als Comiczeichner und Illustrator flatterten herein, inzwischen ist er gut im Geschäft. Auch sein Vater machte sich selbstständig: Es sind zwei aus der Not geborene Erfolgsgeschichten.

"Mein Vater arbeitete in verschiedenen Berufen, meistens auf dem Bau. Dort hat er sich mehrfach die Leiste gebrochen. Als er 50 war, bekam er nach einem Krankenurlaub direkt die Kündigung", erzählt Sedat.

"In seinem Alter kriegst du ja normalerweise keine Jobs mehr, aber er hatte Glück: Das Arbeitsamt bot ihm an, dass er den Meister als Stuckateur macht. Das traute er sich eigentlich gar nicht zu, aber es hat geklappt. Jetzt ist er seit zehn Jahren selbstständig."

2007: Der Terror kehrt zurück

Noch als Student zeichnete Sedat einen Comic über die Jesidenverfolgung, das war 2007. Mit Förderung vom Land Niedersachsen und unter Koordination der Stelle für Jesidische Angelegenheiten ist er gerade erst wieder aufgelegt worden. Denn er ist aktueller, als Sedats Professor sich damals vorstellen konnte.

"Während ich an dem Comic arbeitete, hat mein Professor gesagt: 'Das sind so verrückte Geschichten, aber so was kann ja heute nicht mehr passieren.' Und dann, zwei Monate später, am 14. August 2007, töteten Attentäter bei Bombenanschlägen 800 Menschen in zwei jesidischen Dörfern im Irak. Zuvor hatten muslimische Prediger gehetzt und Fatwas ausgerufen. Es gab Pogrome und Lynchmorde."

2014: Der IS kündigt ein "Opferfest" in Shingal an

Im Juni 2014 rief IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi das Kalifat aus und machte sich selbst zum Kalifen. Die Blitzoffensive auf Mossul startete, die irakische Armee floh. Der IS rückte vor, nahm schnell große Gebiete ein und erbeutete moderne Waffen.

"Kurz vor dem Einmarsch in Shingal haben sie verkündet, dass sie dort ihr Opferfest feiern werden. Beim Opferfest wird normalerweise ein Lamm geschlachtet. Die haben damit gemeint, dass sie Jesiden schlachten werden. Es war klar, was passiert. Nur hat es den Rest der Welt nicht interessiert."

Die "Lohberger Brigade" prahlt mit Enthaupteten

Die Dschihadisten rasten mit Jeeps in die Dörfer und töteten gnadenlos. Tausende Opfer verscharrten sie in Massengräbern. Sie entführten Frauen, ließen Kinder angekettet in der Hitze verdursten. Mit dabei waren auch Dutzende aus Deutschland eingereiste Angreifer.

"Auf YouTube habe ich einen deutschen Jungen gesehen, er saß da mit Kalaschnikow und forderte muslimische Jugendliche aus Deutschland auf, sich dem Dschihad anzuschließen", sagt Sedat. Dieser Junge sei bekannt geworden als Philip B. von der 'Lohberger Brigade', einer Gruppe von Islamisten aus dem Dinslakener Stadtteil Lohberg.

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"Ich kannte ihn, weil ich hier in Deutschland zufällig eine Zeit über ihm wohnte. Wie ein typischer Konvertit trug er langen Bart und Kaftan, war immer ein bisschen strenger als gebürtige Muslime. Später habe ich auch Bilder seiner Freunde gesehen. Dieselben Leute, die in dem Haus, in dem ich wohnte, ein- und ausgingen. Leute, die ständig an mir vorbeigelaufen sind. Meine Nachbarn – und jetzt posierten sie mit abgeschlagenen Köpfen."

"Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist"

Philip B. starb am 5. August 2014 im Alter von 26 Jahren. Als Selbstmordattentäter riss er 20 Peschmerga mit in den Tod. Und noch ein weiterer Bekannter von Sedat kam als Terrorist in den Reihen des IS um.

"Der Bruder von einem ehemaligen Freund. Er wusste, dass ich Jeside bin, aber es gab nie Probleme. Ich habe ihn als lieben Menschen kennengelernt, als modern. Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist.", sagt Sedat.

"Irgendwie ist aus jemandem, der in die Disco gegangen ist, der gefeiert hat, ein Islamist geworden. Und dann taucht er da in einem Propagandavideo auf und steht mit schwerer Munitionsweste im Irak. Später ist er bei Kampfhandlungen gestorben."

Woher kommen Hass und Radikalisierung?

Sedat ist sich sicher, dass Islamisten in Deutschland zu viel Freiraum haben, auch nachdem der IS in Syrien und dem Irak geschlagen wurde. In Hinterhofmoscheen und Vereinen werde weiter gehetzt.

"Man kriegt das bei vielen mit, die sogenannte Turbo-Islamisierung, wo Leute innerhalb von sechs Monaten von einem normalen Menschen zum Radikalen werden. Anfällig sind Menschen mit hoher emotionaler Bindung zu ihrer Religion. Und dann kommt jemand, bietet Anschluss und sagt: 'Du lebst gar nicht nach den wirklichen Regeln deiner Religion.'"

150 IS-Rückkehrer – die meisten sind in Freiheit

Dem Bundeskriminalamt liegen Erkenntnisse über rund 150 IS-Rückkehrer vor, die wieder in Deutschland sind. Die meisten von ihnen befinden sich auf freiem Fuß, bei einigen steht die Haftentlassung kurz bevor. Mehr als die Hälfte gilt nach wie vor als "Gefährder", trotz aller Maßnahmen zur Deradikalisierung. Sedat nennt sie "tickende Zeitbomben".

"Leute, die achtjährige Mädchen so bestialisch vergewaltigt haben, dass sie nie Kinder kriegen können und den Rest ihres Lebens seelisch zerstört sind. Und dann kommen diese Leute aus dem Kalifat zurück, kommen mit Bewährung oder wenigen Jahren Gefängnis davon."

Gerade erst ist die Witwe des Berliner Rappers Denis Cuspert zu vier Jahren verurteilt worden, weil sie sich einer terroristischen Organisation angeschlossen und Frauen versklavt hat. Sedat hält das für zu wenig. "Nur vier Jahre, das ist ein Witz. Solche Leute gehören nicht vor ein normales Gericht, die gehören vor ein Kriegsverbrechertribunal."

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2021: Den Teufelskreis durchbrechen

Sieben Jahre nach dem Angriff auf Shingal sind immer noch 2.500 Jesidinnen vermisst, viele wurden vermutlich verkauft, nach Jordanien, Saudi-Arabien, Katar, Kuwait und in andere Länder. Hunderttausende Menschen vegetieren in Flüchtlingslagern um Dohuk im Nordirak. In Deutschland, wo rund 200.000 Jesiden leben, kursieren immer noch Vorurteile.

"Erst im Frühjahr hat der Berliner Clanchef Arafat Abou-Chaker bei einem Clubhouse-Talk Jesiden als Feueranbeter beschimpft. Das hat hohe Wellen geschlagen", sagt Sedat. "Jemand, der selber behauptet, marginalisiert zu werden, drängt eine andere Minderheit an den Rand."

Ihm gehe es darum, dass man zu einem Dialog finde. "Wir Jesiden sind in Deutschland angekommen. Wir sind Künstler, Ärzte, Journalisten. Wir können für uns sprechen, und wir müssen den Kreis der Beleidigungen durchbrechen. Ich als Jeside bin nicht anders als du als Deutscher oder als ein Moslem, als Jude, Buddhist oder Atheist. Wir haben andere Traditionen. Aber das muss ja kein antagonistisches Verhältnis sein. Wir können unterschiedlich sein – und trotzdem gemeinsam leben."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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