Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Jetzt wird es heikel

Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
wenn Friedrich Merz heute Abend (deutscher Zeit) auf einem der gelben Sessel im Weißen Haus neben Donald Trump sitzen wird, dürfte er vor allem ein Angstszenario im Kopf haben: Wird Trump ihn vorführen? Und falls das geschieht – wie sollte er darauf reagieren?
Eine Provokation des US-Präsidenten im Oval Office vor laufender Kamera brächte den deutschen Kanzler in eine missliche Lage. Die Erinnerungen an den Selenskyj-Eklat sind noch frisch. Merz müsste sich behaupten, ohne den leicht reizbaren Trump zu verärgern und eine Eskalation zu riskieren.
Embed
Andererseits: Ein Kniefall vor Trump wäre keine Option, denn auch das deutsche Publikum verfolgt den Auftritt. Man kann aus deutscher Sicht also nur hoffen, dass Trump einen guten Tag hat und seine Getreuen keinen Hinterhalt planen.
Dass sich ein deutscher Kanzler überhaupt mit solchen Nebensächlichkeiten beschäftigen muss, gehört zu den Absurditäten der aktuellen Weltpolitik. Trumps Verhaltensauffälligkeiten treiben mittlerweile solche Blüten, dass selbst engste Mitarbeiter Probleme haben, den Staatschef bei Laune zu halten. So sucht Trumps Geheimdienstchefin derzeit offenbar nach "kreativen Wegen", um dem schnell gelangweilten Präsidenten die täglichen Sicherheits-Briefings schmackhaft zu machen (in der engeren Auswahl: animierte Karten mit Explosionen).
Doch die Dinge liegen nun mal, wie sie sind. Trump ist ein hochemotionaler Politiker, der leicht aus der Fassung gerät. Das kann man kritisieren, beklagen oder sich darüber lustig machen – als deutscher Kanzler muss man damit umgehen und es zu seinem Vorteil nutzen. Es mag einem einiges abverlangen, einem wankelmütigen Möchtegern-Autokraten den Bauch zu pinseln, aber es steht viel auf dem Spiel – für Deutschland und Europa.
Staatenführer, die sich von Demokratie, Rechtsstaat und moralischen Standards nicht einschränken lassen, haben das nicht nur längst begriffen, sondern nutzen das schamlos aus: die katarische Herrscherfamilie etwa, die Trump ein 400-Millionen-Dollar-Flugzeug schenken will. Oder der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman, der für Trump ein pompöses Begrüßungsspektakel auffährt. Oder Syriens Übergangspräsident und Chef-Islamist Al-Scharaa, der kürzlich vorschlug, einen Trump Tower in Damaskus zu erbauen. Dem US-Präsidenten gefällt's.
So durchschaubar diese Anbiederungsversuche auch sind – sie zeigen offenbar Wirkung. Auch den europäischen Staats- und Regierungschefs dämmert das langsam. Statt sich wie in Trumps erster Amtszeit (2016–2020) über dessen Ausfälle zu echauffieren und Distanz zu wahren, arrangiert man sich nun mit der neuen Wirklichkeit. Nato-Generalsekretär Mark Rutte folgt dieser Devise bis zur Selbstaufgabe und macht aus dem Nato-Gipfel Ende Juni eine Art Gala-Veranstaltung von Trumps Gnaden.
Wenn sich gestandene Politiker verdrehen, um Trump zu gefallen, ist das für Außenstehende nur schwer erträglich. Aber es ist klug. Denn so gefährlich Trumps Politik auch sein mag, so zusammenhangslos er manchmal daherredet: Man sollte Trumps Intelligenz nicht unterschätzen. Und wie viele intelligente Menschen leidet auch Trump unter einer besonderen Krankheit: übermäßige Eitelkeit. Je nach Schwere der Ausprägung kann dies im politischen Raum von Vorteil sein – oder eine Schwachstelle. Schwachstellen lassen sich ausbeuten, man muss nur wissen, wie.
Und so suchte auch das Kanzleramt in den vergangenen Wochen nach Kniffen, um Trump weichzukochen. Merz soll sich Tipps geholt haben vom finnischen Präsidenten Alexander Stubb, der Trump neulich in Florida zum Golfen traf, sowie vom südafrikanischen Staatschef Cyril Ramaphosa, der jüngst ebenfalls im Oval Office in einen Hinterhalt geriet, aber auf Trumps Provokation mit Gelassenheit reagierte.
Trump, das Enigma – wer es entschlüsselt, darf an die großen Fleischtöpfe ran, die sich besonders loyalen Freunden der USA auftun: einen möglichst freien Zugang zum stärksten Wirtschaftsmarkt der Erde (BIP: 25 Billionen Euro) und eine Militärmacht, die schwächere Staaten – wie Deutschland – über Jahrzehnte sicherheitspolitisch ausgehalten hat.
Europa will weiter unter dem Schutzschirm der amerikanischen Supermacht stehen und von ihr auch wirtschaftlich profitieren. Die wichtigsten Themen, die der deutsche Kanzler mit Trump besprechen will, sind daher die preistreibenden US-Zölle, der Ukraine-Krieg und die Zukunft der Nato im Angesicht der russischen Bedrohung.
Ob sich Merz mit Schmeicheleien, Süßholzraspeln und ein wenig Showmanship Trumps Gunst erschleichen kann, ist jedoch zweifelhaft. Die Selbstbezogenheit des US-Präsidenten mag ihn anfällig für Gefälligkeiten machen, aber politisch hat Trump klare Ziele. Und die weichen von Merz' Vorstellungen grundlegend ab.
Trump und seine Leute machen keinen Hehl aus ihrer Verachtung für Europa. Der Trumpismus will einen anderen Staat, ein anderes Amerika, das ein liberales Europa nicht als Verbündeten, sondern als Rivalen sieht. Trump bricht mit rechtsstaatlichen Prinzipien, Leute in seinem Umfeld flirten offen mit autoritären Systemen. Die Disruption der "America First"-Bewegung ist kein Unfall, sondern hat Methode.
Und auch die Abnabelung Amerikas von Europa ist keine Laune des Präsidenten, sondern folgt einer strategischen Neuorientierung der US-Politik, die lange vor Trump begonnen hat: Schon seit Obama versuchen die USA, ihren geostrategischen Schwerpunkt weg von Europa und in den Pazifik zu verlagern. China gilt als systemischer Hauptrivale der näheren Zukunft, die US-Regierung will daher ihre Kräfte und Ressourcen primär auf Asien konzentrieren.
Deutschland ist in den Augen der "America First"-Fraktion also nicht die erste Sorge, auch nicht die fünfte. Merz' Ausgangslage ist daher denkbar schwierig, viel bieten kann er Trump nicht. Aus US-Sicht ist Deutschland ohnehin nur ein Land unter vielen in Europa. Merz wird von Trump wohl nur dann ernst genommen, wenn er sich glaubhaft als führende Stimme Europas präsentiert (eine Position, die er sich erst erarbeiten müsste) und klarmacht, dass auch Brüssel noch einige Asse im Ärmel hat. Zum Beispiel Gegenzölle, die die US-Wirtschaft empfindlich treffen könnten.
Klug war es in dem Zusammenhang, dass Außenminister Johann Wadephul (CDU) vor Kurzem auf die Forderung einschwenkte, künftig fünf Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung und Infrastruktur zu stecken. Auch das 500 Milliarden Euro schwere Sondervermögen der Bundesregierung, das weitere Investitionen ermöglicht, signalisiert Tatkraft.
Eigene Stärke aufbauen, in Vorleistung gehen, Macht projizieren – die Botschaft an Washington lautet: Es tut sich was im alten Europa. Aber auch das dürfte nicht ausreichen, um Trump zurück ins europäische Lager zu ziehen. Im besten Fall erkauft Merz den Europäern etwas Zeit, um sich an die neue Weltlage anzupassen.
Viel gewinnen kann Merz also nicht. Aber er hat viel zu verlieren. Die Krise im deutsch-amerikanischen Verhältnis könnte sich vertiefen, falls etwas schiefgeht oder Unvorhergesehenes passiert.
Als Erfolg dürfte der Besuch bereits durchgehen, wenn Trump Merz nicht vor laufender Kamera demütigt. Wenn es gut läuft, hat "Donald" im Oval Office ein paar warme Worte für seinen Duzfreund "Friedrich" übrig. Merz dürfte sich im Gegenzug in den geplanten Interviews mit CNN und Fox News ausgiebig bei Trump für das jahrzehntelange US-Engagement in Europa bedanken.
Wenn es sehr gut läuft – man wird ja noch hoffen dürfen – gelingt Merz ein kleiner Coup: ein Abrüsten im Zollkrieg gegen Europa oder eine Zustimmung Trumps zum Sanktionspaket gegen Russland, das der US-Senat gerade vorbereitet. Aber wahrscheinlich ist das nicht. Die Vorzeichen standen im Vorfeld eher schlecht.
Erst am Mittwoch, also einen Tag vor Merz' Besuch, verdoppelte Trump die Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium – die nächste Klatsche für die EU. Weitere Zölle drohen im Juli. Und Außenminister Marco Rubio, der seinem deutschen Amtskollegen Wadephul neulich gerade mal 15 Minuten Audienz gewährte, drohte Behörden und Privatpersonen mit Visarestriktionen, die sich an der "Zensur von Amerikanern beteiligt" hätten. Gemeint war vor allem Europa.
Man sollte die Erwartungen an den Merz-Besuch am besten weit nach unten schrauben. Umso erfreulicher ist es, wenn es doch zu einer Überraschung käme.
Was steht an?
MPK im Zeichen des Boosters: Um 11 Uhr treffen sich die Regierungschefs der Länder zur Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), unter anderem um die Steuerpläne der schwarz-roten Bundesregierung zu beraten. Tags zuvor hatte das Kabinett den Gesetzentwurf von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) beschlossen, der im Kern einen "Investitionsbooster" vorsieht: Firmen sollen die nächsten drei Jahre neu beschaffte Ausrüstungsgüter um bis zu 30 Prozent jährlich abschreiben können (hier lesen Sie mehr über das Entlastungspaket), außerdem soll die Körperschaftssteuer ab 2028 sinken.
Länder und Kommunen fürchten jedoch eine Nebenwirkung des "Boosters": Durch die Steuersenkung fehlen Bund, Ländern und Gemeinden bis 2029 rund 46 Milliarden Euro. Auch SPD-Regierungschefs wie die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger erhöhten zuletzt den Druck auf die Bundesregierung. Die Hoffnung ist: Der Bund bezahlt's.
Maritime Machtprojektion in der Ostsee: Das Manöver Baltic Operations (Baltops) startet am Donnerstag, und zwar erstmals von Rostock aus. 30 internationale Kriegsschiffe und Tausende Soldaten werden in Warnemünde erwartet. Deutschland ist mit sieben Schiffen vertreten. Das größte ist der Einsatzgruppenversorger "Frankfurt am Main", der bereits beim "Indo-Pacific Deployment 2024" dabei war und dessen Besatzung dort wichtige Erfahrungen sammelte. Bis zum 20. Juni dauert die Übung, Wassersportler sind angehalten, den nötigen Abstand zu wahren.
Lesetipps
Wie hat sich Friedrich Merz auf die Trump-Visite vorbereitet und welche Argumente hat der Kanzler im Gepäck, um Trump zu überzeugen? Meine Kollegen Johannes Bebermeier und Bastian Brauns haben sich im deutschen Kanzleramt und in der US-Hauptstadt umgehört.
In der Bestechungsaffäre um den AfD-Bundestagsabgeordneten Maximilian Krah ist die Polizei in zwei Bundesländern ausgerückt. Von Interesse für die Ermittler ist auch ein Auto im Wert von mindestens 40.000 Euro, schreiben meine Kollegen Annika Leister und Jonas Mueller-Töwe.
In der ukrainischen Region Sumy wächst die Sorge vor einer russischen Offensive. Um Vorstöße aufzuhalten, setzen die Ukrainer womöglich kostbare Waffen aufs Spiel, schreibt mein Kollege Simon Cleven.
Ohrenschmaus
Passend zur politischen Disruption à la Trump etwas Disruption für die Ohren: frickelig-experimenteller Rock aus Mexiko, mit dem famosen At-The-Drive-In-Duo Cedric Bixler und Omar Rodriguez. Laut aufdrehen.
Zum Schluss
Nach dem Wumms ist vor dem Booster.
Ich wünsche Ihnen einen disruptiven Donnerstag.
Ihr Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro
Twitter: @DanielMuetzel
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.