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Ukraine-Krieg: "Geht den Bach runter" – Gewinnt Putin? Experte schlägt Alarm


Krieg in der Ukraine
"Es geht den Bach runter"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 13.12.2023Lesedauer: 7 Min.
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Wladimir Putin: Der russische Präsident präsentiert sich siegessicher.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident präsentiert sich siegessicher. (Quelle: SPUTNIK)

Die Ukraine steht vor einem schwierigen Kriegswinter. Es wächst die Sorge, dass die westliche Unterstützung für die ukrainische Armee wegbrechen könnte. Gewinnt Wladimir Putin am Ende doch?

Es wird ein schwerer Kriegswinter für die Ukraine. Die russische Armee ist gegenwärtig in der Offensive, verzeichnet leichte Geländegewinne im Osten. Vor allem um die Stadt Awdijiwka im Oblast Donezk wird erbittert gekämpft, und Russland kommt unter immensen Verlusten nur sehr langsam vorwärts. Beide Seiten zahlen auch weiterhin einen hohen Blutzoll in Wladimir Putins Angriffskrieg.

Auf den ersten Blick wirkt der Ukraine-Krieg festgefahren, die Frontverläufe verändern sich nur noch geringfügig. Aber der Eindruck täuscht. Für die ukrainischen Verteidiger geht es darum, weiterhin ausreichend militärisches Gerät und Munition zu bekommen, um noch länger als sechs Monate durchhalten zu können. Der Militär- und Russlandexperte Gustav Gressel schlägt im Interview nun Alarm.

t-online: Herr Gressel. Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres stehen die Zeichen für die Ukraine aktuell schlecht. Sehen Sie den Konflikt in eine entscheidende Richtung steuern?

Gustav Gressel: Ja. Es geht tatsächlich den Bach runter.

Inwiefern?

Wladimir Putin ist momentan dabei, seinen Angriffskrieg zu gewinnen.

Das müssen Sie erklären. Die ukrainische Armee scheint zwar in der Defensive zu sein, aber die Frontverläufe verschieben sich nicht großartig zugunsten Russlands.

Das Problem für die Ukraine ist aktuell nicht auf den Schlachtkarten ersichtlich. Sie befindet sich in einem Abnutzungskrieg mit Russland, und für diesen Abwehrkampf braucht es mehr Munition und Material. Die aktuelle russische Offensive ist nicht gut vorbereitet, und Russland verliert enorm viel Kriegsgerät. Aber die Ukraine verbraucht auch Munition, und wir konnten in den vergangenen Wochen sehen, dass sie das Material für Gegenangriffe nicht hat.

Gustav Gressel

ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Kann das nicht wieder nur eine temporäre Phase in diesem Krieg sein? Schließlich könnte der Westen nachliefern.

Es war klar, dass die Phase nach der Gegenoffensive in diesem Jahr schwierig für die Ukraine werden würde, weil es Zeit und vor allem Material bräuchte, damit sie erneut angriffsfähig wird. Die Alarmglocken läuten schon lange, aber im Westen reagiert man darauf nicht.

Haben die westlichen Unterstützer der Ukraine die Hoffnung auf eine russische Niederlage verloren?

Zumindest waren die Erwartungen an die ukrainische Gegenoffensive viel zu hoch. Hinzukommt, dass man die Realität eines langen Krieges noch immer nicht wahrhaben möchte. Es wurde darüber geredet, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen kann. Einige diskutierten über Verhandlungen, über einen Waffenstillstand. Das ist und war Unsinn. Währenddessen hat Putin seine Kriegsproduktion hochgefahren.

Und das haben die Europäer eben nicht getan.

Genau, wir haben uns mit anderen Dingen befasst. Putin hat sich auf einen langen Krieg eingestellt. Er hat entsprechende Maßnahmen im Sommer vergangenen Jahres ergriffen, und seine Rüstungsproduktion ist mittlerweile in der Umsetzungsphase. In Europa hat sich dagegen nichts getan. Es wurde laut getrommelt, aber nichts ist passiert.

Was war aus Perspektive der Ukraine eigentlich der Plan?

Die Ukraine wollte im Jahr 2024 in die Defensive gehen und die Lehren aus der gescheiterten Gegenoffensive im vergangenen Jahr ziehen, um sich dann taktisch mit allen möglichen Waffensystemen neu aufzustellen. Dafür bräuchten sie aber Nachschub an Munition und Gerät.

Das klingt plausibel. Haben Sie das Gefühl, dass die westliche Entschlossenheit immer weiter schwindet?

Der Westen scheint die Realität im Ukraine-Krieg nicht zu sehen. Es gibt in Europa nicht den Willen, um ausreichend Munition und Fahrzeuge zu produzieren oder ukrainisches Gerät instand zu setzen. So können wir die Ukraine nicht durch einen langen Krieg bringen. Es könnte sein, dass auch Deutschland irgendwann aufwacht. Aber dann könnte es schon zu spät sein, denn rüstungsindustrielle Maßnahmen brauchen Vorlaufzeit, und es ist bereits fünf nach zwölf. Die Zeit hat die Ukraine nicht mehr. Wenn sich nun auch noch die Amerikaner mit ihrer Unterstützung weiter zurückziehen würden, dann wird es wirklich bitter.

Dementsprechend wäre eine Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus für die Ukraine eine Katastrophe.

Wäre es das?

Für Trump ist die Unterstützung der Ukraine immerhin Geldverschwendung.

Richtig. Aber schon jetzt herrscht ohne Trump Chaos in den USA. Die Republikaner blockieren die Ukraine-Hilfen, um die US-Regierung zu erpressen und um US-Präsident Joe Biden scheitern zu sehen.

Müssen die Europäer mehr Verantwortung übernehmen?

Die USA waren von Anfang an zögerlich. Die US-Administration hat den Konflikt mit China im Blick und will sich nicht in vollem Maße im Ukraine-Krieg engagieren. Sie sind zwar der größte Unterstützer der Ukraine, aber die Amerikaner haben in Osteuropa nur begrenzte Interessen. Für uns Europäer geht es um mehr, es ist unser Kontinent. Trotzdem scheint der europäische Teil des Westens nicht gewillt, einen möglichen Ausfall der USA zu kompensieren.

Biden hat nun immerhin den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Washington eingeladen. Würde es Kiew helfen, wenn die USA den Ausbau der Rüstungsproduktion in der Ukraine förderte?

Für die Ukraine macht das Sinn. Eine Reaktivierung der Rüstungsindustrie würde bedeuten, dass man nicht mehr so abhängig vom Westen ist. Aber damit enden nicht die Probleme: Technik oder Maschinen müssten von den USA oder auch von Deutschland bereitgestellt werden. Außerdem braucht der Aufbau der Produktionsstandorte Zeit, die die Ukraine sich erst erkämpfen muss.

Dementsprechend würde das der Ukraine kurzfristig nicht helfen?

Nein. In der Ukraine werden gepanzerte Fahrzeuge westlicher Bauart frühestens 2025 vom Band laufen und ab 2026 in größeren Mengen verfügbar sein. Bis dahin braucht es Nachschub aus dem Westen. Bei Munition, insbesondere Artilleriemunition, Fliegerabwehrlenkwaffen und Bewaffnung für Kampfflugzeuge wird man quantitativ und qualitativ vom Westen abhängig bleiben.

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Versagt der Westen genau an diesem Punkt?

Auf jeden Fall. Der Krieg hat bisher gezeigt, dass die Ukraine schon viel weiter wäre, wenn sie vom Westen Material bekommen hätte, um russische Schwächephasen ausnutzen zu können. Wir haben über jede Waffenlieferung gezankt und darüber diskutiert, ob wir einen ganzen Lastwagen schicken oder nur einen halben. Das hat Putin in die Karten gespielt, und das fällt uns nun auf den Kopf.

Warum haben wir aus den Fehlern nicht gelernt?

Von Anfang an hat ein großer Teil des Westens an die Illusion einer Verhandlungslösung geglaubt. Aber die wird nicht kommen. Putin sucht die Entscheidung auf dem Schlachtfeld, er will eine endgültige Lösung für die Ukraine. Er und seine Anhänger sagen das immer wieder. Ein Teilfrieden kommt in Putins Denken nicht vor, aber wir nehmen das nicht ernst.

Putin scheint die Schwächen des Westens gut zu kennen.

Er reibt sich wahrscheinlich die Hände, weil er zumindest auf innenpolitische Konflikte in den USA gehofft hat. Eingepreist hat der russische Präsident dagegen, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán als sein ideologischer Verbündeter innerhalb der Europäischen Union auftritt.

Putins Versuche, den Westen zu spalten, scheinen aber auch in Deutschland zu funktionieren.

Meinen Sie?

Zum Beispiel durch Putins atomare Drohungen.

Es war von Anfang an klar, dass Putin diese Karte spielen wird. Deutschland war nur am wenigsten darauf vorbereitet, weil man nach dem Ende des Kalten Krieges intellektuell nuklear komplett abgerüstet hatte und weil die Gesellschaft nicht zwischen Drohung und wirklicher Absicht unterscheiden kann. Das hat Deutschland besonders getroffen.

Immerhin sollte aber eine Zeitenwende kommen.

Die Zeitenwende ist ein Missverständnis. Kanzler Scholz war zu Beginn des Krieges überzeugt, die Ukraine würde in kurzer Zeit fallen und Deutschland wäre dann zurück in einem geteilten Europa und einem Kalten Krieg. Seine Zeitenwende-Rede im Bundestag zielte darauf ab, dass Deutschland nun wieder ein guter Nato-Alliierter sein wird, der seinen Bündnisverpflichtungen nachkommt.

Und heute?

Jetzt ist die Ukraine aber nicht untergegangen, und einen langen, heißen Krieg gab es in Europa seit 1945 nicht mehr. Da fehlen dem Kanzler Plan und Orientierung. Daher geht es jetzt weder mit der Wehrertüchtigung in Deutschland noch mit der Ukraine wirklich voran. Soll Kiew gewinnen? Soll die Ukraine in die Nato? Wie geht es nach dem Sondervermögen weiter? Dort hält sich Deutschland sehr bedeckt, und insgeheim hofft man wahrscheinlich auf die nächste Friedensdividende nach diesem Krieg.

Aber die wird nicht kommen, wenn Putin den Krieg gewinnt.

Nein, wird sie nicht, im Gegenteil: Dann wird es auch für Deutschland richtig teuer. Mehr Geflüchtete aus der Ukraine und ein Russland als Nachbar in Europa, das mit extremer Aggressivität seine Ziele in der Ukraine erreicht hat. Das wird keine lustige Veranstaltung. Aber mit Scholz fahren wir weiterhin im Schlafwagen durch diesen Konflikt.

Was ist denn für Putin ein Sieg?

Die Kapitulation der Ukraine, er ist von seinen Kriegszielen nie abgerückt. Putin hält Reden, dass die Vernichtung der Ukraine und ihre Einverleibung ins russische Imperium die Voraussetzung dafür ist, dass Russland wieder die dominierende Macht in Europa ist. Warum wollen wir das nicht verstehen? Putin will den Sieg und er gibt sich nicht mit 20 Prozent der Ukraine zufrieden. Denn die Wiederherstellung des Sowjet-Reiches sieht er als sein Lebenswerk.

Also wird der Kremlchef nicht irgendwann einen gesichtswahrenden Ausweg nehmen?

Nein. Diese Hoffnung im Westen ist Blödsinn.

Trotzdem wirkt das russische Militär seit Kriegsbeginn massiv überfordert.

Natürlich. Für Russland lief dieser Krieg von Anfang an schlecht. Aber schlecht ist für Russland oft gut genug. Der Kreml lernt momentan, dass er das nur irgendwie durchdrücken muss, um am Ende erfolgreich zu sein. Das ist leider die Wahrheit.

Selbst wenn Russland den Krieg militärisch gewinnen sollte, würde der Konflikt nicht enden. Die Ukrainer würden im Untergrund kämpfen.

Das stimmt. Russland hatte von Anfang an dieses Problem, das man von Tag eins mit Gewalt und Repression zu lösen sucht. Die Erschießungslisten werden immer länger. Zuerst standen nur Leute, die für einen unabhängigen ukrainischen Staat kämpfen, darauf. Jetzt verschwinden in den besetzten Gebieten alle, die sich nicht klar für Russland positionieren. Wer sich nicht fügt, wird erschossen, der Rest umerzogen.

Blicken wir abschließend auf die ukrainische Seite: Sehen Sie dort den Widerstandwillen der Ukraine im Angesicht der gegenwärtigen Lage bröckeln?

Der Widerstandswille bröckelt nicht. Die Ukraine hat keine andere Wahl, als weiterzukämpfen. Aber nach der gescheiterten Gegenoffensive wächst auch die Kritik an der ukrainischen Führung, die Nerven liegen blank. Natürlich trägt auch Selenskyj eine Mitschuld an manchen Miseren, weil er sich oft in die Belange des Generalstabs eingemischt hat. Politisch loyale Generäle und deren Frontabschnitte wurden mehr mit Nachschub versorgt. Das führte zu Unmut, ist aber nicht allein für den Misserfolg verantwortlich.

Sondern?

Dieser Krieg wird nicht durch einen genialen Schlachtplan gewonnen, sondern durch Geld und Material. Ziel der Gegenoffensive war es nie, den Krieg zu entscheiden. Sondern die Ukraine hat darauf gehofft, eine günstigere Frontlinie zu haben, um Munition und Kräfte zu sparen und mehr Tiefe und Energieversorger für den Kriegswinter zu haben. Im Westen hat man gehofft, sie bringt Putin an den Verhandlungstisch. Das wäre auch im Falle einer erfolgreichen Offensive nicht geschehen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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