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Empty-Desk-Syndrom: Wenn der Ruhestand zu Depressionen führt


Empty-Desk-Syndrom
Wenn der Ruhestand zum Albtraum wird

Von Julia-Eva Sima

11.10.2020Lesedauer: 4 Min.
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Älterer Mann (Symbolbild): Besonders Männer laufen Gefahr, ihren Ruhestand nicht genießen zu können – Grund kann das "Empty-Desk-Syndrom" sein. (Quelle: Westend61/imago-images-bilder)

Die Rente ist nicht für jeden ehemaligen Arbeitnehmer das Paradies auf Erden. Im Gegenteil: Einige frühere Beschäftigte stürzt der Ruhestand in eine tiefe Krise. Die Diagnose: das Empty-Desk-Syndrom.

Morgens ausschlafen, mittags spazieren gehen und abends endlich wieder Zeit haben, ein gutes Buch zu lesen: So stellen sich viele Arbeitnehmer ihren Ruhestand vor.

Was für zahlreiche Menschen verlockend klingt, ist für andere ein Graus. Statt sich über die neu gewonnene Freiheit zu freuen, fallen sie mit Beginn des Rentenalters in ein tiefes Loch. "Empty-Desk-Syndrom", zu Deutsch die "Angst vor dem leeren Schreibtisch", nennt es sich, wenn der Ausstieg aus dem Berufsleben zur Qual wird.

Der Begriff geht auf den Psychologen Otto L. Quadbeck zurück, der das Syndrom umfassend erforschte. Er arbeitete früher als Bankdirektor und studierte erst in seinem Ruhestand Psychologie.

Bei der Namensgebung ließ sich Quadbeck vom sogenannten "Empty-Nest-Syndrom" inspirieren. Damit ist ein Gefühl der Leere bei Eltern gemeint, wenn die Kinder das Haus verlassen. Im klassischen Familienmodell fällt also die Hauptaufgabe der Mutter weg. Sie fühlt sich einsam und traurig.

Empty-Desk-Syndrom betrifft hauptsächlich Männer

Von dem Syndrom könnten Tausende Rentner betroffen sein. Belastbare Zahlen gibt es zwar nicht. Doch lassen sich aus den vorliegenden Zahlen durchaus Schlüsse ziehen: Mehr als 18 Prozent der 65- bis 69-Jährigen haben weiter gearbeitet, wie aus den Zahlen des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2019 hervorgeht.

Der finanzielle Aspekt spielt dabei zwar eine Rolle, ist aber nicht so wichtig wie andere Motive, wie eine repräsentative Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr zuvor zeigt. Ungefähr 90 Prozent der Befragten arbeiten im Rentenalter noch, weil sie den Kontakt zu anderen Menschen suchen, Spaß an ihrer Arbeit haben oder weiterhin eine Aufgabe brauchen.

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Es sind also überwiegend soziale Motive dafür verantwortlich, dass Rentner weiterhin einem Beruf nachgehen und vielleicht so dem Empty-Desk-Syndrom entkommen möchten – auch wenn sie den Namen für das gefürchtete "Rentenloch" gar nicht kennen.

Psychologe Quadbeck geht aufgrund seiner empirischen Untersuchungen sogar davon aus, dass ungefähr jede dritte Führungskraft in der ein oder anderen Weise Symptome des Empty-Desk-Syndroms zeigt.

"Wer nicht so hoch gestiegen ist, kann auch nicht so tief fallen"

Auch ehemalige Beschäftigte, die nicht in einer leitenden Funktion gearbeitet haben, könnten die Folgen spüren, jedoch seien es in dieser Gruppe deutlich weniger. Quadbecks Vermutung: "Wer nicht so hoch gestiegen ist, kann auch nicht so tief fallen."

Das ist laut Karsten Noack, Karrierecoach aus Berlin, auch ein Grund dafür, dass meist Männer unter dem Empty-Desk-Syndrom leiden. Denn Männer bekleiden in Unternehmen häufiger leitende Positionen als Frauen. Gerade einmal 29,4 Prozent der Führungspositionen wurden im Jahr 2019 von Frauen besetzt, gibt das Statistische Bundesamt an.

Silka Strauss, Mediatorin und Coach aus München, hat noch eine weitere Erklärung für dieses Phänomen. "Frauen behalten ihre privaten und sozialen Kontakte und Interessen", sagte sie im Gespräch mit t-online. "Sie ahnen schneller, dass sich im Unternehmen etwas ändert und sind weniger überrascht."

Wenn der Job weg ist, bleibt ein großes Loch

Auch hätten Frauen im herkömmlichen Familienbild viel häufiger als Männer daheim etwas zu tun: Sie kümmern sich öfter um die Kinder, schmeißen den Haushalt, halten soziale Kontakte aufrecht. "Dieser Nebenberuf bleibt ihnen auch im Ruhestand erhalten", so Strauss.

Im Gegensatz zu vielen Männern: Viele – gerade in Führungspositionen – haben sich während ihres Erwerbslebens zu einem guten Teil über den Job definiert. Mit ihm verbanden sie während des Berufslebens Status und soziale Kontakte. Wertschätzung und Anerkennung erfuhren sie zum größten Teil durch ihre Arbeit. Die Folge: Für Hobbys oder Freunde und Bekannte außerhalb des beruflichen Umfelds blieb kaum Zeit.

Fällt der Job mit der Rente weg, bleibt ein großes Loch – und die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Mit Mitte 60 gehören sie zwar noch lange nicht zum alten Eisen, stehen aber plötzlich, zumindest scheinbar, ohne Lebensaufgabe da.

Viele sind überrascht, wie bestimmend Job war

Und noch eins ist typisch für das Empty-Desk-Syndrom: Die Betroffenen können sich vor ihrer Rente nicht vorstellen, dass sie den Ruhestand nicht genießen könnten.

Umgekehrt sind sie häufig überrascht, wie bestimmend der Job für ihr Leben war. Gerade diese Einsicht macht den Verlust häufig noch schlimmer.

Doch ist das alles nur Einbildung? Gibt es kein reales Krankheitsbild? Nicht ganz. Denn das Empty-Desk-Syndrom ist nicht einfach ein ungutes Gefühl. Es ruft laut Quadbeck reale Symptome hervor, die häufig in Bezug zu anderen Krankheiten stehen oder gleich als eigene Erkrankung gelten.

Diese Symptome können auftreten

So ist das Empty-Desk-Syndrom an sich zwar nicht als eigene psychosomatische Krankheit anerkannt, starke Symptome lassen sich aber trotzdem behandeln. In der Regel übernimmt dann auch die Krankenkasse die Kosten dafür. Quadbeck nennt zum Beispiel die folgenden:

  • Rückenschmerzen
  • Allergien
  • Essstörungen
  • Alkoholismus
  • Tabletten- und/oder Drogensucht
  • Herzbeschwerden
  • Depressionen und Selbstmordgedanken

Unangenehm wird es, wenn sich das Empty-Desk-Syndrom relativ früh im Leben zeigt. Um in den Ruhestand zu gehen, muss man nicht zwingend Mitte 60 oder älter sein. Denkbar ist auch, dass erfolgreiche Unternehmer ihr Start-up verkaufen und schon deutlich vor dem Rentenalter nicht mehr arbeiten müssen. Denn finanzielle Sorgen gehören dann der Vergangenheit an.

Die Folge: Den ehemals erfolgreichen Unternehmern wird schnell langweilig. Oder in den Worten Noacks: Die freie Zeit ist "dann nicht mehr so attraktiv, wie es zuvor schien."

Tipps gegen das Empty-Desk-Syndrom
1. Machen Sie Urlaub: Um den Kopf frei zu bekommen, brauchen Sie Abstand vom Alltag. Der räumliche Abstand hilft Ihnen außerdem dabei, eine andere Sichtweise einzunehmen und neue Pläne zu schmieden.
2. Reisen Sie in die Vergangenheit: Stellen Sie sich die Frage, was Sie in ihrer Vergangenheit besonders gut gemacht haben, was besonders wichtig für Sie war. Vielleicht finden Sie eine Aufgabe, mit der Sie genau dort anknüpfen können.
3. Wechseln Sie die Perspektive: Welche neuen Optionen haben Sie durch den Ruhestand gewonnen? Als Rentner haben Sie nun Zeit, sich neuen Dingen zu widmen.
4. Trennen Sie die berufliche Rolle von Ihrer Person: Versuchen Sie die Rolle, die Sie in Ihrem früheren Job hatten, von Ihrer Person zu trennen. Was macht Sie aus, welche Eigenarten und charakterlichen Fähigkeiten haben Sie – unabhängig von Ihren Kompetenzen im Job?
5. Hinterfragen Sie Ihre Prioritäten: Was erfüllt Sie, wofür lohnt es sich, jeden Morgen aufzustehen? Wer seine persönlichen Werte klar benennen kann, hat es im Ruhestand deutlich leichter.

Hinweis: Falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Otto Quadbeck
  • Gespräch mit Silka Strauss
  • Gespräch mit Karsten Noack
  • Statistisches Bundesamt
  • Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
  • Buch "Das "Empty-Desk-Syndrom": Die Leere nach der Pensionierung"
  • vaa.de: "Übergang in den Ruhestand" – "Wenn der Schreibtisch plötzlich leer ist"
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