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Corona-Krise: Darum spaltet uns der Kampf um Überzeugungen


Die Psychologin hilft
Darum spaltet uns der Kampf um Überzeugungen

MeinungEine Kolumne von Ulrike Scheuermann

Aktualisiert am 12.12.2021Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen: Ein Teil der Bevölkerung hält die Pandemie für "Fake".Vergrößern des Bildes
Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen: Ein Teil der Bevölkerung hält die Pandemie für "Fake". (Quelle: imago-images-bilder)

Die Corona-Pandemie spaltet die Gesellschaft immer mehr in Lager mit gegensätzlichen Standpunkten. Dass die Fakten eigentlich gegen bestimmte Meinungen sprechen, zählt nicht, Diskussionen werden unmöglich. Doch warum? Und was können wir dagegen tun?

Im Moment gibt es genug Anlass, um sich über konträre Überzeugungen aufzuregen, zu streiten, zu entzweien. Meist führen Diskussionen zu nichts. Die andere Person beharrt auf ihrer Meinung, vielleicht sogar noch mehr, je stärker man versucht, sie mit guten Argumenten umzustimmen.

Wenn wir fragen, welche Hintergründe das hat, lernen wir uns selbst besser kennen – und natürlich auch andere, über die man sich eben noch geärgert hat. Verständnis hilft, gelassener zu bleiben und weniger Stress zu haben. Und Gelassenheit brauchen wir im Moment dringend – um uns in der schwierigen Pandemiesituation nicht vollkommen aufzureiben und auch, um nicht körperlichen Schaden zu nehmen.

Ich wiederhole das immer wieder: Chronischer Stress ist laut WHO-Aussage "eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts", weil er die Grundlage für viele lebensbedrohliche Krankheiten ist.

Sozialer Konformitätsdruck schlägt Fakten

Menschen passen sich an das an, was diejenigen sagen, denen sie sich zugehörig fühlen. Diese soziale Konformität ist durch zahlreiche Studien schon lange erwiesen.

Ein Pionier der Sozialpsychologie, Solomon Asch, hat in den 1950er Jahren gezeigt, wie stark Menschen durch Gruppendruck mit der Mehrheitsmeinung konform gehen. Umso mehr, je größer die Gruppe und je einheitlicher die Meinung ist.

Überwältigende drei Viertel schließen sich einer falschen Gruppenantwort an. Sie sagen zum Beispiel "Der mittlere Strich auf dem Papier ist am längsten", weil das die anderen, vorher informierten Teilnehmer im Versuch behaupten – obwohl sie genau sehen, dass der mittlere Strich am kürzesten ist. Dagegen antworten 95 Prozent ohne Gruppendruck richtig. Ich finde diese Studienergebnisse immer wieder beeindruckend: Menschen passen sich an, selbst wenn sie überzeugt davon sind, dass die Gruppenmeinung falsch ist!

Druck wirkt unbewusst

Und neuere Studien, etwa die des Neurowissenschaftlers Gregory Berns, zeigen noch erschreckender: Der Konformitätsdruck funktioniert, ohne dass wir ihn bewusst bemerken. Man passt sich an fremde Meinungen an, indem man seine Wahrnehmung verändert und zum Beispiel nur selektiv die Informationen wahrnimmt, die zur Gruppenmeinung passen.

Beispiele: Man weiß aus zahlreichen sicheren Quellen, dass hoher Fleischkonsum gesundheits- und klimaschädlich ist und will sich daher vegetarisch ernähren. Für die Kollegen in seinem Team ist aber ein Mittagessen ohne Fleisch nur eine Vorspeise und wer vegetarisch isst, gilt als Weichei. Nun findet derjenige im Internet ein Video, in dem behauptet wird, Fleisch wäre die gesündeste Ernährung für den Menschen. Hier werden keine wissenschaftlichen Quellen genannt. Eigentlich weiß unser Vegetarier in spe, dass man Einzelfälle nicht verallgemeinern kann.

Helmut Schmidt ist zwar als Kettenraucher 97 Jahre alt geworden, aber das ändert nichts daran, dass alle wissenschaftlichen Studien zeigen: Nicht rauchen beziehungsweise wenig rauchen ist der Gesundheitsfaktor Nummer drei, um lange zu leben. Dennoch glaubt unser Mann nun diesem einen Menschen im Video. Wie kommt es dazu?

Wichtiger als die eigene Meinung

Konformität kann das Ergebnis eines äußeren Drucks der Gesellschaft sein, zum Beispiel in einer Diktatur. Aber für uns in der Demokratie, die die individuelle Freiheit stark betont, spielt bei Konformität das Bedürfnis nach einem Zugehörigkeitsgefühl und die Sehnsucht nach Eingebundensein in eine Gemeinschaft die entscheidende Rolle.

Dieser Wunsch ist in uns allen stark, er hat uns Menschen schließlich jahrmillionenlang das Überleben gesichert, und tut es noch heute. Unsere Sozialkontakte sind die Nummer eins für ein langes, gesundes Leben. Konformität ist auch nicht automatisch schlecht. Natürlich brauchen wir auch heute die Anpassung an einen Konsens und geltende Grundregeln, um gut miteinander leben zu können.

Menschen tun sehr viel dafür, um ihre Zugehörigkeit zu den Menschen zu erhalten, die ihnen wichtig sind. Das ist existenziell, denn ausgestoßen oder getrennt zu sein, löst Angst und seelische Schmerzen aus. Daher kann der Drang nach Zugehörigkeit stärker wiegen als rationale Argumente oder Überzeugungen.

"Ich hab’ doch schon so viel investiert!"

Es gibt ein weiteres interessantes psychologisches Phänomen, das eine Rolle spielen kann, wenn man an überholten Verhaltensweisen und Überzeugungen festhält: den sogenannten "Sunk Cost Effect":

Versunkene oder irreversible Kosten sind die, die wir bereits investiert haben und die wir nicht wieder rückgängig machen können. Das kann Geld, Mühe, Zeit oder auch eine Emotion sein. Daher hält man an einem längst ungünstig verlaufenden Vorhaben fest, weil man nicht auf ein Engagement zurückblicken will, das gescheitert ist – man möchte nicht umsonst investiert haben.

Es fehlt in unserer Gesellschaft an Fehlertoleranz

Der Wirtschaftspsychologe Michael Frese hat untersucht, wie verschiedene Kulturen mit Fehlern umgehen. Bei Fehlertoleranz landete Deutschland im Vergleich von 61 Ländern in seiner Studie auf dem vorletzten Platz. Das heißt, wir haben keine fehlertolerante Kultur.

Fehler in Deutschland gelten als Schwäche, als Makel. Daher geben wir ungern Fehler zu, denn wir schämen uns. Oft stehen dahinter Selbstwertprobleme und die Sorge, sich anderen gegenüber unterlegen fühlen zu müssen.

Wenn man das anerkennt und sich bewusst macht, dass diese Scham auch mit der Sicht auf Fehler in unserer Gesellschaft zusammenhängt, ist das schon hilfreich, denn Bewusstheit ist immer der erste Schritt zur Veränderung.

Wer Mensch ist, macht Fehler

  • Nehmen Sie "versenkte" Kosten hin. Streichen Sie den Satz „Sonst war das alles umsonst" aus Ihren Gedanken. Für die Zukunft sollten sie nicht berücksichtigt werden. Sie sind Schnee von gestern, der eine sinnvolle Neuausrichtung beeinträchtigt.
  • Verabschieden Sie Ihren Perfektionsanspruch: Sich einen Fehler einzugestehen und irreversible Kosten zu akzeptieren, ist nicht angenehm, aber nötig, um daraus zu lernen und zu einer neuen Haltung zu finden. Akzeptieren Sie, dass Sie nicht immer alles richtig machen. So ist das Leben: Wer Mensch ist, macht Fehler. Wer Fehler macht, kann daraus lernen. Mit dieser Haltung können Sie erhobenen Hauptes auch gegenüber anderen ihren Fehler eingestehen.
  • Prüfen Sie immer wieder, an welchen Stellen in Ihrem Leben Sie eine Realität nicht wahrhaben wollen und deshalb an etwas festhalten, was ihnen für die Zukunft schaden kann.
  • Seien Sie bereit, Ihre Meinung zu ändern und Fehler einzugestehen. Alles entwickelt sich ständig weiter.

Letztlich gilt: Nur mit Offenheit für Veränderungen und Beweglichkeit beim Reagieren bleiben Sie lernfähig und entwickeln sich weiter.

Ulrike Scheuermann ist Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin. Seit 25 Jahren hilft sie Menschen dabei, gut für sich zu sorgen. Ihre Self-Care-Programme finden in ihrer Akademie in Berlin statt.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Ulrike Scheuermann: Freunde machen gesund – Die Nummer 1 für ein langes Leben: deine Sozialkontakte (Knaur Balance, 2021).
  • Originalvideoaufnahme des Experiments von Solomon Asch (Englisch)
  • Gregory Berns: Iconoclast: A Neuroscientist Reveals How to Think Differently, Harvard Business Press 2008.
  • Michael Frese: Fehler sind nicht falsch, Interview in report psychologie, 9/2014
  • Anna Gielas: Aufhören, bevor es zu spät ist, in Psychologie Heute 6/2013, S. 20–24.
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