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Bundeswehr in der Ukraine-Krise: Putins Krieg offenbart Deutschlands Ohnmacht


"Bundeswehr steht blank da"
Putins Krieg offenbart Deutschlands Ohnmacht

  • Daniel Mützel
Von M. Hollstein, D. Mützel, S. Böll

Aktualisiert am 25.02.2022Lesedauer: 7 Min.
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Verstärkung der Truppen: So reagieren die Nato und die Bundeswehr auf den Ukraine-Krieg. (Quelle: Reuters)

Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt einmal mehr, wie schlecht die Bundeswehr aufgestellt ist. Es fehlt an allem – sogar an Unterwäsche. Ohne die Nato, so scheint es, wäre Deutschland verloren.

Das Land, das wir Ukraine nennen, gibt es, Stand heute, nicht mehr. Seit die russische Armee das Nachbarland überfallen hat, befindet sich der ukrainische Staat in seinen letzten Zügen. Was danach kommt, weiß noch niemand. Was man hingegen weiß: Die Ukraine, wie wir sie kannten, verschwand, weil man sie allein ließ im Moment der Gefahr. Weil die Welt zu spät und zu wenig Hilfe schickte.

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Auch aus Deutschland kam außer blau-gelben Lichtinstallationen, fast gelieferten Helmen und Wirtschaftshilfen nichts. Die politische Entscheidung der Regierung von Olaf Scholz (SPD) lautete und lautet immer noch: Wir sehen dabei zu, wie das Land und seine Menschen untergehen. Niemand brachte das so brutal zum Ausdruck wie Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) am Donnerstagabend, dem Tag eins des historischen Verbrechens: "Wir können der Ukraine nicht helfen, und wir helfen ihr nicht."

Habecks eiskalte Ehrlichkeit sägt nicht nur an den Sprechzetteln seiner eigenen Regierung – die zu glauben vorgibt, Putin mit mittelstarken Sanktionen abschrecken zu können –, sondern wirft auch unweigerlich die Frage auf: Könnten "wir" uns eigentlich selbst helfen, im Ernstfall?

Das Helm-Fiasko und eine fehlende Korvette

Wie wehrlos Deutschland im Fall eines Angriffs wäre, lässt sich am eindrücklichsten an zwei Anekdoten erzählen, die sich in den vergangenen Wochen im Verteidigungsministerium abgespielt haben.

Da sind erstens die Helme: Nachdem die Bundesregierung wegen ihrer Weigerung, die Ukraine mit Defensivwaffen zu unterstützen, massiv in die Kritik geraten war, kündigte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) mit großer Geste an, man werde 5.000 Helme liefern. Aus dem "deutlichen Signal" der Solidarität ist allerdings nichts geworden. Offiziell heißt es, weil die Ukraine nicht mehr nachgefragt habe. Im Ministerium erzählt man sich allerdings eine andere Geschichte. Demnach habe die Ministerin erst nach ihrer Ankündigung prüfen lassen, ob die Helme überhaupt schnell lieferbar sind. Als Lambrecht ihre Beamten eilig losgeschickt habe, um sie zu organisieren, hätten die Lieferanten der Truppe erst mal abgewunken: So schnell gehe das nicht. Am Ende musste das Wehrressort bei der eigenen Truppe wildern, um überhaupt die versprochenen 5.000 aufzutreiben. In Lambrechts Ressort kursierte der Witz: "Hast du deinen Helm schon abgeben müssen?"

Und da ist zweitens das Schiff: Am Freitag verkündete die deutsche Marine, die Korvette "Erfurt" an die Nato-Nordflanke zu schicken. Das Kriegsschiff soll helfen, die Seewege in Nord- und Ostsee sowie im Nordatlantik abzusichern. Nur war die "Erfurt" eigentlich schon auf dem Weg ins östliche Mittelmeer, wo sie als Teil einer Mission vor dem Libanon den internationalen Waffenschmuggel im Nahen Osten bekämpfen sollte. Noch vor acht Tagen beschwor die Marine mit großem Tamtam, die "Erfurt" werde "einen signifikanten Beitrag" in einer "spannungsreichen Region" leisten, die Crew werde "sowohl ihre Qualität als auch Belastbarkeit" unter Beweis stellen. Stattdessen muss die "Erfurt" nun abdrehen. Weil die Bundeswehr so schnell keinen Ersatz findet, muss die Mission vor dem Libanon erst mal ohne Korvette auskommen.

Eine gelähmte Truppe

Zwei Einzelfälle? Mitnichten. Wie dramatisch die Lage der Bundeswehr zu sein scheint, verdeutlichte der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, mit einem dramatischen Appell am Tag des russischen Angriffs: "Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da", schrieb der Generalleutnant im Netzwerk LinkedIn. Die Optionen, die seine Truppe zur Unterstützung der Nato anbieten könnten, seien "extrem limitiert". Der oberste Heeressoldat sparte nicht mit einem Seitenhieb auf die Politik: Dort sei man nicht mit Argumenten durchgedrungen, "die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen". Er sei "angefressen".

Dass ein ranghoher Militär im aktiven Dienst sich derart kritisch öffentlich äußert, ist ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Er zeigt, welcher Frust in der Bundeswehr herrscht. Denn der Krieg in der Ukraine legt offen, was Sicherheitsexperten und Bundeswehrangehörige schon lange kritisieren: Die Bundeswehr ist nicht nur chronisch unterfinanziert – sie ist auch nicht in der Lage, das Land im Konfliktfall zu verteidigen. Mit anderen Worten: Das, wofür sie da ist, kann sie gar nicht leisten.

Nur mehr Geld ist auch keine Lösung

"Von den Zahlen her geben wir als Nation das meiste Geld in Europa für die eigene Verteidigung aus, wenn man bei den Franzosen die nukleare Komponente rausrechnet", sagt Carlo Masala, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. "Trotzdem sind wir blank, wenn es jetzt darum geht, der Nato etwas Vernünftiges für den Schutz der Ost- und Südostflanke wie die Verteidigung der baltischen Staaten anzubieten."

Der Sicherheitsexperte ist überzeugt: "Das Problem ist nicht nur das Geld, sondern die gesamte Struktur – die Beschaffung, die Planung, die Dienstwege, die Mitzeichnungskultur." Nichts sei ausgelegt darauf, "quick and dirty", also schnell und unbürokratisch mobilisieren zu können. Stattdessen würden lange Entscheidungsprozesse das System lähmen.

Den Versprechen der Spitzenpolitiker, jetzt mehr für die Finanzierung tun zu wollen, misstraut Masala: "Das haben wir nach dem Abzug aus Afghanistan auch schon gehört und dann geriet es wieder in Vergessenheit. Wenn die Politik es ernst meint, dann muss sie jetzt das Zwei-Prozent-Ziel nicht nur schnellstmöglich erfüllen, sondern deutlich mehr als zwei Prozent investieren."

Das Zwei-Prozent-Ziel ist die Verpflichtung der Nato-Staaten, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Darauf hatten sich die Bündnispartner 2002 verständigt. Deutschland liegt seit Jahren darunter (2021: 1,6 Prozent), was immer wieder zu Spannungen mit den USA führte. Masala warnt aber auch: "Allein durch Geld werden wir das Problem nicht lösen. Man muss auch an das System ran und nicht nur an die monetäre Seite."

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Westen, Jacken, Unterwäsche – es fehlt an allem

Wie dramatisch unterversorgt die Bundeswehr dasteht, belegen auch die vergangenen Monate. So soll Deutschland turnusgemäß 2023 die Führung der "Very High Readiness Joint Task Force" (VJTF) übernehmen, der Speerspitze der schnellen Eingreiftruppen der Nato, der "Nato Response Force" (NRF).

Der multinationale Verband umfasst bis zu 50.000 Soldaten und soll im Krisenfall neuerdings binnen 30 Tagen einsatzbereit sein, Teile davon binnen sieben. Die Bundeswehr, die sich an der NRF mit rund 13.700 Soldaten beteiligt, ist allerdings nicht in der Lage, das aus eigener Kraft zu stemmen. Schon für die Aufstellung der Truppe musste Material und Personal aus anderen Verbänden zusammengezogen werden, weil die Bundeswehr keine ausreichende Grundausstattung hat.

Anderes Beispiel: Weil die Bundeswehr nicht über genügend moderne Schutzwesten verfügt, wird zu Hause mit veralteten Modellen trainiert. Die modernen Versionen gibt es nur beim Einsatz vor Ort, sie müssen anschließend wieder abgegeben werden. Das widerspricht dem militärischen Prinzip "train as you fight" – trainiere so, wie du auch kämpfst. Die Ausstattung mit ungewohnter Ausrüstung kann im Einsatz zu verminderter Leistung führen.

Wie weit die Versorgungskrise der Truppe reicht, hat die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) in einem Interview mit der "Augsburger Allgemeinen" kürzlich beschrieben: Deutschen Soldaten in Litauen fehle es derzeit am Nötigsten, selbst winterfeste Jacken und Unterwäsche seien nicht ausreichend da. Ähnlich Beklagenswertes wurde auch in den Auslandseinsätzen in Mali und im Niger berichtet.

Hausgemachte Probleme

Die Wurzeln des Problems liegen auch in der Politik und reichen weiter als kommunikative Eigentore wie Lambrechts Helm-Fiasko. Da ist zum einen der fehlende politische Wille, signifikant mehr in den Verteidigungshaushalt zu stecken: Das Budget hat sich zwischen 2005 und 2022 zwar ungefähr verdoppelt, aber inflationsbereinigt sieht das Plus nicht mehr ganz so beeindruckend aus.

Zum anderen, das bestätigen Umfragen regelmäßig, sind höhere Militärausgaben in der Bevölkerung hochgradig unbeliebt. Daran orientierte sich die Bundesregierung seit Jahren eisern. Führungsverantwortung etwa dergestalt, den Menschen zu erklären, dass ihre Freiheit und Sicherheit nicht gratis zu haben sind und die Welt nicht einfacher, sondern gefährlicher wird, mit aufstrebenden Autokratien und instabileren Verhältnissen – Fehlanzeige. Mit dem deutschen Nein zu Waffenexporten in die Ukraine hat auch die Ampel mit dieser pazifistischen, aber vielleicht zunehmend naiven Tradition nicht gebrochen.

Deutsche Kontinuität

Kanzler Olaf Scholz (SPD) steht stellvertretend für diese Linie. Schon als Finanzminister in der vergangenen Wahlperiode zeigte er sich offen für soziale Belange, aber knausrig, wenn es um Militärausgaben ging. So war es auch im vergangenen Jahr, inmitten der Corona-Pandemie. Als Scholz im Frühjahr 2021 den Etatentwurf für das kommende Jahr und die Eckwerte der folgenden Haushalte plante, gestand er zwar für 2022 mehr Geld für Verteidigung zu, wollte das Budget zwischen 2023 und 2025 aber wieder deutlich kürzen.

Die Begründung damals: Angesichts der hohen neuen Schulden durch die Corona-Krise solle zusätzliches Geld in den folgenden Jahren nur für jene Aufgaben vorgesehen werden, die gesetzlich vorgeschrieben oder bereits von der Regierung verabschiedet wurden. Übersetzt heißt das: Lieber mehr für Soziales und weniger für Verteidigung.

Der Verteidigungsexperte Thomas Wiegold legte damals in seinem Blog offen, wie groß die Differenz zwischen den Ausgaben war, die vom Verteidigungsministerium als notwendig erachtet wurden, und die Scholz dem Ressort zunächst zugestehen wollte: Lag der Fehlbetrag 2023 noch bei rund 9 Milliarden Euro, waren es für 2025 bereits fast 16 Milliarden Euro.

Notwendige Debatte

Das Ganze als SPD-Problem darzustellen, wäre allerdings eine Verkürzung. Die Grünen standen der Bundeswehr lange Zeit eher skeptisch gegenüber, und auch Union und FDP, die gern die Notwendigkeit höherer Verteidigungsbudgets predigen, nahmen ihre eigenen Worte im Zweifel auch nicht ganz so ernst. So war es die schwarz-gelbe Regierung, die angesichts der Finanzkrise 2010 sparen musste und dafür – auf Initiative des damaligen CSU-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg – sogar die Wehrpflicht kassierte.

Der frühere Staatssekretär für Verteidigung, Peter Tauber (CDU), sieht ein viel grundsätzlicheres Problem: "Die Bundeswehr ist strukturell nur bedingt darauf ausgerichtet, einen längeren konventionellen Krieg zu führen. Und selbst in der gegenwärtigen Struktur gibt es ja noch Defizite bei der Einsatzbereitschaft", sagte Tauber t-online. "Ich mache mir aber keine Sorgen, dass unsere Soldaten gemeinsam mit den anderen Armeen im Bündnis im Zweifel nicht ihre Pflicht tun werden und kämpfen können und auch siegen."

Die "wirkliche Frage" sei Tauber zufolge eine politische und gesellschaftliche: "Welchen Einsatz ist unsere Gesellschaft bereit zu bringen, um unsere Freiheit und die Europas zu verteidigen?" Das müsse "endlich mal" auch über die aktuelle Krise hinaus diskutiert werden. Heißt: Deutschland hat sich bisher damit begnügt, seine Sicherheit von anderen verteidigen zu lassen.

Bekommen am Ende Putins Truppen die Helme?

Die Helm-Blamage ist mittlerweile um eine Episode reicher: An diesem Freitag – russische Einheiten kämpfen da bereits in den Straßen von Kiew – meldet die Deutsche Presse-Agentur, dass die 5.000 Helme endlich ausgeliefert werden. Zwei Lastwägen seien unterwegs, die Übergabe solle aber "außerhalb der Ukraine" erfolgen. Aus Sicherheitsgründen (für die deutsche Seite).

Allerdings scheint unklar, wem sie überhaupt noch übergeben werden können. Denn voraussichtlich wird die aktuelle Regierung, zu deren Hilfe die Helme erdacht waren, nicht mehr im Amt sein, bis diese ankommen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Augsburger Allgemeine: Wehrbeauftragte Högl: "Westen muss Putin deutlich machen, dass wir nicht wehrlos sind"
  • Deutsche Marine: "Flotte verstärkt Aktivitäten an der NATO-Nordflanke: Korvette wird Teil der SNMG 1"
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