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Angriff auf Armenien: Nutzt Aserbaidschan den Ukraine-Krieg aus?


Angriff Aserbaidschans auf Armenien
Nutzt Aserbaidschan den Ukraine-Krieg aus?


Aktualisiert am 14.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Die Armenier wurden erneut aus Aserbaidschan angegriffen. (Archivfoto)Vergrößern des Bildes
Die Armenier wurden erneut aus Aserbaidschan angegriffen. (Archivfoto) (Quelle: Alex McBride/getty-images-bilder)

Aserbaidschan greif Armenien an – erneut. Doch die Situation ist so brenzlig wie lange nicht mehr, auch aufgrund des Ukraine-Krieges.

Es ist ein Konflikt mit Historie – und eigentlich waren viele Beobachter optimistisch, es könnte endlich zu einem Friedensvertrag zwischen Aserbaidschan und Armenien kommen. In der Nacht zum Dienstag wurden diese Hoffnungen schlagartig zunichtegemacht: Schwere Gefechte zwischen den Nachbarländern, mindestens 49 tote armenische Soldaten, weitere 50 Tote auf aserbaidschanischer Seite. Es sind die heftigsten Gefechte seit dem Krieg um Bergkarabach 2020.

Doch diesmal geht es nicht um die De-facto-Republik Bergkarabach, in der vor allem Armenier leben, auf die aber beide Länder Anspruch erheben. Zumindest nicht nur: Kurz nach Mitternacht (Ortszeit) haben aserbaidschanische Truppen armenische Stellungen in den Städten Goris, Sotk und Deschermuk mit Artillerie, Drohnen und großkalibrigen Waffen angegriffen, so das armenische Verteidigungsministerium. Die Ziele befinden sich demnach auf armenischem Gebiet, unter anderem in Grenznähe zu Bergkarabach. Aber auch bis zu 50 Kilometer ins Landesinnere sind Angriffe erfolgt, so etwa südlich des bei Touristen beliebten Sewansees. Auch zivile Infrastruktur ist unter Beschuss genommen worden. Die armenischen Truppen hätten "notwendige Maßnahmen" ergriffen, um den Vorstoßversuch Aserbaidschans abzuwehren, hieß es aus Eriwan.

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Aserbaidschan weist die Verantwortung von sich und behauptet "Sabotagegruppen der armenischen Streitkräfte" hätten Landminen zwischen aserbaidschanischen Stellungen und Versorgungsstraßen gelegt, außerdem hätten armenische Streitkräfte aserbaidschanische Stellungen beschossen. Auch auf dieser Seite wird argumentiert: Man habe "Vergeltungsmaßnahmen" ergriffen, um weitere Provokationen und Drohungen der armenischen Streitkräfte "gegen das Territorium und die Souveränität unseres Landes zu verhindern". Die Verantwortung läge bei Armenien, so das aserbaidschanische Verteidigungsministerium.

Aus der armenischen Hauptstadt Eriwan heißt es hingegen: Die Führung Aserbaidschans trage die volle Verantwortung für die "groß angelegte Provokation".

Das Kräfteverhältnis hat sich verschoben

Fast 100 Tote sind bislang das Ergebnis, auch im Laufe des Dienstags gingen die Gefechte weiter. Am Abend hatte sich die Lage nach armenischen Angaben jedoch stabilisiert. Aserbaidschanische Medien meldeten, die eigenen Streitkräfte hätten die Kontrolle über mehrere "wichtige strategische Positionen und Höhenlagen" übernommen.

2020 wurden in dem Krieg um Bergkarabach mindestens 6.500 Menschen getötet. Deswegen ist die internationale Aufregung groß – aber auch, weil sich das Kräfteverhältnis der Region durch den Ukraine-Krieg verschoben hat.

Der 44-Tage-Krieg endete im November 2020 mit einem Waffenstillstandsabkommen. Armenien verlor dabei Territorium, rund zwei Drittel Bergkarabachs wurden Aserbaidschan zugesprochen. Die Waffenruhe in der Region soll seitdem von russischen Friedenstruppen überwacht werden – Moskau gilt historisch als Schutzmacht Armeniens. Ruhig blieb es dennoch nicht, wie Sie hier nachlesen können.

Noch in der Nacht telefonierte der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan nach Angaben seiner Regierung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, am Dienstag verständigten sich die Außen- und Verteidigungsminister der Länder.

Kreml: Putin tut alles für Deeskalation

Am Vormittag vermeldete das Moskauer Außenministerium, Russland habe eine Waffenruhe vermittelt – diese hielt jedoch sowohl nach armenischen als auch nach aserbaidschanischen Angaben nicht lange an. Moskau sei "extrem besorgt" über die Lage im Grenzgebiet und rufe beide Seiten zur Zurückhaltung auf. Jegliche Streitfragen zwischen Armenien und Aserbaidschan könnten "ausschließlich mit politischen und diplomatischen Mitteln" geklärt werden, betonte das russische Außenministerium.

Am Mittag dann eine weitere Meldung aus dem Kreml: Putin tue alles, um zur Deeskalation beizutragen. Man könne die Rolle Russlands und Putins kaum überschätzen, so Sprecher Dmitri Peskow.

"Ohne russische Präsenz würde Aserbaidschan die umstrittene Region erobern"

Doch die Rolle Russlands steht schon länger infrage. Beobachter berichten, Russland habe Truppen aus dem Gebiet abgezogen – wohl auch, um sie in der Ukraine einzusetzen. Experten haben den Angriff schon länger kommen sehen: "Aserbaidschan hat zeitweise darüber nachgedacht, die Situation auszunutzen, um weitere Gebiete zu erobern", sagte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik bereits im Juli zu t-online. Mit Blick auf Bergkarabach hieß es: "Ohne russische Präsenz würde Aserbaidschan die umstrittene Region erobern."

Ende August meldete die aserbaidschanische Armee dann tatsächlich die Stationierung von Truppen in dem strategisch wichtigen Ort Latschin. Dort verläuft der sogenannte Latschin-Korridor, eine rund sechs Kilometer lange Straße, die Armenien und Bergkarabach verbindet. 2020 eroberte Aserbaidschan Latschin, danach stand die Stadt unter der Kontrolle Russlands. Im Waffenstillstandsabkommen war zwar vorgesehen, dass es an Aserbaidschan übergeben werden sollte, allerdings herrschte zu diesem Zeitpunkt noch Uneinigkeit über die Erfüllung der Bedingungen dafür.

Russland braucht Aserbaidschan

Aserbaidschan hatte es mit der Eroberung der Stadt Latschin wohl auch deswegen so eilig, weil Russland mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt war, vermuteten Beobachter. Osteuropa-Experte Winfried Jilge vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze sagte am Dienstagmorgen im ZDF, bei den aserbaidschanischen Angriffen im August hätten sich die russischen Friedensgruppen "geradezu zurückgezogen". Denn es ist komplizierter als viele vermuten: Russland braucht Aserbaidschan, trotz der historisch engeren Beziehungen zu Armenien.

Moskau und Baku haben erst im Sommer eine engere Zusammenarbeit im Energiebereich vereinbart, unter anderem geht es um die Nutzung von Gas- und Ölfeldern im Kaspischen Meer. Putin betonte die Wichtigkeit der Beziehungen bei dem Treffen im Juni.

Zudem ist durch den Ukraine-Krieg die Türkei für Russland wichtiger geworden: Der türkische Präsident Recep Erdoğan inszeniert sich als Schnittstelle zum Westen und ist zum wichtigen Verbündeten Putins geworden. Gleichzeitig steht Ankara im Konflikt mit Armenien fest auf Seiten Aserbaidschans.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu warf am Dienstag Armenien prompt Provokationen vor. Eriwan solle sich auf Friedensverhandlungen mit Baku konzentrieren, schrieb er auf Twitter.

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Fraglich somit, wie erfolgversprechend der armenische Anruf der "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS) ist, einer von Russland geführten Militärallianz. In Eriwan ist man sich dessen wohl bewusst: Auch der Westen wurde eingeschaltet. Ministerpräsident Paschinjan telefonierte mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, US-Außenminister Antony Blinken und EU-Ratspräsident Charles Michel. Alle drei forderten das Ende der Kampfhandlungen, Frankreich beantragte zudem die Anrufung des UN-Sicherheitsrats, der Termin für die Sitzung ist für Mittwoch angesetzt.

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Auffällig lautes Schweigen

Michel, der sich noch Ende August mit Paschinjan und dem aserbaidschanischen Präsidenten Aliyew traf und über einen Friedensvertrag verhandelte, sagte, die EU sei bereit, sich um Deeskalation zu bemühen. Sie wolle als "ehrlicher Vermittler" auftreten, gab auch der EU-Außenbeauftragte Joseph Borrell bekannt. Er ist zugleich Vize-Präsident der EU-Kommission – von deren Spitze bislang auffällig laut geschwiegen wird.

Denn im Juli pries Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das autokratisch regierte Aserbaidschan noch als "vertrauenswürdigen Partner" an. Damals war sie in Baku zu Gast, unterschrieb mit Aliyew eine Erklärung zum Ausbau der Zusammenarbeit, vor allem beim Gas – Unabhängigkeit von Russland lautete die oberste Maxime.

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Nun verweist die EU-Kommission auf t-online-Anfrage auf Borrell. Von Ursula von der Leyen dagegen: nichts. Auch das deutsche Außenministerium äußerte sich auf t-online-Anfrage nicht.

Frieden in weiter Ferne

Derweil legt sich Aserbaidschan die Rechtfertigung weiterer möglicher Angriffe zurecht. Armenien bereite sich auf eine "groß angelegte militärische Provokation" vor, hieß es am Dienstag in einer Mitteilung des Außenministeriums. Darin wird von einer angeblichen Stationierung von schweren Waffen in Grenznähe, der "fortgesetzten Verlegung von Landminen" und der Verletzung des Völkerrechts sowie des Waffenstillstandsabkommens von 2020 berichtet. Kriegsverbrechen werfen sich beide Seiten vor – international wiegen die Vorwürfe gegen Aserbaidschan jedoch schwerer.

Armenien habe "keinerlei Interesse am Friedensprozess" und wolle diesen untergraben, heißt es aus Baku weiter. Das klang vor wenigen Tagen noch ganz anders: Nach dem letzten Treffen mit EU-Ratspräsident Charles Michel Ende August hatte der aserbaidschanische Präsident Aliyew in einem Interview mit der italienischen Zeitung "Il Sole 24 Ore" Anfang September gesagt, er rechne mit einem Friedensvertrag innerhalb weniger Monate.

Der armenische Ministerpräsident Paschinjan sagte am Dienstag im Parlament jedoch, bei dem Treffen sei vor allem die kompromisslose Haltung Aserbaidschans deutlich geworden. Nachdem zwischenzeitlich ein Friedensvertrag so nah wie nie schien, ist er somit nun wieder in weite Ferne gerückt.

"Die Lage ist brandgefährlich", sagte auch Osteuropa-Experte Jilge am Dienstagmorgen im ZDF. Der aserbaidschanische Präsident Aliyew wisse um seinen strategischen Vorteil. "Er testet jetzt, wie weit er gegenüber Russland gehen kann." Ob das zu einem Krieg führe? Ungewiss. Aber: "Was sich hier abzeichnet, könnte gefährlich werden für die Bevölkerung von Karabach", so der Experte. Und da die Angriffe sich in der Nacht nicht auf die umstrittene De-facto-Republik beschränkten, gilt dies wohl auch für Armenien und die gesamte Region.

Verwendete Quellen
  • reuters.com: "Fresh clashes erupt between Azerbaijan, Armenia" (Englisch)
  • reuters.com: "Kremlin says Putin making 'every effort' to de-escalate Armenia-Azerbaijan hostilities" (Englisch)
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