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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Umgang des Westens mit Russland "Das ist ein Armutszeugnis für den Kanzler"
Russlands Angriff auf die Ukraine hat endgültig zum Bruch mit dem Westen geführt. Doch wie lebt es sich dort heute? Und wie könnte die Zukunft des Landes nach Putin aussehen? Russlandexperte Jens Siegert gibt Antworten.
Ein Russland ohne Wladimir Putin ist für viele Menschen kaum vorstellbar. Im Jahr 2000 wurde er erstmals zum Präsidenten gewählt, seitdem regiert er mit einer kurzen Unterbrechung von 2008 bis 2012 als Kremlchef. In dieser Zeit hat Putin Russland zu einem Land umgebaut, das völlig auf seine Person zugeschnitten ist. Kein Weg führt an ihm vorbei – und ein Ende dessen ist derzeit nicht in Sicht.
Der Politikwissenschaftler und Russlandkenner Jens Siegert lebt seit 1993 in dem Land, hat also die gesamte Regentschaft Putins miterlebt. Kommende Woche erscheint sein neues Buch "Wohin treibt Russland?". Im Interview mit t-online spricht er über sein Leben in Moskau und den Wandel, den das Land seit Beginn des großangelegten Angriffskriegs gegen die Ukraine durchmacht. Den Umgang des Westens mit Moskau kritisiert Siegert scharf: "Es ist wichtig, Russland deutliche Grenzen aufzuzeigen."
t-online: Herr Siegert, Sie leben seit rund 30 Jahren in Russland. Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat den Blick vieler Menschen im Westen auf Russland grundlegend verändert. Wie lebt es sich als Deutscher in dem Land?
Jens Siegert: Grundsätzlich hat sich nach dem Angriff nicht viel verändert. Im Alltag bekommt man zumindest in Moskau nicht viel vom Krieg mit, im Süden des Landes sieht das natürlich anders aus. Auf den ersten Blick wirkt das Leben der Menschen in der Hauptstadt normal. Ich gehe ins Café oder einkaufen, besuche ein Theater und esse im Restaurant. Das hat sich alles nicht verändert. Die größeren Veränderungen spürt man andernorts.
Zur Person
Jens Siegert (*1960) ist ein deutscher Politologe, Journalist und Autor. Seit 1993 lebt er in Moskau, wo er unter anderem das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung sowie das EU-Projekt Public Diplomacy am Goethe-Institut leitete.
Erklären Sie das bitte.
Sehr viele meiner Freunde und Bekannten sind nicht mehr in Moskau, sowohl Russen als auch Ausländer. Einige westliche Ausländer haben Russland nach Beginn der Invasion aus Angst verlassen. Manche meiner russischen Kontakte, die stets regierungskritisch waren, sind gegangen, weil sie tatsächlich in Gefahr waren oder das Risiko einer politischen Verfolgung hoch war. Bei anderen gab es bereits Strafverfahren – auch sie haben sich dann ins Ausland abgesetzt. Wiederum sind andere von einer eigentlich kurzen Auslandsreise schlicht nicht zurückgekehrt.
Welche Veränderungen beobachten Sie noch?
Es gibt kein öffentliches politisches Leben mehr in Russland. Konnte man früher noch zu Diskussionsveranstaltungen oder öffentlichen Versammlungen gehen, so findet so etwas heute gar nicht mehr statt. Es gibt nur noch staatliche Propaganda.
Was hat das für Folgen?
Es ist noch immer möglich, sich privat zu treffen. Noch sind ja einige politisch denkende Menschen in Russland vorhanden, längst nicht alle sind gegangen. Man trifft sich dann etwa in einem Café und kann dort auch recht offen reden. Die meisten haben an solch öffentlichen Orten trotz staatlicher Repression keine Angst. Aber es gibt eben keine Orte mehr, an denen so etwas wie eine oppositionelle oder abweichende politische Meinung geäußert wird. Das ist vorbei.
Wie reagieren Russen, die nicht mit Ihnen befreundet sind, darauf, dass Sie Deutscher sind?
Auch da stelle ich bisher keine Veränderung fest, an diesem Punkt scheint die Staatspropaganda also noch nicht zu wirken. Wenn sich der Blick der Russen auf Deutschland ins Negative gewandelt haben sollte, dann eher auf einer abstrakten Ebene, also mit Blick auf den deutschen Staat oder die Bundesregierung, nicht aber gegen Einzelpersonen.
In Ihren Veröffentlichungen kritisieren Sie den Kreml bereits seit Jahrzehnten teils scharf. Wie sicher fühlen Sie sich mit Ihrer Arbeit in Russland?
Diese Situation verschlechtert sich bereits seit mehr als zehn Jahren, angefangen mit den regimekritischen Protesten im Winter 2011/2012. Viele Nichtregierungsorganisationen wurden infolgedessen zu "ausländischen Agenten" erklärt, die Heinrich-Böll-Stiftung, für die ich rund 15 Jahre in Russland tätig war, sogar zur "unerwünschten Organisation".
Bis zum 24. Februar 2022 zumindest hatte ich nie das Gefühl, in irgendeiner Weise gefährdet zu sein, obwohl ich mit meiner Meinung nie hinter dem Berg gehalten habe. Womit ich allerdings rechnen musste und muss, ist, dass sie mich irgendwann rausschmeißen, obwohl ich Ehepartner einer Russin bin. Dafür gibt es bereits einige Beispiele. Damals bin ich für mich zu dem Schluss gekommen, dass das wohl das größte Risiko für mich ist.
Ich rate dazu, sich zumindest die Möglichkeit offenhalten, dass auch dieses Russland sich wieder verändern kann.
Jens Siegert
Sie haben also keine Angst davor, zum politischen Gefangenen des Kremls zu werden? Auch dafür gibt es ja mittlerweile einige Beispiele.
Natürlich besteht ein solches Risiko. Diese Abwägung muss jeder westliche Ausländer in Russland für sich treffen, ob politisch aktiv oder nicht. Der Fall des US-Journalisten Evan Gershkovich hat das deutlich gemacht: Er war der erste ausländische Gefangene seit Invasionsbeginn, der aus offensichtlich politischen Motiven festgesetzt wurde. Bei anderen Fällen wie der Basketballerin Brittney Griner lag zumindest ein Verstoß gegen die russischen Gesetze vor.
Gershkovich und Griner kamen letztlich bei Gefangenenaustauschen frei. Im Falle des Journalisten wirkte sogar die Bundesregierung mit, die solche Deals eigentlich ablehnt. Deutschland ließ den sogenannten Tiergartenmörder frei.
Genau. Und da stellte sich mir natürlich die Frage: Ermutigt das den Kreml, in Zukunft wieder ausländische politische Gefangene zu nehmen? Aber letztlich ist das mein Leben in Russland, ich habe dort Familie, Freunde und Bekannte. Ganz ohne Risiko geht es leider im Moment nicht. Verlieren möchte ich dieses Leben nicht. Russland zu verlassen, würde bedeuten, viele dieser Menschen auf unbestimmte Zeit nicht wiederzusehen. Und ich warne davor, Russland abzuschreiben.
- Interview mit freigelassenem Gefangenen Orlow: "Dann wäre Russland eine Zeitbombe"
"Wohin treibt Russland?"
In seinem neuesten Buch betrachtet Jens Siegert eine Zeit in Russland nach dem Ende des Regimes von Wladimir Putin. Dazu zeigt er verschiedene Szenarien für die Entwicklung des Landes sowie seiner Gesellschaft auf und was das für den Westen bedeutet. "Wohin treibt Russland? Szenarien für die Zeit danach" erscheint am 15. Oktober 2024 im S. Hirzel Verlag.
Einige Stimmen hierzulande und in anderen Ländern wollen aber genau das: die Zerschlagung Russlands beziehungsweise den völligen Bruch mit dem Land angesichts der Aggression gegen die Ukraine.
Ich denke nicht, dass das auf Dauer gut gehen würde. Zumal der politische und auch ökonomische Preis dessen sehr hoch wäre. Der Erfolg von AfD und BSW, die Spaltung der SPD sowie Wahlergebnisse im Osten Deutschlands, aber auch Österreich oder Frankreich geben einen Vorgeschmack darauf. Ich rate dazu, sich zumindest die Möglichkeit offenhalten, dass auch dieses Russland sich wieder verändern kann – auch wenn ich nicht besonders optimistisch bin, dass das schnell passiert.
Was könnte Ihrer Ansicht nach zu einer Veränderung in Russland führen?
Solange Putin in Russland an der Macht ist, wird sich wohl nichts mehr verändern – zumindest nicht zum Guten. Daher kann das noch eine ganze Weile andauern, ebenso wie der Krieg in der Ukraine. Von dessen Ausgang hängt viel von Russlands und Putins Zukunft ab. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen und nicht einmal in die Lage versetzt werden, den Ausgang des Kriegs in irgendeiner Weise als Sieg zu verkaufen. Deshalb sind Rufe etwa nach einem Einfrieren des Konflikts so gefährlich.
Es ist unheimlich wichtig, die Ukraine zu unterstützen – und zwar aus meiner Sicht deutlich stärker, als das bisher geschieht.
Jens Siegert
Wie könnte ein solcher Abgang Putins aussehen?
Er ist jetzt 72 Jahre alt. Irgendwann wird er sterben. Oder so alt sein, dass es nicht mehr geht. Vielleicht hört er auch früher auf, etwa wegen einer Erkrankung oder aus anderen Gründen. Wie wahrscheinlich das ist, weiß niemand.
Und dann?
Dann wird es eine Erschütterung geben. Das liegt schon allein in der Natur seines Regimes. Russland ist derzeit eine personalisierte Diktatur, die Institutionen spielen keine wesentliche Rolle mehr. Putin ist die letzte Instanz von allem. Vielleicht gelingt es ihm, einen Nachfolger aufzubauen. In jedem Fall aber wird es eine neue Machtstruktur geben müssen, der nächste russische Präsident braucht eine eigene Legitimation, selbst wenn er Putins Zirkel entstammt. Die entscheidende Frage ist dann, ob der Nachfolger gemäßigter oder eventuell sogar radikaler in seinen Ansichten ist als Putin.
Was bedeutet das für den Westen?
Es ist unheimlich wichtig, die Ukraine zu unterstützen – und zwar aus meiner Sicht deutlich stärker, als das bisher geschieht. Letztlich braucht die Ukraine belastbare Sicherheitsgarantien. Ohne sie gibt es keinen Frieden. Was das anderes als eine Nato-Mitgliedschaft sein kann, sehe ich nicht. Denn alles andere würde Russland wohl nicht respektieren. Außerdem braucht der Westen eine Strategie für eine Zukunft nach Putin.
Gibt es die noch nicht?
Ich sehe zumindest noch keine. Im Kanzleramt tun sie zwar immer, als wüssten sie mehr. Aber schauen Sie auf die peinliche Initiative von Scholz, mit Putin telefonieren zu wollen. Der Kreml hat prompt gesagt: Es gibt nichts, worüber wir reden können. Das wirkt auf mich planlos und als ob sich Scholz von AfD, BSW und Teilen der SPD durchs Dorf treiben lässt. Das ist ein Armutszeugnis für den Kanzler. Dabei ist es wichtig, Russland deutliche Grenzen aufzuzeigen.
Sehen Sie die Möglichkeit, dass sich der Westen größeren Einfluss in Russland verschafft, um nicht nur untätig dabei zuzuschauen, wie sich das Land entwickelt?
Ich halte es für eine Illusion, dass das überhaupt möglich ist. Ich habe rund 25 Jahre in Russland Demokratieförderung betrieben. Das Wichtigste, das ich dabei gelernt habe, ist, dass man bescheiden bleiben muss – das gilt nicht nur, aber besonders für ein so großes Land wie Russland. Man kann Angebote machen, aber letztlich müssen die Leute selbst Veränderung herbeiführen.
Das klingt wenig Erfolg versprechend: Putin sitzt fest im Sattel, die russische Gesellschaft wirkt apathisch und die Opposition im Exil scheint den Bezug zur Lebensrealität der Menschen in Russland verloren zu haben. Woher soll da Wandel kommen?
Aus der russischen Gesellschaft heraus, wahrscheinlich sogar aus der gegenwärtigen politischen Elite. Diese ist in ihrem Lebensstil völlig verwestlicht, viele Kinder der Eliten sind auf Schulen und Universitäten im Westen gegangen, haben Villen am Mittelmeer. Jetzt verlagern sie ihren Besitz vielleicht nach China oder in die Arabischen Emirate. Ich denke aber, dass sie dort auf Dauer nicht glücklich werden.
Ich weiß, dass viele dort, trotz der Loyalität mit Putin, den Krieg und die unerbittliche Konfrontation mit dem Westen für schädlich für ihr Land halten. Nach Putin könnten sie umdenken. Und dann gibt es immer noch Russen mit großem Freiheitsdrang, der sich wieder Bahn brechen kann.
Glauben Sie wirklich daran?
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es passieren wird. Ich weiß aber, dass ein solcher Wandel in Russland vor 35 Jahren schon passiert ist und deshalb wieder passieren kann. Das ist meine These. Möglicherweise bin ich aber einfach nur ein unverbesserlicher Optimist.
Herr Siegert, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Interview mit Jens Siegert in Berlin