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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Volt-Spitzenkandidatin Koohestanian "Mir fällt es schwer, so etwas zu sagen"

Europaweite Lösungen und Vernetzung: Das fordert die Partei Volt. Sie ist in den deutschen Straßen überaus präsent. Doch was sind ihre Antworten auf die aktuellen Probleme?
Sie sitzt bereits in mehreren Stadtparlamenten, teilweise sogar mit Regierungsbeteiligung, im Europaparlament ist sie mit drei deutschen Abgeordneten vertreten: Nun will die paneuropäische Partei Volt auch in den Bundestag einziehen. Auch wenn die Partei bei den Fernsehdebatten fehlt, ist Volt aktuell überaus präsent. Denn die violettfarbenen Wahlplakate hängen massenhaft in den deutschen Städten, in den sozialen Medien wirbt Volt intensiv.
Auf den Plakaten und in den Spots zu sehen ist die Spitzenkandidatin Maral Koohestanian. Im Interview mit t-online offenbart sie ihre Haltung zur aktuellen Migrationsdebatte und erklärt, was sich bei den Waffenlieferungen in die Ukraine ändern müsste.
t-online: Frau Koohestanian, viele Menschen glauben, ihre Stimme sei verschenkt, weil Volt ohnehin nicht in den Bundestag einziehe. Sie haben vergangenes Jahr gesagt, Sie verstehen diese Menschen. Jetzt wollen Sie als Spitzenkandidatin gewählt werden. Verschenkt man seine Stimme, wenn man Sie wählt?
Maral Koohestanian: Wir schaffen die Fünfprozenthürde. Wir haben unsere Mitgliederzahl seit Juni verdoppelt. Das ist ein krasser Zuwachs. Und für uns ist das ein klarer Auftrag, für die junge Generation die Stimme im Bundestag zu sein.
Umfragen sagen aktuell etwas anderes, demnach ziehen Sie nicht ein.
Diese Umfragen sind problematisch, weil wir dort nicht geführt werden. Wir werden gar nicht einzeln abgefragt und laufen unter Sonstiges. Und diese Gruppe hat einen hohen Anteil in den Umfragen. Die Wahlpräferenz eines großen Teils der Bevölkerung wird gar nicht erfasst. Es besteht so noch gar nicht die Möglichkeit, auf uns zu schauen.
Der Anteil der Sonstigen liegt je nach Umfrage bei fünf bis neun Prozent. Davon werden sicher nicht alle Stimmen auf Volt fallen.
Das Problem ist, dass man das nicht nachvollziehen kann. Wir fordern daher, dass alle Parteien bei allen Umfragen explizit ausgewiesen werden.
Ihr Gesicht ist momentan überall. Auf den Volt-Wahlplakaten sind deutschlandweit ausschließlich Sie zu sehen. Warum?
Als Spitzenkandidatin bin ich das Gesicht der Kampagne. Jedes Plakat von mir hängt mit einem thematischen Plakat und unserer Botschaft zusammen: Holen wir uns die Zukunft zurück.
Der Wahlkampf ist mittlerweile in vollem Gange. Die CDU hat nun einen Fünf-Punkte-Plan zur Eindämmung der Migration durchgesetzt – mit den Stimmen der AfD. Was halten Sie von dem Plan?
Wir können uns nicht vorstellen, unsere Grenzen in Deutschland zu schließen. Wir wollen in einem starken Europa gemeinsam unsere Herausforderungen angehen, sei es bei Klimaschutz, Digitalisierung oder Asyl und Migration. Das ist unsere klare Antwort auf den Nationalismus, der propagiert wird.
Viele Menschen in Deutschland fühlen sich aber von der Migration überfordert. Was sind Ihre Lösungen, um den Sorgen der Menschen in diesem Bereich entgegenzukommen?
Kein Mensch flieht freiwillig. Diejenigen, die ankommen, kommen mit einer Hoffnung, dass es besser wird. Wir haben in Deutschland momentan aber ein System, in dem Menschen nicht direkt ankommen können: Sie können nicht sofort arbeiten und bekommen keine psychologische Betreuung. Das müssen wir ändern. Aber das Narrativ zu verschieben und zu sagen, Migration ist unser großes Problem, das halte ich für komplett absurd und falsch.
Und was haben Sie für Lösungen hinsichtlich der zunehmenden Zahl von Angriffen, die auch von Geflüchteten verübt werden?
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ich bin selbst Deutsch-Iranerin. Wäre mein Vater damals nicht nach Deutschland gekommen, wäre ich jetzt nicht hier. Das heißt, wir leben von dieser Vielfalt. Und das möchten wir so fortführen. Aber wir brauchen ein viel besser ausgebautes Angebot. Nur vier Prozent aller psychisch kranken Geflüchteten bekommen professionelle Hilfe. Das ist eine schlechte Zahl.

Zur Person
Maral Koohestanian ist die Spitzenkandidatin für Volt bei der Bundestagswahl. Die 32-Jährige sitzt bereits in Wiesbaden im Stadtrat und ist dort zudem Dezernentin für Smart City, Europa und Ordnung.
Aber der Täter aus Aschaffenburg hätte ebenso wie der Angreifer von Solingen bereits abgeschoben werden sollen. Das hat nicht funktioniert, mehrere Menschen sind gestorben. Wie wollen Sie sichergehen, dass sich so etwas nicht wiederholt?
Die Kommunen sind krass unterfinanziert und können gar nicht mit all den Herausforderungen umgehen. Das heißt, es braucht eine viel bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen, um mit diesen Herausforderungen umgehen zu können. Aber diese Vorfälle passieren überall, der Fokus der populistischen Debatte wird nur sehr auf Menschen mit Migrationshintergrund gelegt.
Aber verharmlosen Sie da nicht die Fälle, die dennoch passiert sind? Noch mal die Frage: Welche Strategie haben Sie, um die Menschen vor weiteren Vorfällen zu schützen?
Beim Täter von Aschaffenburg hat eine Behörde versagt, weil sie wahrscheinlich unterfinanziert und unterbesetzt ist. Wir brauchen also eine bessere, stabilere Verwaltung, damit sie besser reagieren kann.
Die Sicherheitsbehörden fordern weitere Befugnisse wie Vorratsdatenspeicherung und biometrische Gesichtserkennung. Ihre Partei lehnt das im Wahlprogramm ab. Was braucht man stattdessen?
Wir lehnen Maßnahmen ab, die Grundrechte verletzen und keinen nachweisbaren Sicherheitsgewinn bringen. Stattdessen wollen wir den gezielten Ausbau von Cybercrime-Einheiten, moderne digitale Forensik und eine bessere europäische Koordination der Sicherheitsbehörden – effektiv, rechtsstaatlich und ohne Massenüberwachung.
Auch die deutsche Verwaltung möchte Volt radikal digitalisieren. Warum gelingt das in Ländern wie Estland und Dänemark, aber nicht in Deutschland?
Estland hat einfach 20 Jahre früher angefangen als wir. Die Bevölkerung gibt dem Staat dort eine Art Vertrauensvorschuss. Wenn jemand ohne Berechtigung auf Daten von anderen Personen zugreift, erhält er enorme Strafen. Das erlaubt es dem Staat auch, transparenter zu sein und anders mit Fehlern umzugehen – anders als in Deutschland, wo versucht wird, alles unter den Teppich zu kehren.
Und wie schafft man es jetzt in Deutschland, zu solchen Vorreitern aufzuschließen?
Es gibt die Lösungen schon, wir müssen sie jetzt nur noch umsetzen. Ein Beispiel: Ich habe als Dezernentin in Wiesbaden als erste Stadt in Deutschland das Video-Identifizierungsverfahren eingeführt. Dadurch kann man sich online für die Eheschließung registrieren und den Wohnsitz anmelden.
Nicht nur im Inneren, sondern auch in der Außenpolitik stehen Deutschland und Europa in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. Zuletzt gab es in Deutschland eine rege Debatte um Waffenlieferungen in die Ukraine. Wie steht Volt zu dem Thema?
Wir wollen gemeinsam mit den anderen Staaten in Europa die Waffenlieferungen für die Ukraine auf einen gemeinsamen Standard bringen. Aktuell liefern die Verbündeten teilweise alte Sowjetsysteme, teilweise moderne Nato-Systeme. Das wollen wir vereinheitlichen.
Aber reicht das aus, um gegen Putin zu bestehen?
Wir müssen an dieser Stelle stabil sein und geschlossen zusammenstehen. Denn wir sind gerade diejenigen, die Europa gegen Putins Aggression verteidigen. Wenn wir das nicht schaffen, haben wir nach einem möglichen Ende des Krieges in der Ukraine ganz andere Herausforderungen. Dann könnte der Krieg, der jetzt am Rande Europas stattfindet, direkt zu uns kommen.
Bundeskanzler Scholz hat sich zuletzt gegen die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus gestellt, mit der die Ukraine Ziele im russischen Hinterland attackieren könnte. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin der Meinung, dass wir der Ukraine alles liefern müssen, damit sich das Land verteidigen kann. Mir persönlich fällt es zwar schwer, so etwas zu sagen. Aber wir sehen eben auch, wie Europa angegriffen wird. Und dagegen muss sich die Ukraine verteidigen können.
Der US-Präsident Donald Trump fordert schon länger Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Wollen Sie auch auf schnelle Verhandlungen hinarbeiten?
Sollte es Möglichkeiten zu Verhandlungen zwischen den beiden Ländern geben, dann begrüße ich das auf jeden Fall. Allerdings ist Russland der Aggressor, und die Ukraine sollte im Verlauf dieser Verhandlungen nicht zu viele Zugeständnisse machen müssen.
Volt will eine europäische Armee auf die Beine stellen. Wie soll das funktionieren, wenn Deutschland aktuell sogar Schwierigkeiten damit hat, die Bundeswehr wehrfähig zu halten?
Wenn wir in die USA oder nach Russland schauen, müssen wir uns leider Gedanken über die Zukunft machen. Wir sollten uns also von nationalen Alleingängen verabschieden und die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam als Europäische Union angehen. Das Problem sind dabei derzeit noch die vielen verschiedenen Meinungen in der EU, wenn es um die gemeinsame Sicherheit geht.
Die Utopie, dass ganz Europa zusammen an der Sicherheitsarchitektur baut, ist schön und gut. Aber die Realität sieht doch anders aus.
Ja, leider. Aber deshalb brauchen wir eine Reform in der EU. Volt will sich für ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips starkmachen. Mit einem Mehrheitsstimmrecht auf europäischer Ebene könnten einzelne Länder Entscheidungen der EU nicht mehr blockieren. Dann wäre auch eine europäische Armee möglich.
Das klingt sehr theoretisch. Um diese Armee zu finanzieren, schlägt Volt im Wahlprogramm die Erhöhung des Verteidigungsbudgets auf drei Prozent vor. Reicht das aus, um eine europäische Armee auszurüsten?
Drei Prozent sind schon mal mehr als das, was wir aktuell ausgeben. Das ist der Grundstein für weitere Erhöhungen des Wehretats, wenn es nötig wird. Da müssen erstmal alle anderen europäischen Länder zustimmen. Wenn du bei denen direkt mit fünf oder sechs Prozent ankommst, sinken die Chancen auf Zustimmung deutlich. Grundsätzlich müssen wir uns aber auch über den Bundeswehrnachwuchs Gedanken machen. Wir müssen uns fragen, wie wir Anreize für junge Menschen schaffen können, damit sie zum Bund gehen oder alternativ einen Sozialdienst machen.
Brauchen wir eine Wehrpflicht?
Nein. Wir können junge Menschen nach der Corona-Zeit, in der viele Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung verloren haben, nicht zu Dingen verpflichten, die sie überhaupt nicht wollen. Vielmehr benötigen wir positive Geschichten, Zukunftsvisionen und Anreize, um den Nachwuchs der Bundeswehr zu sichern.
Kommen wir noch mal auf den Ukraine-Krieg zurück. In Ihrem Wahlprogramm heißt es explizit, China müsse als möglicher Vermittler in Betracht gezogen werden. Folgt man dieser Argumentation, könnte China eine Beschützerrolle für Europa einnehmen, was ein komplett neues Paradigma in der europäischen Sicherheitsarchitektur wäre. Sollte Europa diese neue mögliche Rolle Chinas unterstützen?
Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass wir China als Vermittler an den Verhandlungstisch holen, dann sollten wir uns diese Option zumindest offenhalten und überlegen, welche Ideen China mitbringt.
Sehen Sie China nicht als Sicherheitsrisiko an?
Wir dürfen uns zumindest nicht von China abhängig machen – aber das gilt auch für Russland. Im Zuge des Ukraine-Kriegs haben wir gesehen, was passiert ist, weil wir uns zu stark von russischen Ressourcen abhängig gemacht haben. Deshalb müssen wir uns jetzt Gedanken dazu machen, wie ein starkes, unabhängiges Europa in Zukunft aussehen kann.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Koohestanian.
- Interview mit Maral Koohestanian