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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert "Solche Äußerungen sorgen für Wut"
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert warnt im Interview vor Wohlstandsdebatten und erklärt, warum er Energiespartipps von Politikern für problematisch hält.
Mit kleiner Verspätung kommt Kevin Kühnert zum Interview im Bundestag: Eine Telefonschalte hat ihn aufgehalten. Seine Augenringe sind bei ihm Standard wie die Turnschuhe und zeugen von einem strammen Terminkalender. Am Wochenende steigt er in den Wahlkampf in Niedersachsen ein. Bei den Wahlkämpfern und -kämpferinnen ist er gefragt, weil er den richtigen Ton zwischen Populismus und Programm trifft.
t-online: Herr Kühnert, die Regierung will die Mehrwertsteuer auf Gas für alle Verbraucher senken, auch für Gutverdiener wie Sie. Wäre eine gezielte Entlastung für Personen mit geringem und mittlerem Einkommen nicht gerechter?
Kevin Kühnert: Es ist eine Entlastung für alle Gas verbrauchenden Privathaushalte, aber da sie verbrauchsabhängig ist, gibt es eine besonders spürbare Entlastung für diejenigen mit mittleren und geringen Einkommen.
Wie das?
Wer ein zehnfach höheres Einkommen hat, verbraucht in der Regel nicht zehnmal so viel Gas im Haushalt. Von kleineren Einkommen geht also ein größerer Anteil für die Energiekosten drauf. Insofern wird die Entlastung hier nun besonders spürbar.
Die Maßnahme erinnert an den Tankrabatt. Da gaben Unternehmen die Steuernachlässe allerdings nicht in Gänze an die Bürger weiter.
Bei vielen Gasverträgen in Deutschland ist die Weitergabe von solchen Maßnahmen vertraglich vereinbart. Und natürlich werden Politik und kritische Öffentlichkeit in den nächsten Monaten penibel darauf achten, dass die Mehrwehrsteuersenkung tatsächlich an die Bürger weitergegeben wird. Und im Zweifel gäbe es auch noch rechtliche Möglichkeiten.
Die Kritik an den Entscheidungen der Regierung wie jetzt an der Senkung der Mehrwertsteuer oder auch der Gasumlage selbst reißt nicht ab. Was läuft da gerade eigentlich schief beim Thema Gas?
Die Vorgänge sind komplex. Die Gasumlage soll jene Unternehmen stützen, die Gas einkaufen, insbesondere Uniper. Es geht also darum, die Versorgungssicherheit der Menschen zu gewährleisten. Von der Mehrwertsteuersenkung werden jetzt ganz besonders diejenigen profitieren, die neue Verträge abschließen. Bei Neuverträgen kostet die Kilowattstunde aktuell etwa 31 Cent.
Wollen Sie, dass auch Gaskunden mit Festpreisverträgen die Umlage zahlen?
Das ist eine juristisch zu klärende Frage, die momentan im Wirtschaftsministerium von Herrn Habeck geprüft wird. Es wäre schön, wenn die Prüfung jetzt bald zu einem Ergebnis kommen würde. Das gilt auch für Fernwärmekunden oder Stromkunden, wenn die Energie aus Gas erzeugt wird. Sehr viele Leute in Deutschland warten dringend auf diese Antworten, und wir sollten sie ihnen zügig geben.
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Deutschland wartet auf die neuen Entlastungen der Regierung. Ist es beschlossene Sache, dass Bürgergeld und Wohngeld erhöht werden?
Dazu haben sich alle drei Parteien mehrfach bekannt. Die exakte Ausgestaltung wird jetzt im Gespräch miteinander geklärt.
Das gilt auch fürs Bürgergeld?
Das Bürgergeld kommt zum 1. Januar 2023 und löst Hartz IV ab, das steht fest und ist ein großer Erfolg für die SPD. Es gab ja gelegentlich unterschiedliche Auffassungen zwischen der SPD und FDP, wie weit die Regelsätze beim Bürgergeld angepasst werden müssen. Jetzt hat Herr Lindner auf den Vorwurf, seine Einkommenssteuerpläne seien nicht sozial ausgewogen, geantwortet, die Regierung würde ja auch beim Wohngeld und beim Bürgergeld etwas tun. Ich interpretiere das so, dass er erkannt hat, dass auch bei den Regelsätzen etwas passieren muss, was über eine Erhöhung von drei oder acht Euro hinausgeht. Das ist gut so.
Wann steht das Entlastungspaket?
Bevor der Bundestag in zwei Wochen wieder zu seinen Sitzungen zusammenkommt, sollte das Ganze nach meiner Überzeugung zu einem tatsächlichen Paket geworden sein. Die Menschen in Deutschland verdienen gleichermaßen zügige wie auch sorgfältige Entscheidungen.
Können auch Normalverdiener mit Entlastungen rechnen – also Menschen, die 49.000 Euro brutto verdienen?
Für die SPD ist das selbstverständlich. Wer mit diesem Einkommen eine Familie ernähren muss, ist wahrlich nicht reich.
Zur Finanzierung schwebt Ihnen eine Übergewinnsteuer vor – die FDP blockiert das allerdings.
Bei der Übergewinnsteuer geht es nicht allein um staatliche Mehreinnahmen, sondern um eine grundlegende Gerechtigkeitsfrage. Es kann nicht sein, dass einige wenige von Krieg und Krise massiv profitieren, während die breite Mehrheit ohne eigenes Verschulden massive Mehrbelastungen erduldet.
Für Sie ist die Übergewinnsteuer also eine Frage des sozialen Friedens?
Ja, sie würde tatsächlich belegen, dass wir uns in Deutschland unterhaken, wie der Kanzler es zu recht fordert. Die verschiedenen Interessengruppen der Gesellschaft müssen in der Krise zusammenstehen. Dazu gehört auch, dass Energieunternehmen, die zufällig und leistungslos enorme Gewinne einfahren, ihren solidarischen Beitrag leisten.
Innenministerin Nancy Faeser oder auch Außenministerin Annalena Baerbock rechnen mit sozialen Unruhen angesichts von Gasnotstand und Inflation. Wie groß ist die Gefahr?
Da gibt es zwei unterschiedliche Seiten der Medaille. Wir erleben eine permanente Verschiebung und Überschreitung von Grenzen durch eine kleine radikalisierte Gruppe, die gegen alles opponiert. Und zwar nicht in einer demokratischen Weise. Das ist das Gefährliche an Antidemokraten: Sie schlagen nicht erst los, wenn sie die Mehrheit errungen haben. Denn sie weisen ja ein politisches System, in dem Mehrheiten entscheidend sind, zurück. Antidemokraten ermächtigen sich selbst. Sie machen sich ihre eigenen Spielregeln, greifen zur Waffe, stürmen den Reichstag. Die Themen sind austauschbar, aber die Agenda dahinter, die ist immer die gleiche. Es ist Nancy Faesers Verdienst, dass die Sicherheitsbehörden das nun fest im Blick haben.
Und die andere Gefahr?
Es gibt Warnungen vor einer Gelbwesten-Bewegung wie in Frankreich, also vor Leuten, die sich radikalisieren wegen der steigenden Preise und einer ungerechten Politik. Das beste Instrument dagegen haben wir ja als Regierung selber in der Hand: Ein solidarisches, kluges Krisenmanagement und eine Politik des sozialen Ausgleichs. Darauf sollten wir jetzt alle Kraft verwenden.
Erleben Sie selbst mehr Bedrohungen als früher?
Ich persönlich bislang nicht. Aber ich erlebe, dass es einen radikalen Unterschied zwischen der Straße und den sozialen Netzwerken gibt. Auf der Straße sagen mir Leute oft: Schön, dass wir uns mal treffen, auch wenn ich nicht Ihrer Meinung bin. Diese abwägende Tonlage fehlt mir im Netz völlig. Da gilt nur noch: Bist du nicht für mich, bist du gegen mich. Das ist aber keine Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft.
Was muss geschehen?
Wir müssen uns als Gesellschaft immer wieder zusammenraufen. Dazu gehört auch, dass alle Seiten bei der Wahl der rhetorischen Mittel achtsam sein müssen. Mein Eindruck ist jedoch: Einige haben eine gewisse Lust an der Apokalypse entwickelt. Sie nutzen jede Krise, um zu behaupten, wir seien dem Untergang geweiht. Politische Bewegungen wie "Aufstehen" ...
… eine von Sahra Wagenknecht und anderen prominenten Linken gegründete Aktion …
… ja, wobei sie ja schnell wieder in der Versenkung verschwunden ist. Gruppierungen wie diese haben es zum Geschäftsmodell gemacht, die angeblich kurz bevorstehende Apokalypse zu beschwören. Davon sollte man sich fernhalten.
Aus der Politik mehren sich Stimmen, dass man angesichts der Lage den Begriff von Wohlstand neu definieren müsse. Müssen wir lernen, dass Wachstum und Wohlstand im klassischen Sinne Relikte der Vergangenheit sind?
Das ist eine spannende, nicht neue Debatte. Aber in Zeiten wie diesen sollte man genau überlegen, welche Wirkung solche Worte haben. Wenn manche Grünen-Politiker zum Beispiel sagen, dass die Gasumlage nötig sei, weil sonst der Anreiz zum Energiesparen nicht gegeben sei, dann klingt das in den Ohren all jener zynisch, die gerade eine Verdreifachung ihrer Energiepreise erfahren. Die spüren längst mehr als genug diesen sogenannten Anreiz. Solche Politikeräußerungen sind technokratisch und sorgen für Wut.
Warum?
In der Praxis wissen ärmere Menschen nicht erst seit Putins Krieg, wie man im Alltag spart und wie hart das ist. Deshalb halten wir von der SPD uns auch mit Spartipps an die Bevölkerung zurück. Ich finde es schräg, wenn Menschen mit fünfstelligem Monatseinkommen anderen erklären, wie man spart. Das wissen die nämlich meist viel besser.
Sie duschen also nicht kürzer, seit Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen das angeregt hat?
Ich kommentiere mein Duschverhalten nicht. Die Hinweise von diversen Politikern und Politikerinnen zu diesem Thema haben in meinem Kopf Bilder ausgelöst, die ich gar nicht haben wollte.
Aber Politiker haben auch eine Vorbildfunktion. Deshalb doch noch einmal gefragt: Sparen Sie Energie und wenn ja, wie?
Ja, und auch als Generalsekretär der führenden Regierungspartei ist mir das wichtig. In unserer Parteizentrale versuchen wir, zu sparen, wo es geht. Wir spülen mit gesammeltem Regenwasser, haben Fotovoltaik auf dem Dach und haben die Beleuchtung am Gebäude zurückgefahren.
Im Zuge der Gaskrise wird auch diskutiert, ob die drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke länger laufen sollen. Wann kommt endlich das Ergebnis des Stresstests, welches darüber Auskunft geben soll?
Das Ergebnis soll Ende des Monats August vorliegen. Unterhaltsam finde ich, wenn die Regierung aufgefordert wird, eine "ideologiefreie" Entscheidung zu treffen, aber damit schon ein ganz klares Ergebnis gemeint ist. Manchmal ist Sprache verräterisch.
Wie lautet Ihre persönliche ideologiefreie Haltung: Sollten wir alle drei verbliebenen Atomkraftwerke in den Streckbetrieb schicken?
Meine klare Haltung ist: Wir warten das Ergebnis des Stresstests ab und dann entscheiden wir. Klar ist für die SPD aber auch: Einen Wiedereinstieg in die Atomkraft als vermeintliche Lösung der Energiefrage wird es mit uns nicht geben. Atomkraft ist nicht nachhaltig, für den Atommüll haben wir weiterhin keine Lösung.
Zur Person
Kevin Kühnert wurde am 1. Juli 1989 als Sohn eines Finanzbeamten und einer Jobcenter-Mitarbeiterin im Westen Berlins geboren. Nach Abitur und Freiwilligem Sozialen Jahr begann er ein Publizistikstudium, was er aber wieder abbrach. Von 2017 bis Anfang 2021 war er Bundesvorsitzender der Jusos, galt als einer der Strippenzieher hinter der Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu den Parteivorsitzenden. Seit Dezember 2021 ist Kühnert SPD-Generalsekretär. Er lebt in einer WG in Berlin-Schöneberg.
Durch staatsanwaltliche Ermittlungen sind neue Details in der Cum-Ex-Krise ans Licht gekommen: Gelöschte E-Mails, verschwiegene Treffen und noch mehr. Wie belastet ist der Kanzler?
Der Kanzler erledigt unbeirrt seine Arbeit. Seit über zwei Jahren versuchen einige Personen, Olaf Scholz nachzuweisen, dass es bei den widerrechtlichen und empörenden Cum-Ex-Praktiken der Warburg-Bank einen politischen Einfluss unter seiner Führung gegeben habe. Dieser Verdacht konnte weder belegt noch erhärtet werden. Daran hat sich nichts geändert.
Im Untersuchungsausschuss in Hamburg hat er mehrfach behauptet, sich nicht mehr so genau erinnern zu können. Und dann sind da noch E-Mails seiner Büroleiterin, die den Verdacht der Löschung von Informationen nahelegen.
Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss ist kein Gerichtsprozess, sondern ein politischer Machtkampf. Da ist es doch klar, dass jene Politiker, die in der Opposition sind, nicht mit dem Aufritt des Kanzlers zufrieden sind. Das liegt in der Natur der Sache.
Verdächtig ist auch der Fund von über 200.000 Euro in einem Bankschließfach des früheren Hamburger SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs, der Gespräche zwischen Bank und Scholz vermittelte. Schadet der Genosse der Partei und dem Kanzler, wenn er dazu weiter schweigt?
Ich bin ein großer Fan unseres Rechtsstaats. Dabei ist es völlig egal, wie ich persönlich zu Johannes Kahrs stehe. Ich plädiere dafür, die Ermittlungen abzuwarten.
Gegen einen anderen Genossen, Ex-Kanzler Gerhard Schröder, ist gerade ein Parteiausschlussverfahren in erster Instanz gescheitert. Sollte es weitere Versuche geben?
Das entscheiden die Antragsteller und Antragstellerinnen. Sie haben derzeit eine zweiwöchige Frist, in der sie dies entscheiden können.
Wie sehr schadet Schröder der Partei?
Dieser Mann hat im Hier und Jetzt keinerlei Einfluss mehr auf die Politik der SPD und auf den Umgang mit Russland und der Ukraine. Das wird sich auch nicht mehr ändern.
Manche glauben, er könnte im Fall von Friedensverhandlungen mit Putin doch noch mal eine Rolle spielen.
Da sehen Sie mal, wie weit man es mit PR-Besuchen in Moskau bringen kann. Jenseits dessen bin ich überrascht, wie viele Menschen immer noch bereit sind, sich von Putin wieder und wieder belügen zu lassen. Ich halte es für naiv, wenn Politiker wie Wolfgang Kubicki ernsthaft glauben, Putin würde bei den Gaslieferungen schon einlenken, wenn wir nur Nordstream 2 eröffnen würden. Das setzt ein Maß an Rationalität bei Herrn Putin voraus, für das es keinen Hinweis gibt. Ich werbe sehr dafür, dass wir uns diese nochmalige und nochmalige Demütigung ersparen, Putin immer wieder um etwas zu bitten, was wir am Ende nicht bekommen. Die Abhängigkeit von ihm muss ein für alle Mal enden.
- Interview mit Kevin Kühnert im Bundestag