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Coronavirus: Wie Deutschland die Vorsorge der Covid-19-Pandemie verschlief


Wie Deutschland die Corona-Pandemie verschlief

  • Jonas Mueller-Töwe
  • Lars Wienand
Von Jonas Mueller-Töwe, Lars Wienand

Aktualisiert am 28.05.2020Lesedauer: 11 Min.
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Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (Symbolmontage): Auf die Pandemie war Deutschland hinsichtlich von Schutzausrüstung schlecht vorbereitet.Vergrößern des Bildes
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (Symbolmontage): Auf die Pandemie war Deutschland hinsichtlich Schutzausrüstung schlecht vorbereitet. (Quelle: imago-images-bilder)

Mitten in der Corona-Pandemie ist der Bund auf milliardenschwere Einkaufstour gegangen. Überall in Deutschland fehlte Schutzausrüstung. Doch niemand will dafür verantwortlich sein.

Als sich das Coronavirus in Deutschland verbreitet, muss plötzlich alles ganz schnell gehen: Masken, Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel müssen her, überall in Deutschland fehlen sie. Krankenhäuser und Pflegeheime schlagen Alarm, manche Arztpraxen schließen ganz den Betrieb. In der Not wenden sich Träger und Verbände an den Staat. Was war schiefgelaufen, dass das Bundesgesundheitsministerium mehr als vier Wochen nach dem ersten positiven Corona-Test plötzlich eilig und zunächst wenig erfolgreich auf Einkaufstour gehen musste?

Das ganze Ausmaß der Versorgungslücke in Deutschland zu diesem Zeitpunkt ist nun erstmals an Zahlen abzulesen, die t-online.de exklusiv vorliegen. Presseanfragen dazu hatte das Bundesgesundheitsministerium nicht beantwortet, erst mit Anträgen nach dem Informationsfreiheitsgesetz an sechs Bundesministerien und -behörden liegt nun vor, welchen Fehlbedarf der Bund plötzlich sah.

Die Amtshilfeersuchen des Gesundheitsministeriums unter anderem an das Verteidigungsministerium listen auf, was eilig beschafft werden sollte:

  • 50 Mio. FFP2-Masken
  • 25 Mio. FFP3-Masken
  • 3 Mio. Schutzbrillen
  • 1,25 Mio. Ganzkörperschutzanzüge
  • 200 Mio. OP-Masken
  • 700 Mio. Paar Einmalhandschuhe
  • 9 Mio. Schutzkittel
  • 5 Mio. Dosen Chloroquin


Eigentlich hätten die bestehenden Pandemiepläne, die Handreichungen und Empfehlungen für die Betriebe zur Vorsorge verhindern sollen, dass Deutschland inmitten der Pandemie auf eine milliardenschwere Einkaufstour gehen musste.

Die Versorgungslücke ist das Ergebnis jahrelanger Versäumnisse. Die Recherchen zeigen: Die Zuständigkeiten wurden lange an die Betriebe delegiert – deren Vorsorge in der Corona-Krise in sich zusammenfiel.

Dabei war man Anfang Februar noch gelassen: Damals schickt Deutschland Material als Hilfslieferung nach China. Erst am 5. Februar 10.000 Schutzanzüge, dann noch einmal am 18. Februar, nun etwa zehn Prozent des Vorrats an Schutzsets dort. Es gibt laut "Die Welt" die Mahnung von Staatssekretären, das sei zu viel. Die vom Land versprochene Ersatzbeschaffung werde sich nicht so leicht gestalten, fürchten sie.

"Die Kliniken sind bestmöglich aufgestellt", erklärt derweil die Deutsche Krankenhausgesellschaft am 27. Februar. Aus den Ländern kommen Aussagen wie die von Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Heiner Garg: "Bestmöglich vorbereitet" sei das Land, sagt er nach einem Gespräch mit Ärzte- und Klinikvertretern. Zugleich fordert die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz allerdings Verhaltensempfehlungen im Falle fehlender Hygieneschutzausrüstungen infolge von Lieferengpässen.

"So eine Situation darf sich nicht wiederholen"

Offenbar werden zu dieser Zeit erstmals Mängel in der Vorsorge deutlich, obwohl deutschlandweit gerade einmal 32 Covid-Fälle bestätigt sind: Einen verzweifelten Auftrag fürs Nähen von Stoffmasken erteilt etwa Uwe Janssens für seine Klinik am St.-Antonius-Hospital Eschweiler. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) will 2.000 Stück – er bekommt lediglich 500. "So eine Situation wie in der ersten Phase darf sich nicht wiederholen", sagt Janssens zu t-online.de. Auf vielen Ebenen sei nicht bevorratet worden. “Wenn Sie Arzt sind, verlassen Sie sich darauf, dass eine übergeordnete Stelle irgendwie darauf hinweist."

Die Verantwortung dafür sieht er in Politik und Behörden. Es habe keine Regelungen gegeben, was hätte bevorratet werden sollen. "Wie viele Masken und Schutzkittel braucht ein 400-Betten-Haus? Welche Mengen ein Hausarzt? Darüber hat sich kaum jemand Gedanken gemacht." Ärzte im stationären wie im ambulanten Bereich hätten sich darauf verlassen: Behörden auf Landes- und auf Bundesebene weisen frühzeitig darauf hin, dass eine relevante Infektionswelle bevorsteht, um zu reagieren.

Frühe Warnungen an den Minister

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hätte vom aufziehenden Chaos um Schutzausrüstung in Mails von Achim Theiler lesen können, Geschäftsführer bei Großhändler Franz Mensch GmbH. Seit 45 Jahren beliefert das Unternehmen aus dem bayerischen Buchloe Kunden aus der Gesundheitsbranche in Deutschland und dem Ausland mit Schutzausrüstung und ist in den vergangenen Jahren kräftig gewachsen.

Seit der ersten Februarwoche wollten Chinesen im großen Stil einkaufen. "Ich appelliere an Sie, unterschätzen Sie die Problematik dieses Virus nicht!", schreibt Theiler dem Minister am 5. Februar. Auch auf Nachfrage kommt keine Antwort. Mit-Geschäftsführer Axel Theiler sagt: "Im Februar und März ist viel wertvolle Zeit verstrichen, in der die Behörden die Versorgung mit Schutzkleidung nicht in die Hand genommen haben."

Das erklärt sich auch aus einer verschachtelten Zuständigkeit: Zwar gibt es den Nationalen Pandemieplan. Der belässt die Vorsorge für den Notfall aber in der Zuständigkeit der Länder, die auf dieser Grundlage ebenfalls Pandemiepläne entwickelt haben.

Pläne zur Vorsorge reichten nicht aus

All diese Pläne sehen die Zuständigkeit für die Schutzausrüstung größtenteils bei den Arbeitgebern, den Firmen und Krankenhausbetreibern – und sprechen lediglich Empfehlungen zur Vorsorge aus. In der Corona-Pandemie wird klar, dass das nicht reicht. Am 3. März entscheidet der Bund, auf große Einkaufstour zu gehen.

Das Corona-Kabinett stellt die "außerordentliche Dringlichkeit" fest und beschafft ab diesem Zeitpunkt zentral medizinische Schutzausrüstung für Arztpraxen, Krankenhäuser und Bundesbehörden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen wollen an die Arztpraxen verteilen, sobald das notwendige Material zur Verfügung steht. Doch wie viel ist nötig? Das Ministerium beginnt die Liste für seine Amtshilfegesuche, die t-online.de nun vorliegt.

Doch der Wunschzettel ist nicht lang genug. Das wird spätestens klar, als die Rückmeldungen auf die Abfrage des Bundes eingehen. Öffentlich ist, was die Krankenkassen am 27. März als Bedarfsliste der niedergelassenen Ärzte anerkannt haben: Alleine die Praxen fordern rund 115 Millionen OP-Masken an, dazu 47 Millionen FFP2-Masken und 63 Millionen Einmalschutzkittel.

Drohende Engpässe waren bekannt

Wie konnte der Mangel solche Ausmaße annehmen? Sowohl die Risikoanalysen im Auftrag des Bundestags als auch maßgebliche Handlungsempfehlungen der Behörden an die Betriebe und Krankenhäuser beschreiben ausdrücklich drohende Lieferengpässe in der Pandemie. Noch im April 2019 wird eine Zusammenfassung der Analysen im Bundestag behandelt. In den maßgeblichen Dokumenten heißt es unter anderem:

  • "Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe." (Risikoanalyse “Pandemie durch Virus Modi-SARS, aus dem Jahr 2013)
  • "Im Falle einer Influenza-Pandemie werden nicht alle benötigten Materialien in entsprechender Menge lieferbar sein. Deshalb sollten sie bereits rechtzeitig vor Eintreten des Pandemiefalls (interpandemische Phase) bevorratet werden." (Beschluss 609 des Ausschusses für Biologische Arbeitsstoffe, aus dem Jahr 2012)

Doch der Bund zieht 2019, knapp ein Jahr vor der Corona-Pandemie, keine Konsequenzen. Er weist die Verantwortung für die Bevorratung von sich. "Der Katastrophenschutz sowie entsprechende Vorsorgemaßnahmen im Gesundheitsbereich im Fall einer Pandemie liegen in der Zuständigkeit der Länder", heißt es in Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. "Gleiches gilt für die Bevorratung von Schutzmaterial im Pandemiefall." Die Konsequenz: Weder der Bund noch die Länder schauen genau hin, ob tatsächlich in Krankenhäusern, Praxen und Pflegeheimen bevorratet wird.

Linke kritisieren Pandemieplanung scharf

"Was wir hier haben, ist organisierte Verantwortungslosigkeit", sagt dazu der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, Achim Kessler, heute. "Die nationale Pandemieplanung hat im Punkt der Schutzausrüstung schlicht versagt. Weder gibt es klare Zuständigkeiten, noch weiß die Bundesregierung, wie viele Masken und anderes Schutzmaterial wo vorhanden sind", sagt Kessler. Der Staat schiebe die Verantwortung auf die Arbeitgeber ab, verzichte auf Kontrollen und schere sich nicht um das Ergebnis. "Die Arbeitgeber wiederum rufen nun nach dem unvorbereiteten Staat."

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Das ganze Dilemma zeigt sich, wenn man bei Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörden der Länder nach Vorgaben zur Bevorratung von persönlicher Schutzausrüstung für den Pandemiefall fragt. Die Antworten sind kurz: Es gehöre zwar zu den Aufgaben der Arbeitgeber, Schutzausrüstung für Mitarbeiter zu besorgen, heißt es seitens der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege.

Personal oft erkrankt
Die Bedeutung von Schutzausrüstung wird daran deutlich, wie häufig sich Personal im Gesundheitswesen und in Heimen angesteckt hat. Nach RKI-Zahlen vom Dienstag entfallen 12.495 positive Fälle auf Mitarbeiter in Krankenhäusern, ärztlichen Praxen und Rettungsdiensten, zudem 8.987 auf die Beschäftigten in Heimen. In diesen Berufsgruppen gab es demnach mehr als zwölf Prozent aller in Deutschland nachgewiesenen Fälle. 65 Todesfälle entfallen auf Mitarbeiter. Weil aber bei fast jedem dritten Fall in der Statistik die Angabe zur Berufstätigkeit fehlt, könnte die Dunkelziffer noch höher sein.

Eine rechtliche Verpflichtung zur vorbeugenden Bevorratung bestehe aber nicht. In NRW gibt es lediglich die "Verordnung über die Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten für Großschadensereignisse in Krankenhäusern" – sie schreibt die Einlagerung von nur 500 Mund-Nasen-Schutzen vor.

Die Empfehlungen an die öffentlichen und privaten Träger hingegen sind deutlich. Sie stehen in aller Ausführlichkeit zu lesen im "Handbuch Betriebliche Pandemieplanung", das 2010 bereits in zweiter Auflage erschien. Erarbeitet wurde es vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe gemeinsam mit dem Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg.

  • "Erklären Sie daher die Pandemieplanung zur Chefsache! Es wird empfohlen, umgehend folgende Maßnahmen zu ergreifen: (...) Prüfen Sie, welche weiteren Vorsorgemaßnahmen Sie für Ihre Mitarbeiter ergreifen wollen – z. B. die Bevorratung von antiviralen Arzneimitteln, persönlicher Schutzausrüstung sowie deren Bereitstellung und Einsatzregeln."

Die Zuständigkeit ist damit klar, sagt zumindest der Gesundheitsökonom Reinhard Busse, Professor an der TU Berlin und Leiter des Gesundheitsökonomischen Zentrums Berlin. Wer auf seine Rolle als eigenverantwortlich wirtschaftender Akteur im Gesundheitswesen poche, müsse auch seine Aufgaben nach den Pandemieplänen ernst nehmen – und dazu gehöre das Bevorraten.

"Jeder dachte, er kann jederzeit beim Großhändler einfach bestellen und kaum wer hat bedacht, was sein könnte, wenn der Großhändler nichts mehr hat", sagt Busse. In der Not hätten die Kliniken sich dann auf den Standpunkt gestellt, dass irgendwer für Schutzkleidung hätte sorgen müssen. "Die Krankenhäuser haben es geschickt hinbekommen, sich zu den Rettern in der Krise zu erklären, dabei waren die Häuser ja weitgehend leer."

"Wir stehen vor einem riesigen Problem"

Mitte März zeigt sich mit voller Wucht, wie dramatisch die Lage im Land ist. Mehrere sicher geglaubte Käufe platzen. 50 Millionen vom Bund georderte FFP2-Masken für 276 Millionen Euro existieren gar nicht, wie eine Kontrolle in einer Halle in Neuss kurz vor Zahlung zeigt. Die Generalzolldirektion bekommt zudem die niederschmetternde Nachricht eines Händlers, dass in Kenia 6 Millionen dem Bund versprochene Masken abhanden gekommen seien. Mutmaßlich waren sie nie dort.

Nun überschlagen sich die Alarmmeldungen. "Wir stehen jetzt vor einem riesigen Problem", schreibt die KV Berlin am 16. März. "Die niedergelassenen Ärzte können die Regelversorgung ohne Schutzausrüstung nicht mehr aufrechterhalten." Die KV Niedersachsen teilt am 20. März mit, dass Schutzausrüstung nur noch bekommt, wer bereits bestätigte Fälle von Covid-19 behandelt.

Am gleichen Tag telefoniert Stephan Pusch, Landrat im besonders betroffenen Kreis Heinsberg, mit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Bundeswehr liefert zwei Tage später einen Notvorrat. Es ist Sonntag, aber er wird direkt weiter verteilt in die Krankenhäuser. Es ist Material für zwei, drei Tage. Dann ist auch dieser Notvorrat der Bundeswehr aufgebraucht.

Es gibt nationale Erbsenvorräte, es gibt Erdölprodukte für drei Monate und nationale Streusalzreserven. Auch eine kleine Reserve für einen Massenaufkommen von Verletzten gibt es seit der WM 2014, dafür halten auch die Länder etwas Material vor. Aber Schutzausrüstung für die Corona-Pandemie – das sieht auch der Nationale Pandemieplan gar nicht vor.

"Vorrat schmilzt schneller als Schnee in der Sonne"

Das könne an Bedenken in den Ministerien gelegen haben, vermutet ein Wissenschaftler, der an verantwortlicher Stelle am Nationalen Pandemieplan mitgewirkt hat. Seinen Namen will er nicht genannt sehen, weil er zur Vertraulichkeit verpflichtet ist. "So ein Vorrat schmilzt in der Pandemie schneller als Schnee in der Sonne."

Seine Einschätzung: Verbindliche Bevorratung – für Staat oder Unternehmen – bedeute auch erhebliche Kosten. Auf die nächste Influenza habe man Jahrzehnte gewartet, Schutzausrüstung habe auch ein Verfallsdatum. "Wenn die dann nicht gebraucht wird, heißt es: Wer hat da wieder Geld verschwendet?"

So geschehen im Fall der Schweinegrippe im Jahr 2009: Damals investierten die Bundesländer rund 250 Millionen Euro in die Beschaffung des Impfstoffs Pandemrix – um ihn wenige Jahre später ungenutzt zu entsorgen. Auch die 330 Millionen Euro von Bund und Ländern für das Grippemittel Tamiflu lösten später Debatten aus. Schutzmasken aus dieser Zeit hatten ein Ablaufdatum. Nachgeordert wurde vielerorts nicht, die strategischen Reserven des Bundes beinhalten erst gar keine Schutzausrüstung für medizinisches Personal.

Nur beim Staat sieht Großhändler Mensch allerdings groß angelegte Bevorratung sinnvoll aufgehoben. "Hier muss die Regierung anders denken", sagt deren Geschäftsführer Axel Theiler. "Gerade im Krankenhausbereich sind die Budgets knapp. Da wird überall gespart und eine Bevorratung kostet einfach Geld." Schon aus Platzgründen sei es oft nicht möglich, bedeutende Mengen in den Einrichtungen zu lagern. Ein Mangel, der sich in den deutschen Corona-Hotspots schnell zeigt.

Chinas Masken-Diplomatie springt ein

In Heinsberg bittet der Landrat schon einen Tag nach der Bundeswehrlieferung in einem offenen Brief Chinas Staatsführung um Hilfe – und bekommt sie. 1.000 Infizierte und 22 Tote gibt es zu diesem Zeitpunkt im Kreis. Zu Kritik an seinem Hilfegesuch an das kommunistische Regime sagt der CDU-Politiker später: "Mir sind Chinesen, die Material bringen, lieber, als Amerikaner, die es uns vor der Nase wegkaufen."

Tatsächlich spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel noch in der gleichen Woche mit Chinas Staatspräsident Xi Jinping. Vielleicht macht sich nun auch die Spende aus Deutschland vom Februar bezahlt: China werde "sich zu Herzen nehmen, dass Deutschland anfangs zu Hilfe gekommen sei", sagt Xi nach chinesischen Angaben zur Kanzlerin.

In einem deutschen Regierungsbericht wird es später so dargestellt: Das Telefonat sei der Durchbruch gewesen, da "direkter Zugang zu einem staatlichen Produzenten hergestellt werden [konnte], der ein höheres Maß an Qualität und Liefersicherheit verspricht".

Im April reist Gesundheitsminister Jens Spahn zum Unternehmenssitz des beauftragten Logistikers Fiege in Apfelstädt. Er streift sich die Warnweste über, schreitet die Waren ab. Öffentlichkeitswirksam begleitet von der Presse. Fotoapparate klicken, ein Rednerpult ist vor einer offenen Ladefläche mit Masken aufgebaut worden. Das Signal soll sein: Die Lieferketten nehmen nun Fahrt auf.

Frachtflugzeuge aus China

Tatsächlich landen ab dieser Zeit laut Unternehmensangaben täglich bis zu fünf Flugzeuge mit "dringend benötigter Ware" aus Asien in Deutschland. Spahn rechnet wenig später vor: Bis Jahresende würden allein im deutschen Gesundheitswesen eine Milliarde OP-Masken und bis zu 450 Millionen FFP2-Masken benötigt.

Inzwischen hat die Bundesregierung gelernt, dass ihre Beschaffungswege alleine nicht ausreichen: Konzerne wie VW und BASF sind eingeschaltet, mit ihren guten Verbindungen nach China zu helfen. Außerdem ist am 27. März ein Open-House-Verfahren gestartet: Der Bund kauft jetzt ohne Verhandlungen, was zu vorgegebenen Preisen an Schutzkleidung geboten wird. 60 Cent pro OP-Maske, 4,50 Euro pro FFP2-Maske. 1,2 Milliarden Euro sind dafür im Topf. Dazu kommen die Einkäufe der Länder. Allein Bayern hat laut Angaben der Landesregierung bislang 434 Millionen Euro investiert.

Ist nun also ausreichend vorgesorgt für die befürchtete zweite Welle der Corona-Pandemie? Hat Deutschland seine Schwachstellen in der Vorsorge inmitten des Krisenmanagements abgestellt? Oder ist zwar die erste Welle überwunden, doch drohen schon bald wieder ähnliche Schwierigkeiten? Denn auch wenn der Staat nun eingesprungen ist, liegt die Verantwortung für zukünftige Bevorratung formal weiter bei den Krankenhäusern und Pflegeheimen selbst.

"Unsinnig" sei das, sagt der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Achim Kessler. "Da es für die Einlagerung keinen Cent extra gibt, würde es den Profit schmälern, wenn Zusatzkosten dafür anfielen." Mitte Mai, so geht aus einer Umfrage des Ärzteverbandes Marburger Bund hervor, klagen noch immer fast zwei Drittel aller Ärzte an Kliniken über fehlende Schutzausrüstung.

Auch Klinikleiter und Verbandspräsident Janssens befürchtet, dass Deutschland weiterhin nicht ausreichend vorbereitet sein könnte. Er wisse noch immer von keinem Überblick, wie viel Material vorrätig ist. "Die Politik hat gelockert und gelockert, aber kein Mensch hat darüber gesprochen, ob wir jetzt für den Fall einer zweiten Welle ausreichend Ausrüstung hätten. Das finde ich betrüblich."

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Zudem ist längst nicht alles brauchbar, was jetzt geliefert wird. 20 Prozent erfüllen nicht die Qualitätsanforderungen, schätzt das Ministerium. Rückrufe häufen sich, in Kliniken landet Material, das längst nicht wie angegeben filtert. Händler berichten, dass der Bund bereits mehrere Millionen Mundschutze hat vernichten lassen. Inzwischen gibt es Verzögerungen, weil die Prüfungen dauern – und manche Bestellung kommt erst gar nicht durch den chinesischen Zoll, weil das Land Ausfuhrbestimmungen verschärft.

Das Umdenken setzt langsam ein

"Mundschutz geht zwar mittlerweile durch", berichtet Großhändler Axel Theiler. "Aktuell stehen aber 3,5 Millionen dringend benötigter Kittel beim Zoll in China." Und eine große Bestellung Handschuhe, an denen es nun besonders mangelt, musste ein Lieferant auf Geheiß seiner Regierung an ein anderes Land liefern. Probleme, die es bei ausreichender Bevorratung oder einer Produktion in Deutschland nicht geben würde.

Vorbild könnte dabei Taiwan sein, das Deutschland am 6. April eine Million Masken geschenkt hat. Die Insel war im Februar selbst noch Importeur, hat aber binnen 25 Tagen 60 neue Produktionslinien aufgebaut. Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat am 9. April den Aufbau und Ausbau der Produktion von medizinischer Schutzausrüstung in Deutschland angekündigt. Ziel sei es, "dass wir schon in der zweiten Sommerhälfte Millionen OP-Masken und Mundschutze in Deutschland produzieren können". Bosch in Stuttgart hat bereits Mitte Mai eine brandneue Anlage in Betrieb genommen und gibt seine Konstruktionspläne heraus.

Und auch in der Frage der Bevorratung setzt möglicherweise ein Umdenken ein: Als erstes Bundesland hat Bayern nun angekündigt, eine verpflichtende Notreserve an Schutzausrüstung anzulegen. Es gehe um Material für sechs Monate, erklärte Ministerpräsident Markus Söder am Dienstag: 250 Millionen Masken, 500 Millionen Handschuhe und 60 bis 70 Millionen Schutzkittel sollen künftig ständig verfügbar sein.

In Buchloe bei Schutzausrüstungs-Lieferant Mensch hat sich der Ärger darüber inzwischen gelegt, dass auf die ersten Warnungen per E-Mail an Jens Spahn keine Reaktion kam. Der Minister und die Firmenleitung haben mehrfach telefoniert. Inzwischen fällt die Bilanz von Axel Theiler positiver aus. "Es sind mittlerweile die richtigen Maßnahmen eingeleitet worden, und sie zeigen Erfolg."

Verwendete Quellen
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