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Norbert Röttgen (CDU): "Die Realität wird beunruhigend sein"


Norbert Röttgen
"Die Realität wird beunruhigend sein"

InterviewVon Sven Böll, Sebastian Späth

Aktualisiert am 03.12.2021Lesedauer: 9 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Norbert Röttgen: Der Bewerber um den CDU-Chefposten kritisiert das Corona-Management der Regierung scharf.Vergrößern des Bildes
Norbert Röttgen: Der Bewerber um den CDU-Chefposten kritisiert das Corona-Management der Regierung scharf. (Quelle: Arno Woelk/T-Online-bilder)

Die CDU sucht zum dritten Mal in drei Jahren einen neuen Chef. Und Norbert Röttgen bewirbt sich auch nicht zum ersten Mal um den Job. Im Interview erklärt er, was er vorhat.

t-online: Herr Röttgen, fühlen Sie sich eigentlich in einer Dauerschleife gefangen?

Norbert Röttgen: Nein, da kann ich Sie beruhigen. Aber ich ahne, worauf Sie anspielen: Ich habe meine erste Kandidatur für den CDU-Vorsitz im Februar 2020 erklärt ...

... also vor fast zwei Jahren und noch vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland ...

... daran sieht man, wie viel sich seither verändert hat.

Vieles hat sich allerdings auch nicht verändert. Wir erleben gerade die vierte Corona-Welle.

Das wir jetzt in der schlimmsten Phase der Pandemie sind, ist bitter. Es wurde wertvolle Zeit vergeudet, obwohl man den Verlauf in diesem Winter voraussehen konnte. Umso wichtiger finde ich es, dass jetzt gemeinsam gehandelt wird und gestern auf der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurde, den Ländern wieder alle Instrumente zur Pandemiebekämpfung zur Verfügung zu stellen.

Sind Sie denn optimistisch, dass wir im nächsten Jahr weder die fünfte Corona-Welle noch die vierte Suche der CDU nach einem Vorsitzenden erleben werden?

Bei Letzterem ja. Den nächsten Vorstand wählen wir für die komplette Amtszeit von zwei Jahren.

Mussten Sie irgendwo geloben, die volle Amtszeit zu absolvieren?

Mein Wille dafür ist da, ohne dass ich irgendwo unterschreiben musste. Und an meinem Willen zweifelt auch niemand. Was die fünfte Welle angeht: Ich hoffe, dass wir nun wirklich dazulernen und endlich rechtzeitig alle notwendigen Entscheidungen treffen, damit sie uns erspart bleibt.

Wenn wir tatsächlich entschlossen handeln wollen, müsste der Bundestag dann nicht noch vor Weihnachten die allgemeine Impfpflicht beschließen?

Sie ist kein akutes Instrument, um die vierte Welle zu brechen – diskutieren und erklären, warum sie nötig ist, sollten wir schon. Deshalb reicht es, wenn der Bundestag die allgemeine Impfpflicht im Januar beschließt.

Sie waren vor einiger Zeit noch skeptisch, was dieses Instrument angeht.

Das stimmt, meine Meinung hat sich da weiterentwickelt. Ich glaube aber auch, dass vor ein paar Monaten die Zeit noch nicht reif gewesen wäre. Eine allgemeine Impfpflicht braucht breite gesellschaftliche Akzeptanz, die gibt es jetzt. Eine allgemeine Impfpflicht gegen den Willen des Volkes wäre ja sinnlos.

Was ist Ihre Erklärung dafür, dass wir auf die vierte Welle so schlecht vorbereitet waren?

Ich bin Laie ...

... wir auch.

Aber selbst wir Laien hatten doch spätestens seit Mitte Oktober das Gefühl, dass die Lage wieder deutlich ernster wird.

Vermutlich haben Sie recht. Aber was genau ist schiefgelaufen?

Schiefgelaufen ist, dass nicht spätestens dann zu wirksamen Maßnahmen gegriffen wurde, als selbst uns Laien bewusst war, was uns bevorsteht. Eine konsequente 2G-Regel wäre nötig gewesen.

Sie sind seit mehr als 25 Jahren im Bundestag, waren sogar Minister: Warum fällt es der Politik so schwer, rechtzeitig zu handeln?

Ich kann Ihre Frage auch nach bald drei Jahrzehnten in der Politik nicht befriedigend beantworten.

Wir geben uns erst einmal auch mit Erklärungsansätzen zufrieden.

Die Frage ist doch: Wie konnte es passieren, dass die Ampelparteien noch Ende Oktober ihr unzureichendes Infektionsschutzgesetz präsentiert und so eine Art Freiheit von der Pandemie verkündet haben?

Gegenfrage: Wie konnte es passieren, dass Gesundheitsminister Jens Spahn noch vor den Ampelparteien verkündet hat, man könne die epidemische Lage beenden?

Seine Ankündigung war falsch, aber er hat das eingesehen und sich dafür entschuldigt. Das macht den Fehler nicht geringer, aber es ist eben auch wichtig, wie man mit Fehlern umgeht. Der Unterschied zwischen Jens Spahn und der Ampel ist: Im November war doch unübersehbar, dass sich die Lage dramatisch zuspitzt. Dass die Ampel trotzdem lange darauf beharrt hat, dass Gesichtswahrung wichtiger ist als verantwortliches Handeln, hat uns wertvolle Zeit gekostet. Es ist gut, dass der Kurs jetzt korrigiert wird.

Noch einmal: Die geschäftsführende Regierung hat ja auch nicht wirklich etwas gemacht.

Alle hätten mehr tun müssen.

Aber warum haben sie das nicht?

Ich glaube, dass die Politik die Vernunft und die Verantwortung in der Bevölkerung oft unterschätzt. Politiker denken zu sehr, dass die Bürger nicht empfänglich dafür sind, wenn man mit ihnen offen und ehrlich über den Ernst der Lage spricht.

Also halten wir als Zwischenfazit fest: Die Politik unterschätzt die Menschen.

Das ist zumindest mein Eindruck. Mir wird manchmal gesagt, dass meine Themen – Geopolitik und Klimawandel – beunruhigend wären für die Menschen. Nicht meine Themen sind beunruhigend, die Realität wird beunruhigend sein, wenn wir nicht handeln. Ich glaube auch, dass die Menschen das verstehen. Nehmen wir die erste Corona-Welle im Frühjahr 2020: Da kam es zu einem extremen Vertrauensschub in die Politik, weil offen und ehrlich kommuniziert wurde, wie die Lage ist und welche Maßnahmen sie erfordert. Das hätte eigentlich alle in der Politik ermutigen müssen, diesen Weg fortzuführen.

Selbst kleine Veränderungen sind bei uns unglaublich schwierig: In vielen Ländern der Welt dürfen seit Langem auch Apotheker impfen, bei uns immer noch nicht. Das will uns nicht in den Kopf.

Mir auch nicht. Wahrscheinlich hat die Frau recht, die in Großbritannien Chefin der Impfstoff-Taskforce war. Sie hat gesagt: Wenn dieser Prozess in den normalen Strukturen des öffentlichen Dienstes hätte geschehen müssen, wäre unser Land gescheitert.

Die Verwaltung ist das Problem – und nicht die Politik?

Beide hängen natürlich zusammen. Wir haben auch in Deutschland Verwaltungs- und Regierungsstrukturen, die anhaltend resistent sind, was ihre Veränderungsbereitschaft angeht. Sie sind unflexibel und dadurch ungeeignet, auf das Besondere einer Notlage zu reagieren. Allgemeiner kann man sagen: Dass unsere Verwaltung noch immer wie im 20. Jahrhundert organisiert ist, stellt ein riesiges Problem dar.

Sie haben das Prinzip "Wir wollen mit Entscheidungen wieder vor die Krise kommen" zum zentralen Thema Ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz gemacht. Was heißt das konkret?

Das 21. Jahrhundert ist schon jetzt von dramatischen Veränderungen und Krisen geprägt, die sich alle durch ihren vernetzten Charakter auszeichnen. Darauf müssen wir mit Vernetzung antworten. Deshalb brauchen wir dringend eine Reform der öffentlichen Verwaltung und Regierung, die sich an der Art und Struktur der Probleme von heute ausrichtet.

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Und wie?

Es muss einen dauerhaften Krisenpräventionsstab geben, der tut, was derzeit niemand wirklich macht: Strategische Vorausschau betreiben. Also permanent beobachten, wie sich die Welt entwickelt und wo Gefahren entstehen. Nehmen wir ein Beispiel: Vieles spricht dafür, dass das nächste Virus nicht biologisch, sondern digital sein wird und beispielsweise unsere Stromversorgung außer Kraft setzt. Sind wir darauf vorbereitet?

Unser Problem ist doch weniger die Erkenntnis als deren Umsetzung.

Deshalb müssen wir vernetzte Probleme endlich vernetzt lösen. Nehmen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien: Wenn nicht alle Regierungen in Bund und Ländern und alle Behörden an einem Strang ziehen, wird es nach endlosen politischen Diskussionen weiterhin endlose Verwaltungsschleifen und anschließend endlose Gerichtsschleifen geben. Dann wird auch die nächste Regierung daran scheitern.

Sie gelten in der CDU als besonderer Markus-Söder-Versteher. Was heißt das eigentlich: Machen, was er will?

Nein. Markus Söder und ich verstehen uns gut, weil wir uns schon lange kennen und uns regelmäßig austauschen.

Ein guter CDU-Chef ist man aus Sicht von Markus Söder, wenn man ihm die Kanzlerkandidatur überlässt, oder?

Markus Söder weiß, dass die CSU ein bayrisches Erfolgsmodell ist – und kein gesamtdeutsches. Erfolg auf Bundesebene haben wir nur, wenn es eine Einheit der beiden Schwesterparteien CDU und CSU gibt. Das ist auch Markus Söder klar.

Da sind Sie sich wirklich sicher?

Ja. Und ich bin mir auch sicher, dass CDU und CSU die Frage des Kanzlerkandidaten nie mehr so klären werden wie in diesem Jahr.

In drei Sätzen: Warum wollen Sie CDU-Chef werden?

Weil ich mir zutraue, dass die CDU mit mir Volkspartei bleibt. Weil ich überzeugt bin, als CDU-Chef den Anschluss der Union an die breite Mitte der Gesellschaft wiederherzustellen. Und weil ich vorhabe, die CDU in den großen Fragen unserer Zeit zur geistig führenden Partei Deutschlands zu machen.

Hätten das Friedrich Merz und Helge Braun nicht mit leichten Nuancen genauso sagen können?

Das ist mein Angebot. Wenn die anderen sich das auch so zu eigen machen, kann ich mich nur freuen.

Über Ihre letzte Kandidatur vor rund einem Jahr sagten Sie selbst, dass Sie ohne die echte Aussicht angetreten seien, auch zu gewinnen. Dieses Mal setzen Sie auf Sieg. Hat sich Ihre Stellung in der Partei so schnell verbessert?

Für viele kam meine erste Kandidatur überraschend. Im Laufe des Wettbewerbs haben dann viele gesagt, ich sei derjenige, der den Auftritt in den sozialen Medien beherrscht. Das hat meinen Erneuerungsanspruch unterlegt. Dort präsent zu sein, ist im Grunde ein kultureller, aber überfälliger Wandel für die Union. Auch darum habe ich ein respektables, für viele unerwartet gutes Ergebnis bekommen.

Die Selbstinszenierung in den sozialen Medien zu beherrschen reicht aber doch nicht, um zu gewinnen.

Nach dem Parteitag im Januar habe ich weiter in der Führungsmannschaft mitgearbeitet, auch das haben viele honoriert. Ich war im Bundestagswahlkampf so viel in Deutschland unterwegs wie nie und habe unsere Kandidaten unterstützt. Dann kam das Wahlergebnis, das ich in dieser Dimension noch wenige Monate zuvor für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Aber es war eben die bittere Bestätigung meiner Einschätzung, dass wir einen dringenden Erneuerungsbedarf haben.

Wenn Sie bei der letzten Wahl der Außenseiter waren, wie sehen Sie Ihre Rolle jetzt?

Jetzt kann ich es schaffen und jetzt will ich es schaffen. Meine Kandidatur dient dem Ziel, die CDU als Volkspartei zu bewahren – in einer Phase, die für uns existenziell bedrohlich ist.

Sie haben die CDU vor einiger Zeit sogar als "letzte verbliebene Volkspartei" bezeichnet. Grenzt das nicht an Realitätsverweigerung?

Nein. Unser Status ist gefährdet, aber wir sind es noch.

Bei der Bundestagswahl hat die Union außerhalb von Bayern nur 19 Prozent der Stimmen geholt.

Wenn es bei den 19 Prozent bleibt, werden wir keine Volkspartei mehr sein. Aber wir sind es noch. Dieser Charakter ändert sich nicht durch eine verlorene Bundestagswahl.

Auf wie viele Jahre Opposition muss sich die Union vorbereiten? Die Ampelparteien haben schon erklärt, sie wollten länger als eine Legislaturperiode regieren.

Ich sehe in dieser Ankündigung die besondere Form der Bescheidenheit einer Regierung, die noch nicht im Amt ist. Die drei Parteien scheinen schon zu wissen, wie die Bürger bei der nächsten Wahl abstimmen. Ich muss gestehen, ich kenne das Ergebnis von 2025 noch nicht. Deshalb ist es mein Anspruch, dass wir alles dafür tun, nicht länger als vier Jahre Opposition zu sein.

Wir fassen mal zusammen: Sie wollen die Geschlossenheit in der Union wieder herstellen, die CDU im Digitalen präsenter machen ...

... vor allem im Hinblick auf unsere Kampagnenfähigkeit als Partei.

Und was haben Sie inhaltlich vor?

Wir müssen nicht nur unseren Stil anpassen, sondern auch unsere Inhalte erneuern. Ohne diesen Aspekt bringen uns weder innere Geschlossenheit noch digitale Affinität etwas.

Dann wollen wir abschließend testen, wie gesellschaftspolitisch modern Sie sind. Die Ampelparteien wollen das Werbeverbot für Abtreibungen kippen. Richtig so?

Es geht um die Abwägung zwischen dem Recht über den eigenen Körper und dem Schutz von ungeborenem Leben. Beides ist ethisch bedeutend. Ich glaube daher, dass der Paragraf 219a, so wie er formuliert ist, ein ausgewogener Tatbestand ist.

Sie haben 2017 gegen die Ehe für alle gestimmt. Würden Sie das heute wieder tun?

Nein. Die Frage ist entschieden, und ich kann mit der Entscheidung sehr gut leben.

Die Ampelkoalition bekennt sich zu Deutschland als Einwanderungsland und will Einwanderung erleichtern. Ein überfälliger Schritt?

Die Ampel stellt im Koalitionsvertrag die Weichen grundlegend falsch, indem sie von vornherein Asyl- und Einwanderungsrecht miteinander vermischt. Deutschland gewährt jedem politisch Verfolgten auf der Welt das Recht, hierzulande Schutz und Heimat zu finden. Das ist richtig, braucht aber gesellschaftliche Akzeptanz.

Es geht SPD, Grünen und FDP im Kern aber doch nicht um das Asylrecht.

Wenn man, so wie es die Ampel plant, jedes Arbeitsverbot für Ausländer beseitigt, die über einen Asylanspruch Deutschland betreten, hat das unweigerlich den Effekt, dass Menschen das Asylrecht nutzen werden, um in unseren Arbeitsmarkt zu immigrieren. Das hat nichts mit politischer Verfolgung zu tun, sondern mit Einwanderungspolitik und sollte nicht vermischt werden.

Jetzt klingen Sie aber ein bisschen wie die CDU von früher.

Eine richtige Haltung verlässlich zu vertreten, ist nichts Falsches. Natürlich müssen wir Lösungen für die Menschen finden, die schon lange bei uns leben und gut integriert sind. Aber wenn man das Asylrecht prinzipiell mit dem Zutritt zum deutschen Arbeitsmarkt vermengt, untergräbt man die Akzeptanz für das humanitäre Asylrecht. Das ist dann vielleicht gut gemeint, aber in Wirklichkeit sehr gefährlich.

Letzte Frage: Welcher Spitzname nervt Sie eigentlich mehr "George Clooney aus Deutschland" oder "Muttis Klügster"?

Mich nervt weder der eine noch der andere. Aber ich habe mir beide nicht selbst gegeben.

Herr Röttgen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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