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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundestagspräsidentin Klöckner "Es ist ein Foulspiel"

Seit drei Monaten ist Julia Klöckner die mächtigste Frau in der deutschen Politik. Ihr Stil als Bundestagspräsidentin aber steht bisweilen in der Kritik. Im Interview erklärt sie, wo und warum sie Grenzen zieht.
Ein goldener Teller, ein Säbel, Ölgefäße und Karaffen: Im Raum, in dem Julia Klöckner zum Interview empfängt, sind Gastgeschenke aus aller Welt ausgestellt. Dicht ist die meterlange Vitrine mit Kostbarkeiten befüllt. Für Klöckner aber sind zwei Dinge für diesen Saal wichtiger: die Deutschland- und die EU-Flagge, die neben der Vitrine stehen. "Das ist unser Fahnensaal", sagt die CDU-Politikerin und deutet lächelnd auf die Flaggen.
Die 52-jährige Rheinland-Pfälzerin, die stets "ned" statt "nicht" sagt, ist seit März Bundestagspräsidentin. Damit ist sie die wichtigste Frau in der deutschen Politik. Sie leitet die Sitzungen des Bundestags, sorgt für Ordnung im Plenum – und tut das in ihrem eigenen Stil. Anders als ihre Vorgängerin Bärbel Bas ließ sie die Regenbogenfahne am Christopher Street Day nicht hissen, zweimal verwies sie Abgeordnete wegen ihrer Kleidung des Saals.
Dafür wird sie von manchen scharf kritisiert. Am Donnerstag etwa erschienen die Grünen- und die Linken-Fraktion in bunter Kleidung im Bundestag und bildeten auf ihren Rängen so die Regenbogenfahne nach. Ein deutlicher Protest – gegen Klöckner. Ein Gespräch über Fahnen, Anstand und ungeschriebene Gesetze.
t-online: Frau Klöckner, Sie sind bekannt als eine Frau der klaren, auch zuspitzenden Worte. Wie oft mussten Sie sich in den vergangenen Wochen schon auf die Zunge beißen?
Julia Klöckner: Natürlich denke ich bei der einen oder anderen Debatte: Wenn ich das jetzt kommentieren dürfte ... Aber das verbietet das Amt. Mir ist meine Rolle als Präsidentin des Parlaments sehr bewusst, wenn ich den Bundestag als Ganzes vertrete. Ich bin aber auch direkt gewählte Abgeordnete und als solche kein Neutrum, sage außerhalb der Sitzungsleitung weiter meine Meinung.
Kürzlich wurden Sie dafür kritisiert, dass Sie einen Post bei Instagram teilten. Friedrich Merz wurde darin dafür gefeiert, dass er die ZDF-Moderatorin Dunya Hayali in einem Interview angeblich "fertig" gemacht habe. Lassen sich Ihre beiden Rollen vielleicht doch nicht so gut voneinander trennen?
Auf meinem persönlichen Account äußere ich mich auch zu politischen Themen, etwa der Migration. Denn in dieser Frage teile ich voll die Haltung von Friedrich Merz: Politik ist nicht nur die Frage, was ich mir idealerweise wünsche, sondern was in der Realität umsetzbar ist.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Kanzler in diesen beiden Rollen?
Wir sind beide professionell und uns wohlgesonnen. Ich war zuvor ja schon Schatzmeisterin der CDU unter Friedrich Merz als Parteichef, und ich habe sehr gut mit ihm zusammengearbeitet. Man kann mit ihm auch streiten, aber man sollte gute Argumente haben. Uns beiden ist klar, dass wir jetzt unterschiedliche Rollen haben. Er akzeptiert, wenn ich die Bundesregierung auffordere, die Rechte des Parlaments zu achten. Die Regierung hält sich kein Parlament, sondern umgekehrt. Ich sag’ mal: Aus Parteigründen wird kein Auge zugedrückt.
Auch nicht bei Ihrem Fraktionschef Jens Spahn im Fall der Maskenaffäre? Die Grünen kritisieren, dass Ihre Bundestagsverwaltung eine Kleine Anfrage hierzu an die Bundesregierung zunächst nicht weiterleiten wollte. Was waren die Gründe?
Es ist Aufgabe der Bundestagsverwaltung, Kleine Anfragen auf Form und Zuverlässigkeit zu prüfen. Das wissen selbstverständlich auch die Grünen. Genauso wussten sie bereits beim Verfassen der Anfrage, dass Teile davon ein anhängiges Verfahren beim Bundesverfassungsgericht berühren – das schreiben sie übrigens selbst im Text. Daher musste ein Austausch zwischen der Verwaltung und den Fragestellern erfolgen. Das ist ein völlig übliches Verfahren, keine Blockade. Es ist ein Foulspiel, wenn solche Standardabläufe öffentlich nun skandalisiert und die Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung in Misskredit gebracht werden. Ich stelle mich hier klar vor meine Leute!
Zur Person
Julia Klöckner, 52 Jahre alt, ist auf einem Weingut in Rheinland-Pfalz aufgewachsen. Sie war Weinkönigin des Anbaugebiets Nahe und acht Jahre lang Chefredakteurin des Magazins "Sommelier". Sie studierte Politikwissenschaft, Theologie und Pädagogik. Während des Studiums trat sie der CDU bei. 2002 zog sie erstmals für die CDU in den Bundestag ein. Von Angela Merkel wurde sie 2018 als Agrarministerin in ihr Kabinett berufen. Zuvor war sie ab 2011 elf Jahre lang Vorsitzende der rheinland-pfälzischen CDU, sieben Jahre lang war sie zugleich Vorsitzende der Landtagsfraktion. Von 2012 bis 2022 war sie Vizevorsitzende der Bundes-CDU, ab 2022 Bundesschatzmeisterin. Seit dem 25. März ist sie Präsidentin des Deutschen Bundestags.
Kritik gab es auch an Ihrer Entscheidung, die Regenbogenflagge am Christopher Street Day nicht über dem Bundestag zu hissen. Wie überparteilich war das?
Ich habe entschieden, dass die Regenbogenflagge immer am 17. Mai auf dem Bundestag gehisst wird. Das wurde im Übrigen auch kritisiert. Hier gibt es dafür aber einen parlamentarischen Anlass: Der Bundestag hat 2002 symbolisch den Beschluss, dass die Urteile gegen Homosexuelle in der NS-Zeit nichtig sind, auf diesen Tag gelegt.
Die Queer-Beauftragte der Bundesregierung kritisierte Ihre Entscheidung als falsches Signal in einer Zeit, da queere Menschen bedroht und angegriffen werden.
Die Angriffe auf CSD-Veranstaltungen und queere Menschen verurteile ich auf das Schärfste. Das ist hier aber nicht der Punkt. Die meistverfolgte Gruppe weltweit sind übrigens Christen. Dann müsste ich auch an einem Tag im Jahr zum Beispiel die Vatikanflagge hissen. Auch Frauengruppen wünschen sich diese Sichtbarkeit. Aber wir sind der Deutsche Bundestag und bei uns weht eine Fahne: Schwarz-Rot-Gold. Sie repräsentiert alles, wofür unser Grundgesetz steht: Freiheit, Menschenwürde – und eben auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Keine Fahne steht über ihr. Und noch mal: Am 17. Mai wird die Regenbogenfahne aus den genannten Gründen gehisst.
Wir sind der Deutsche Bundestag, und bei uns weht eine Fahne: Schwarz-Rot-Gold.
Julia Klöckner
Sie haben auch dem Regenbogen-Netzwerk der Verwaltungsmitarbeiter verboten, als Gruppe am CSD teilzunehmen. Unter Ihrer Vorgängerin durften sie das.
Jeder hat persönlich die Freiheit, Demonstrationen zu unterschiedlichsten politischen Anliegen zu besuchen, solange sie sich im Rahmen unserer Verfassung bewegen. Aber nicht im Namen des gesamten Bundestags. Verwaltung muss aus ihrem Selbstverständnis heraus neutral sein. Das ist kein Politikum, sondern sollte Selbstverständlichkeit sein – ganz gleich, wie ehrenwert die Anliegen politischer Demonstrationen auch sein mögen. Wo ziehen wir sonst die Grenze?
Auch bei Parlamentsdebatten legen Sie die Regeln strenger aus als Ihre Vorgängerin. Für Begriffe wie "Kartell-" und "Syndikatsparteien", wie sie die AfD oft benutzt, kassieren die Abgeordneten jetzt Ordnungsrufe. Ist das kein Eingriff in die Redefreiheit?
Das sehe ich tatsächlich sehr streng: Parteien, die demokratisch mit Mehrheiten gewählt wurden, sind kein Kartell oder Syndikat. Das ist eine Verunglimpfung. Wir haben demokratische Entscheidungen per Mehrheit zu respektieren, auch wenn sie uns nicht gefallen.
Wie demokratisch ist es, dass alle Parteien im Bundestagspräsidium vertreten sind, außer der zweitstärksten Kraft im Parlament, der AfD?
Sehr demokratisch. Die AfD hat das Recht, einen Kandidaten zur Wahl für das Bundestagspräsidium aufzustellen. Das nutzt sie. Aber wenn dieser Kandidat von den frei gewählten Abgeordneten in geheimer Wahl keine Mehrheit bekommt, ist das eine demokratische Entscheidung. Das muss sie akzeptieren.
In der Kleiderordnung des Parlaments pflegen Sie ebenfalls ein strengeres Regiment als Bärbel Bas: Zwei Abgeordnete haben Sie deswegen schon aus dem Plenum verwiesen.
Moment. Es gibt im Bundestag keine festgeschriebene Kleiderordnung. Ich lege mit meinem Präsidium aber sehr wohl Wert darauf, dass unser Parlament nicht durch bewusste Provokation und Grenzüberschreitungen lächerlich gemacht wird – auch durch Äußerlichkeiten. In dem Fall ging es aber um eine Kopfbedeckung, und da gilt: Wenn ich das nicht rüge, was mache ich dann, wenn der nächste mit Stahlhelm kommt oder mit Basecap? Das ist im Theater ebenso wenig angemessen wie im Deutschen Bundestag.
In der Geschäftsordnung heißt es zu dem Thema aber nur recht knapp: "Die Kleidung und das Verhalten müssen der Würde des Hauses entsprechen." Darin steht kein explizites Verbot von Kopfbedeckungen.
Die klare Linie unseres Präsidiums habe ich erläutert. Es geht um Respekt: im Umgang miteinander und gegenüber dem Hohen Haus und seiner Würde. Wir sollten hier nichts einreißen lassen.
Wir sollten hier nichts einreißen lassen.
Julia Klöckner
Viele würden vermutlich sagen, das hat was mit Anstand zu tun. Von wem haben Sie Anstand gelernt?
Man lernt Anstand zuerst einmal zu Hause – oder eben nicht. Und dann wirken das Umfeld, in meinem Fall ein ganzes Dorf, und die Gesellschaft auf einen. Ich habe auf dem Land gelernt zu grüßen, Älteren den Platz anzubieten, beim Händedruck in die Augen zu schauen. Das ist wie Atmen.
Was genau verstehen Sie also unter Anstand?
Anstand ist wie ein ungeschriebenes Gesetz. Ein common sense, den ich nicht jeden Tag ausdiskutieren muss. Was gehört sich und was gehört sich nicht? Das klingt furchtbar bieder und spießig. Aber wir alle wissen: Wenn ich jemandem bewusst die Tür vor der Nase zuschlage, dann ist das unhöflich. Es ist keine Straftat, es verstößt nicht gegen die Verfassung. Aber es entspricht nicht unseren Regeln für ein gutes Zusammenleben. Anstand bedeutet Respekt vor dem anderen und seinen Ansichten.
Warum ist dann eine Abgeordnete der Linken wegen eines Shirts mit dem Aufdruck "Palestine" aus dem Parlament geflogen?
Politische Statements sind – unabhängig von der Botschaft und egal ob auf T-Shirts, Laptops oder Taschen – im Plenum insgesamt untersagt. Es geht im Plenum um Debatte, nicht um Demonstration. Auch hier geht es um das Prinzip, um Gerechtigkeit und Gleichbehandlung. Ich folge da dem "Schleier des Nichtwissens" von John Rawls. Jedes Statement, und sei es noch so sympathisch, ersetze ich in meinem Kopf durch ein Statement, das ich vollkommen ablehne. Beide Fälle müssen von mir gleichbehandelt werden. Neutralität ist keine Rosinenpickerei.
Hätten Sie Joschka Fischer in Turnschuhen als Minister vereidigt, wenn Sie 1985 Präsidentin des hessischen Landtags gewesen wären?
Vereidigt hätte ich ihn, solange es in der Geschäftsordnung nicht explizit verboten gewesen wäre. Denn jeder ist erst mal selbst Sender seiner Botschaft. Aber ich hätte seine Turnschuhe kommentiert.
Wer ist Ihr größtes Sorgenkind im Parlament: die AfD oder die Linke?
Die Akzeptanz unserer Institutionen ist mein Sorgenkind. Die Demokratie ist kein Fertighaus, das ewig bleibt. Es wird ständig daran gebaut. Und jeder muss sich den Schlüssel für dieses Haus neu verdienen. Manchmal werden da die Prioritäten falsch gesetzt.
Wie meinen Sie das?
Manchmal scheinen die Reden im Parlament für den eigenen Auftritt bei TikTok gehalten zu werden, der eigene schnelle Erfolg ist dann wichtiger als die Arbeit am Thema und für die Allgemeinheit. Da fehlt offensichtlich ein Bewusstsein dafür, was es eigentlich heißt, im Bundestag zu sitzen. Unsere Hauptaufgabe als Abgeordnete ist es, für das ganze Volk jeden Tag unser Bestes zu geben. Der Bundestag ist kein Nebenjob, keine Kostenabrechnungsstelle und nicht einfach Bühne für die digitalen Medien. So weit darf es niemals kommen.
Wie stehen Sie zum Daddeln auf dem Handy im Plenum?
Ob die Abgeordneten daddeln, das weiß ich nicht. Gut möglich, dass sie E-Mails von Bürgern oder Anfragen von Journalisten beantworten oder sich mit Kollegen abstimmen. Das alles ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Wir bekommen Hunderte E-Mails pro Tag. Dafür fehlt oft das Verständnis.
Aber die Aufmerksamkeit bei Reden scheint im Plenum oft doch sehr gering zu sein.
Wir sind ein Arbeitsparlament. Das Debattieren ist öffentlich, um der Bevölkerung zu vermitteln, was unsere Argumente sind. Die haben wir aber bereits vorher in den Ausschüssen und in den Arbeitsgruppen erarbeitet. Die Reden entscheiden also nicht mehr über das Abstimmverhalten der Abgeordneten, es sei denn in Orientierungsdebatten. Aber ja: Es soll natürlich der Debatte gefolgt werden – insgesamt ist das aber auch mein Eindruck.
Wer ist Ihr Vorbild im Amt?
Norbert Lammert, Wolfgang Thierse, Wolfgang Schäuble, Bärbel Bas – jeder und jede hat gute und nachhaltige Wegmarken hinterlassen. Ich stehe mit fast allen im Austausch. Aber Rita Süßmuth hat für die Frauenrechte gekämpft wie keine Zweite. Das ist auch mir ein echtes Anliegen. Wir haben uns gerade erst anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsendes zusammengesetzt.
Worüber haben Sie geredet?
Darüber, dass diese Zeit aus Sicht der Frauen nie aufgearbeitet wurde. Man hat sie nie gefragt: Was ist dir passiert? Denn das hätte zugleich die unangenehme Frage an all die Ehemänner und Partner bedeutet: Was hast du getan?
Die Zahl der Frauen im Parlament ist gesunken. In Ihrer Partei, der CDU, sind nur 23 Prozent der Abgeordneten weiblich. Nur die AfD hat weniger. Welchen Anteil hat die CDU an diesem Rollback?
Einen sehr bedenkenswerten. Wir haben uns nicht mit Ruhm bekleckert, was die Repräsentation von Frauen angeht. Zum Teil liegt das am Wahlrecht – weil wir viele Wahlkreise direkt gewinnen und paritätisch besetzte Listen damit bei uns nicht so relevant sind wie bei anderen Parteien. Das soll aber keine Entschuldigung sein. Wir haben eine Repräsentationslücke. Und wo Frauen fehlen, fehlen auch Vorbilder und die Hälfte der Perspektive.
Rita Süßmuth forderte kürzlich in einem "Zeit"-Interview ab diesem Jahr eine verbindliche 50-Prozent-Quote in der CDU auf Kreisebene. Würde das helfen?
In der CDU haben wir ja im Jahr 2022 eine Frauenquote beschlossen, für die ich mich auch stark eingesetzt hatte. Ich war lange skeptisch, was Quoten angeht. Aber allein die Zeit, in der ich jetzt Politik mache, zeigt doch: Von selbst wird sich das nicht regeln. Die Quote ist idealerweise eine Brücke, die dazu führt, dass sich mehr Frauen in der CDU um politische Ämter und Mandate bewerben.
Und was würden Sie jungen Frauen aus Ihrer Erfahrung heraus empfehlen: Was sollten Sie unbedingt mitbringen, um in der CDU zu bestehen?
Man muss durchhalten, es geht nicht immer nur bergauf, es braucht auch Beharrlichkeit. Ich sage aber klar: Traut euch! Und lasst euch nicht entmutigen, wenn mal etwas nicht gelingt.
Frau Klöckner, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch mit Julia Klöckner