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Krieg in der Ukraine: Kurswechsel? Der Ampel steht ein Drahtseilakt bevor


Kurswechsel im Ukraine-Krieg
Plötzlich wollen die Ampelparteien das Gegenteil

Von Michael Freckmann

Aktualisiert am 09.03.2022Lesedauer: 4 Min.
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Olaf Scholz, Bundeskanzler (l), Annalena Baerbock, Außenministerin und Christian Lindner, Finanzminister: SPD, Grüne und FDP müssen in der Ukraine-Krise ihren Kurs wechseln.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz, Bundeskanzler (l.), Annalena Baerbock, Außenministerin, und Christian Lindner, Finanzminister: SPD, Grüne und FDP müssen in der Ukraine-Krise ihren Kurs wechseln. (Quelle: IPON/imago-images-bilder)

Putins Krieg gegen die Ukraine zwingt die Bundesregierung zur Kehrtwende. In kürzester Zeit müssen alle drei Parteien Versprechen aufgeben. Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, steht ihnen ein Drahtseilakt bevor.

Der Ukraine-Krieg hat auch die deutsche Innenpolitik auf den Kopf gestellt: Ausgerechnet die Grünen und die SPD sind nun für höhere Militärausgaben und Waffenlieferungen. Und die FDP für massive Mehrausgaben im Bundeshaushalt. Damit stimmen die drei Regierungsparteien für das Gegenteil dessen, wofür sie immer standen.

Diese Art von Kurswechsel geschieht immer dann, wenn die Identität einer Partei mit der gesellschaftlichen Realität in Konflikt gerät. Ein Blick in die jüngste Vergangenheit lehrt: Solche Manöver bergen für die jeweilige Partei sowohl Chancen als auch Gefahren.

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"Zeitenwende" – nicht nur in der Verteidigungspolitik

Die von Bundeskanzler Scholz beschworene "Zeitenwende" gilt nicht nur für die deutsche Russland- und Verteidigungspolitik, sondern auch für das politische Selbstverständnis der Ampelparteien. Die Sozialdemokratie hatte noch innerhalb der Großen Koalition einen höheren Militärhaushalt verhindert. Die FDP ließ sich vor allem für ihr Kernversprechen wählen, keine neuen Schulden zu machen. Die Grünen entstammen der Friedensbewegung und waren seit jeher äußerst kritisch gegenüber Waffenexporten und höheren Militärausgaben.

Solche Kehrtwenden hat es schon häufiger gegeben. Gerade für die Grünen scheint sich hier etwas zu wiederholen. Als sie 1998 in die Bundesregierung kamen, standen sie vor der Entscheidung, ob das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten an einem Kriegseinsatz beteiligt werden sollten. Die Partei stimmte letztlich dafür. Doch es führte in ihrem Inneren zu starken Verwerfungen und vielen Austritten.

Zwei Kehrtwenden bei der CDU

Wenige Jahre später reagierte ausgerechnet die aus der Arbeiterbewegung entstandene SPD auf die damals hohen Arbeitslosenzahlen mit massiven Kürzungen im Sozialstaat. Die "Agenda 2010" zerriss die Partei beinahe. Sie führte dazu, dass sich mit der Linken neben der SPD eine neue Partei gründete. Die folgenden Animositäten zwischen den beiden lähmten auf Jahre hinweg das linke politische Lager. Regierungsmehrheiten kamen ohne bürgerliche Parteien nicht mehr zustande. Die Merkel-CDU hat davon sehr lange profitiert.

Doch auch die Christdemokraten warfen während der Kanzlerschaft Angela Merkels gleich mehrfach altbekannte Überzeugungen über Bord. Nach dem Unfall im japanischen Fukushima beschloss Merkel kurzerhand den Atomausstieg. Kurz vorher hatte sie die Laufzeiten der Atommeiler noch verlängert.

Der zweite, große politische Kursschwenk kam durch die Migrationskrise von 2015. Und nicht zuletzt war die "Ehe für alle" für eine auch aus der konservativen Tradition kommenden Partei ein Schritt, den viele nicht erwartet hatten. Viele Anhänger der CDU konnten all diese gesellschaftspolitischen Positionsveränderungen ihrer Partei nicht nachvollziehen und wählten stattdessen die AfD oder gar nicht mehr.

Umschwung – ohne Ausweg für Parteikollegen

Auslöser für solche drastischen Neuausrichtungen sind sich schlagartig zuspitzende Rahmenbedingungen: die Atomkatastrophe in Fukushima, plötzlich ansteigende Migrationszahlen oder zuletzt Putins Angriff auf die Ukraine. Diese setzen die politischen Akteure unter großen Handlungsdruck, weil sich die politischen Maßstäbe bei vielen Menschen von heute auf morgen verändern. Für die Handelnden ist dann das Überraschungsmoment von zentraler Bedeutung.

Kanzler Scholz hatte über seine Kursveränderung in der Verteidigungspolitik im Vorfeld kaum jemanden informiert; nicht einmal die meisten der eigenen Leute. Auch Merkels Entscheidungen zum Atomausstieg und für die Öffnung der Ehe kamen sprichwörtlich über Nacht. Diese Überrumpelungen ermöglichen es, Widerstände im eigenen Lager gar nicht erst entstehen zu lassen.

Dass dann ausgerechnet jene Parteien eine Politik umsetzen, die sie in der Opposition immer verhindert haben, liegt daran, dass diese Akteure einen strategischen Vorteil besitzen: Sie haben die härtesten Gegner dieser Politik in den eigenen Reihen. Und diese können nicht zur politischen Konkurrenz flüchten, da die anderen Parteien eine solche Politik erst recht umsetzen würden.

Imagewechsel durch Kurskorrekturen

Oftmals wird die Gunst der Stunde auch dazu genutzt, tieferliegende Konflikte zu lösen. Die Zustimmung für Atomkraft war bereits vor "Fukushima" stark gesunken. Die Positionen der Parteien bei diesem Thema verhinderten zudem ein Bündnis zwischen CDU und Grünen.

Mit ihrer ablehnenden Haltung zur "Ehe für alle" stand die Union, damals noch ohne AfD im Bundestag, zuletzt ziemlich alleine da. Sie widersprach auch ihrem Image einer modernisierten Merkel-CDU. Und die mangelhafte Ausstattung der Bundeswehr ist schon seit Langem bekannt, wurde aber wegen fehlender politischer Mehrheiten bisher nicht angegangen.

Solche Kurskorrekturen beinhalten für die Parteien viele strategische Chancen. Sie können hierdurch in den Augen der Mehrheit unhaltbar gewordene Positionen schnell loswerden, um in der Regierung handlungsfähig zu bleiben. Mit einem solchen Schritt können sie sich auch für neue Wähler öffnen. Die Liberalisierung der Union unter Merkel machte die CDU für Menschen attraktiv, die vorher nie christdemokratisch gewählt hatten.

Wenn Parteien den Bogen überspannen

In der aktuellen Lage könnte etwas Ähnliches gelten. Linken Parteien wurde von bürgerlichen Wählern oft vorgeworfen, in der Sicherheitspolitik keine Härte zeigen zu können. Ihre aktuelle Neuausrichtung könnte die Grünen und die SPD auch in bürgerlichen Kreisen attraktiver machen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Merz-CDU in dieser Frage der Regierung sogar beisprang. Auch kann die FDP mit ihrer Zustimmung für das "Sondervermögen" dem Vorwurf entgegentreten, sie betreibe Sparpolitik lediglich als Selbstzweck.


Da Parteien aber längerfristige Orientierung für Wähler bieten müssen, können solche Kurskorrekturen die eigenen Anhänger auch nachhaltig verunsichern oder gar von ihnen entfremden. Die Klagen aus den letzten Jahren, dass die SPD nicht mehr "links" sei und dass die CDU sich "sozialdemokratisiert" habe, sind Ausdruck dessen. Wenn Parteien den Bogen überspannen, verlieren sie auf der einen Seite gewonnene Wähler auf der anderen Seite wieder.

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Drahtseilakt für die Ampelparteien

Solche weitreichenden Entscheidungen werden zudem immer direkt aus der Regierung oder der Parteiführung heraus getroffen. Das stellt den demokratischen Willensbildungsprozess in Parteien auf den Kopf. Die Frage ist dann, wie wichtig den Mitgliedern das Mitregieren gegenüber der eigenen Parteiidentität ist. Und so haben bezüglich der neuen Verteidigungspolitik der Ampelregierung bereits die Grüne Jugend sowie linke SPD-Abgeordnete Protest angemeldet. Es könnten daher noch hitzige Debatten anstehen.

Ebenso sind die Folgen der Kehrtwenden kaum abschätzbar. Die ersten bei SPD und Grüne fordern bereits "Sondervermögen" für den Klimaschutz oder sozialpolitische Projekte. Dies würde erst recht einen Konflikt mit liberalen Vorstellungen von einem konsolidierten Haushalt bedeuten.

Letztlich könnte es den Ampelparteien gelingen, mit ihrem politischen Wendemanöver neue Wählergruppen anzusprechen. Sie dürfen dabei aber ihre Kernanhänger nicht verprellen. Ob ihnen dieser Drahtseilakt gelingt, bleibt abzuwarten.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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