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Tagesanbruch: Hongkong – warum die totale Eskalation für China riskant ist


Was heute wichtig ist
Warum die totale Eskalation so riskant ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.08.2019Lesedauer: 7 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Chinas Präsident Xi Jinping.Vergrößern des Bildes
Chinas Präsident Xi Jinping. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

8.700 Kilometer liegen zwischen Berlin und Hongkong. Dem ungeschriebenen Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, dass ein Ereignis mit zunehmender Entfernung an Bedeutung verliert, spielen sich die Proteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone aus deutscher Sicht fast schon hinterm Mond ab. Wir sehen Videos knüppelschwingender Polizisten, die Tränengasgranaten verschießen, Bilder von Demonstranten mit Atemmasken, die sich blitzschnell zusammenrotten und ebenso schnell wieder auseinanderstieben. Wir sehen, wie Zigtausende den Flughafen lahmlegen, und hören, dass sie sich gegen den wachsenden Einfluss des totalitären Festlandchinas wehren.

In den vergangenen Stunden verschärfte sich der Konflikt, das Regime hat im nahe gelegenen Shenzhen Truppen aufmarschieren lassen: Die "bewaffneten Volkspolizisten" haben schon vor 30 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking bewiesen, dass sie im Zweifel keine Gefangenen machen. Kurz nach dem Jahrestag des Tiananmen-Massakers ist die Drohung an die Hongkonger Demokratieverteidiger unmissverständlich: Nehmt euch in Acht, wir können auch anders. Wir können euch binnen Stunden zusammenschießen, und dann ist Ruhe!


Können sie das wirklich? Können Herr Xi, Herr Li und die anderen Strippenzieher im Pekinger Politbüro es sich wirklich erlauben, den Aufstand in der ehemaligen britischen Kronkolonie mit aller Gewalt niederzuschlagen, ohne Rücksicht auf Verluste? Ihre Herrschaft, ihr Erfolg, ihre globalen Ambitionen gründen auf der absoluten Macht der Kommunistischen Partei: Die KP befiehlt, die Untertanen folgen. Und wer an der Spitze der Partei steht, der hat das Sagen. Gemäß diesem Prinzip müssen den Kadern die demokratischen Sonderregeln in Hongkong seit Langem ein Dorn im Auge gewesen sein. So haben sie in den vergangenen Monaten versucht, die Freiräume immer weiter einzuschränken: Nach und nach verschwanden prodemokratische Politiker aus dem Parlament, wurden Gesetze umgeschrieben und Bürgerrechte beschnitten – bis sich immer mehr Menschen gegen die schleichende Einführung der Diktatur erhoben.

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Werden sie nun von der eisernen Faust der Kommunistischen Partei zermalmt? Sollten Sie erwartet haben, dass ich Ihnen eine klare Antwort auf diese Frage geben kann, muss ich Sie enttäuschen. Ich wähne mich dabei allerdings in guter Gesellschaft. Auch von China-Experten vernehme ich gegenwärtig mehr Frage- als Ausrufezeichen. Niemand weiß, was die Bosse im Politbüro wirklich planen; vielleicht wissen sie es noch nicht einmal selbst. Aber eines dürfen wir annehmen: Szenen wie vor 30 Jahren rund um den Tiananmen-Platz – Panzer gegen Unbewaffnete, Hunderte Tote, ein weltweiter Aufschrei – werden die Herren meiden wie der Teufel das Weihwasser.

Hongkongs Bedeutung als Finanzplatz für China ist kaum zu überschätzen. Über die vergleichsweise liberale Stadt werden viele der Milliardengeschäfte abgewickelt, die dem gleichgeschalteten Festland seinen wachsenden Wohlstand ermöglichen. Die Erfahrung, die Raffinesse und die internationalen Kontakte Hongkonger Börsenmakler, Versicherungsmanager und Investmentbanker sind legendär. Anders als noch 1989 ist China heute nicht mehr isoliert, sondern in den internationalen Handel eingebunden. In der globalisierten Welt hängt alles mit allem zusammen, und alle sind voneinander abhängig. Das Regime kann es sich schlicht nicht erlauben, dass die Handelspartner im Westen angesichts brutaler Gewalt auf Distanz gehen oder gar Sanktionen verhängen. Seit Jahren bemüht sich China um ein freundliches Image als Entwicklungspartner in Asien, Afrika und Europa. Die Güterzüge der Neuen Seidenstraße rollen bis nach Duisburg – und sind auf einen reibungslosen Betrieb angewiesen. Durch einen massiven politischen Konflikt mit dem Westen nähme Xi Jinpings Prestigeprojekt absehbar großen Schaden. Das kann er nicht dulden, während er zeitgleich auch noch einen Handelskrieg mit Washington ausficht.

Dürfen wir also auf eine glimpfliche Entwicklung in Hongkong vertrauen und uns getrost anderen Themen zuwenden? So einfach ist es leider nicht. Denn all die taktischen Erwägungen, die diplomatische Rücksichtnahme und die Appelle zur Mäßigung dürften den chinesischen Herrschern ab dem Moment vollkommen egal sein, in dem die Proteste die Autorität der Partei oder die territoriale Integrität ihres Landes unterminieren. In der Provinz Xinjiang und bei der Auslöschung der Falun-Gong-Gemeinschaft haben sie gezeigt, was mit Leuten geschieht, die das wagen.

Solange aber die Hongkonger Proteste nicht auf Festlandchina überspringen, solange die Fabriken in Shenzhen, Schanghai und Peking weiter ungestört die Smartphones, Turnschuhe und Autos produzieren können, die wir alle kaufen, solange die Partei immer recht hat und Herr Xi für jeden seiner Befehle ein "Jawoll!" erntet, solange wird er den Konflikt in Hongkong wohl nicht vollends eskalieren. Räumungen durch die Polizei: sicher. Drohgebärden gegen angebliche "Terroristen" auf den Straßen: bestimmt. Einschüchterungsversuche durch staatlich infiltrierte Mafia-Triaden: vielleicht. Erschreckend ist das allemal. Aber (noch) ein begrenzter Konflikt.


WAS STEHT AN?

Zalmay Khalilzad ist ein Mann voller Hoffnung. Er verhandelt für die USA mit ihrem Erzfeind, den Taliban, und wie man hört, kommen die Gespräche gut voran. Die Amerikaner wollen dringend eine Einigung, die ihnen den schnellen, gesichtswahrenden Abzug aus Afghanistan ermöglicht. Das geht auch uns in Deutschland etwas an. Ohne die logistische Unterstützung durch die USA ist es mit der Bundeswehr-Mission am Hindukusch ebenfalls vorbei. Im Gegenzug sollen die Taliban zusichern, die günstige Gelegenheit nicht zum militärischen Durchmarsch zu nutzen. Und von der Beherbergung islamistischer Terrorgruppen wie al-Qaida möge man doch bitte auch absehen. Wir dürfen gespannt sein, wie die Amerikaner sicherstellen, dass diese Bedingungen eingehalten werden. Die Taliban sind so stark wie seit ihrer Entmachtung vor 18 Jahren nicht mehr. Trotz des jahrelangen Militäreinsatzes, trotz all der Milliarden an Entwicklungsgeld.

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Wie konnte es so weit kommen? Als die Taliban im Jahr 2001 von der Macht vertrieben waren, herrschte Aufbruchsstimmung. Das deutsche Truppenkontingent wurde mit Optimismus begrüßt. Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie groß die Hoffnungen waren, die viele Afghanen in die Helfer aus dem Westen setzten. Doch schon 2004 begann die Stimmung zu kippen. Die Amerikaner waren längst mit ihrem nächsten Regimewechsel im Irak beschäftigt und hatten leider keine Zeit, sorry. Der Neuanfang in Kabul erwies sich als leeres Gerede, die Koalitionäre aus dem Westen überließen korrupten Warlords das Tagesgeschäft.

Es gibt historische Chancen, die nicht wiederkommen. "Window of opportunity" heißt das griffig auf Englisch, ein Zeitfenster voller Möglichkeiten. Ein schönes Bild, das unsere Fähigkeit zur Gestaltung betont. Doch das Gemälde unserer Wirkungskraft hat eine hässliche Rückseite: Wenn das Fenster sich schließt, ist es mit den Möglichkeiten vorbei. Nicht nur in Afghanistan, wieder und wieder begegnet uns dasselbe Muster. Im Irak zum Beispiel. Diktator Saddam Hussein: entmachtet. Die Chance, mit seinem Erbe aufzuräumen? Schnell durch inkompetente Entscheidungen verspielt. Oder in Syrien: Als sich die Menschen gegen Baschar al-Assad und seine Schergen erhoben, da mussten wir erst einmal nachdenken, ob wir den demokratischen Kräften helfen oder lieber nur aus der Ferne zuwinken wollen. Das Ergebnis: bitter enttäuschte Hoffnungen, das Vakuum von brutalen Islamisten gefüllt. In Libyen: erst Hals über Kopf in den Luftkrieg gezogen, Diktator Gaddafi weggebombt, dann die Chance zum Wiederaufbau verpasst, das Land dem Chaos überlassen, Radikalisierung, Anarchie.

In allen diesen Fällen wurde die Gunst der Stunde nicht genutzt, und heute zahlen wir den Preis dafür. Jetzt müssen wir uns mit Brutstätten für islamistischen Terrorismus herumschlagen, mit Schlupfwinkeln für Schlepperbanden und Kriminelle. Flüchtlinge drängen aus den Krisenherden nach Europa, weil in Kabul Autobomben explodieren, in Syrien noch immer Artilleriegranaten in Wohnvierteln einschlagen und in Libyen nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Wir sind gezwungen, Militärbasen am Hindukusch zu unterhalten, ohne dass sich damit die Hoffnung verbindet, die Lage dauerhaft zum Guten zu wenden. Wir sind nur in Afghanistan, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Normalerweise ist unser Denken darauf ausgerichtet, Lösungen für Probleme zu finden, und das ist gut so. Doch vielleicht tun wir uns genau deshalb so schwer zu akzeptieren, dass der Verlauf der Geschichte unumkehrbar ist. Und dass uns, wenn sich das Fenster der Möglichkeiten einmal geschlossen hat, die Konsequenzen unserer Versäumnisse jahrelang begleiten. Es wäre wünschenswert, dass sich dieser Gedanke stärker in den politischen Entscheidungen niederschlägt, wenn die nächste Krise ansteht. Dann müsste Zalmay Khalilzad nicht mit den Taliban verhandeln und kein Mann voller Hoffnung sein. Sondern einer, der nur irgendein Problem lösen muss.


DIE GUTE NACHRICHT

Diese News dürfte Außenpolitiker aufhorchen lassen. Immer wieder attackiert Donald Trump Deutschland, droht mit Strafzöllen, Abzug der US-Soldaten, Austritt aus der Nato. Seine demokratischen Herausforderer wollen die Beziehungen zu Berlin und Europa reparieren – und versprechen jetzt auf t-online.de eine neue Form der Zusammenarbeit. Unser Amerika-Korrespondent Fabian Reinbold hat die exklusive Nachricht.


WAS LESEN?

Im Mai geriet Baltimore in Geiselhaft von Hackern: Kriminelle übernahmen das Computernetzwerk der US-Großstadt, blockierten die Verwaltung und verlangten Lösegeld. Wenn sie das schlimm finden, stellen Sie sich bitte einmal vor, was geschähe, würden Verbrecher Krankenhäuser, Strom- oder Wasserkraftwerke lahmlegen. So bereits geschehen in der Ukraine – aber auch in Deutschland. Im Interview mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, klärt mein Kollege Ali Roodsari, welche Gefahren uns durch Cyberattacken drohen – und wie Sie ihr Heim schützen können.


Politiker aller Parteien überbieten sich mit Vorschlägen für den Klimaschutz. Es reicht aber leider nicht, weniger zu fliegen, die Einkäufe in einen Leinenbeutel zu packen und mit dem E-Roller zur Arbeit zu juckeln. "Wir alle müssen Antworten für die großen und unangenehmen Fragen finden", schreibt Ursula Weidenfeld in ihrer lesenswerten Kolumne: Wie werden die Lasten neu verteilt?

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WAS AMÜSIERT MICH?

Die deutsche Politik verändert sich. Eine Grünen-Politikerin wird Cheflobbyistin der Energiebranche, alle Parteien machen plötzlich auf Klimaschutz. Und was kommt dabei heraus?

Ob das die Lösung ist? Ich bin skeptisch und wünsche Ihnen lieber einen kunterbunten Tag. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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