Kandidatenkür der Parteien Keine Begeisterung, nirgends
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Olaf Scholz will wieder als Kanzlerkandidat der SPD antreten. Robert Habeck will Kanzlerkandidat der Grünen werden. Die AfD wird Alice Weidel nominieren. Nur einer ist schon Kandidat: Friedrich Merz. Wahrscheinlich wird der CDU-Chef auch Kanzler.
Es läuft für Friedrich Merz. Vor einer Woche haben CDU und CSU ihn formell zum Kanzlerkandidaten gekürt. Alle skeptischen Fragen, ob nicht doch Markus Söder erfolgreicher sein könnte oder Hendrik Wüst der freundlichere Typ wäre: erledigt, abgehakt. Die beiden Konkurrenten im eigenen Lager stehen jetzt Spalier und klatschen Beifall für Merz. Wer die Union wählt, weiß ab sofort, wen er bekommt: Friedrich, den Sauerländer.
Seine Chancen, vom Kandidaten der Union zum Kanzler der Republik zu werden, sind – vorsichtig gesagt – glänzend. Olaf Scholz ist bei den Deutschen untendurch. Habeck ist bei den Deutschen untendurch. Scholz und Habeck sind die Einzigen, die das noch nicht mitbekommen haben. Weidel ist vom Kanzleramt zwar nicht mehr so weit entfernt wie die Erde vom Mars, aber immer noch so weit wie die Erde vom Mond. Also: Merz, wer sonst?
Zur Person
Uwe Vorkötter Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt.
Bundeskanzler Friedrich Merz: So wird es kommen, aber selbstverständlich oder gar richtig gut fühlt sich das bisher nicht an. Weckt er bei Ihnen Hoffnungen? Beflügelt er Ihre Fantasie? Merz ist eine Ankündigung, kein Versprechen. Begeisterung löst er nicht aus.
Das hat Gründe. Zunächst biografische. Die Kanzler, die der Bundesrepublik ihren Stempel aufgedrückt haben, kamen in ihren besten Jahren ins Amt. Willy Brandt und Helmut Schmidt waren Mitte fünfzig, Helmut Kohl und Gerhard Schröder Anfang fünfzig, Angela Merkel hatte gerade erst die 50 erreicht. Merz wird demnächst 69. Adenauer, der "Alte" genannt, war nur vier Jahre älter, als er Kanzler wurde. Friedrich Merz wird keine Ära prägen können.
Merz wird nicht nur ein später Kanzler sein, sondern vor allem ein verspäteter. Vor mehr als 20 Jahren schien seine Zeit bereits gekommen. Er war Fraktionschef der Union im Bundestag, Angela Merkel hatte den Parteivorsitz erobert. Die Kanzlerkandidatur trauten viele in der CDU der jungen Frau aus dem Osten nicht zu. Merz stand bereit. Aber Merkel trug dem damaligen CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber die Kandidatur an. Stoiber verlor gegen Schröder, das war 2002. Für diesen Fall hatte sich Merkel die Unterstützung der CSU als künftige Fraktionschefin gesichert, ein genialer Schachzug. Friedrich Merz war matt gesetzt, zog sich verbittert aus der Politik zurück, suchte Zuflucht im Big Business und hegte fortan eine tiefe Abneigung gegen Angela Merkel.
Alle Achtung vor seiner Leistung als Parteichef
Erst 2018 kehrte er in die Politik zurück. Seit zweieinhalb Jahren ist Merz nun Vorsitzender der CDU. Er hat in dieser kurzen Zeit, alle Achtung, die Merkel-CDU vom Kopf auf die Füße gestellt. Die in 16 Regierungsjahren blass und müde gewordene Partei ist kaum wiederzuerkennen. Unter der Ägide von Merz hat sie sich ein neues Grundsatzprogramm gegeben, sie tritt (wieder) konservativer auf, klarer in der Sache, schärfer im Ton.
In der Partei und in der Fraktion umgibt sich Merz mit Leuten, die es können: Carsten Linnemann zum Beispiel, der Generalsekretär der CDU, eines der größten politischen Talente auf der Berliner Bühne. Oder Thorsten Frei, Fraktionsmanager der Union, ehemaliger Oberbürgermeister, erfahrener Parlamentarier. Merz lässt sie machen. Er weiß, dass die CDU des Jahres 2024 kein Bündnis Friedrich Merz ist.
Die Partei hat starke Ministerpräsidenten – Kretschmer und demnächst Voigt im Osten, Wüst und Günther im Westen, Söder wird sowieso nie ein einfacher Partner sein. Sie sind sich untereinander nicht einig, wie man mit der AfD umgehen soll, ob die Grünen als Koalitionspartner infrage kommen. Parteien neigen dazu, sich über solche Fragen in Grabenkämpfe zu verstricken. Merz lenkt die internen Debatten in konstruktive Bahnen, er hat zu allem eine Meinung, aber seine Führung kommt nicht mehr autoritär daher, sondern kooperativ. Obwohl er ein Heißsporn ist, obwohl er aufbrausend und arrogant sein kann. Er diszipliniert sich und präsentiert die Union als Kontrast zur Ampelkoalition: streitbar, aber nicht zerstritten.
Sogar, wenn es um das heikelste Thema der Politik geht, die Migration – und um die heikelste Beziehung in der CDU, die zwischen Merz und Merkel. Er hat ihre Migrationspolitik um 180 Grad gedreht. Seine Forderung, die meisten Flüchtlinge an den deutschen Grenzen zurückzuweisen, ohne nähere Prüfung ihres Falls, ist genau jene Politik, von der Merkel einst sagte, das sei dann nicht ihr Land, wenn man so mit Menschen umgehe. Merz versus Merkel, die neue konservative CDU gegen die Merkel-CDU: ein altes Zerwürfnis. Er musste es aus der Welt schaffen.
Zwei Tage nach der Kür ihres Kanzlerkandidaten feierte die CDU den 70. Geburtstag von Angela Merkel. Seit seiner Rückkehr in die Politik waren sich die beiden aus dem Weg gegangen, oder besser: Sie fanden keinen Weg zueinander. Schon protokollarisch nicht. Er wollte nicht bei ihr vorstellig werden, sie wollte ihm nicht ihre Aufwartung machen ... Dann die Feierstunde, Merkel-typisch in der Akademie der Wissenschaften, sehr akademisch – und ganz harmonisch. Liebe Angela, lieber Friedrich, er würdigt ihre Lebensleistung, sie wünscht ihm viel Erfolg. Ein Burgfrieden. Niemand weiß, ob er hält. Im November veröffentlicht Merkel ihre Autobiografie, was schreibt sie über ihren langjährigen Widersacher? Immerhin, fürs erste hat Merz einen diplomatischen Hochseilakt erfolgreich bewältigt.
Egal, ob man ihn nun mag oder nicht: Die vergangenen drei Jahre als Oppositionsführer und Parteichef sind eine Erfolgsgeschichte. Aber warum tun sich dann so viele Menschen schwer damit, diesen Friedrich Merz zu mögen? Warum springt der Funke nicht über? Und warum ist die Union in den demoskopischen Umfragen immer noch wie festgetackert, knapp über 30 Prozent?
Eine Frage des Typs
Das ist nicht nur eine Altersfrage, sondern auch eine des Typs. Merz erreicht die Köpfe der Menschen, nicht ihre Herzen. Er ist ein scharfsinniger Analytiker, ein brillanter Redner. Er kennt sich in der Welt der Dax-Konzerne aus, aber kennt er auch den Alltag von Arbeitnehmern und Rentnerinnen? Er ist ein Mann, geprägt im 20. Jahrhundert – kann er auch die Frauen erreichen, erst recht die jungen? Man hat ihn oft am Steuer seines Flugzeugs gesehen; das Fliegen ist kein angemessenes Hobby für einen, der Kanzler der einfachen Menschen werden will. Nähe zu den einfachen Menschen herzustellen, ist nicht die Stärke des Friedrich Merz.
Ein weiteres Manko: Merz ist durch und durch ein Kind der alten Bundesrepublik. Im Wahlkampf der ostdeutschen Bundesländer wirkte er verloren. Er verkörpert dort den Typ Treuhand-Manager; das waren jene Leute, die einst die volkseigenen Betriebe der DDR abwickelten. Merz ist pro-westlich geprägt, pro-amerikanisch, pro-europäisch. Mit der anderen, sehr ostdeutschen Prägung, mit dem Verständnis für Russland, mit der inneren Ablehnung des Nato-Bündnisses tut er sich schwer. 35 Jahre nach dem Fall der Mauer ist das deutsch-deutsche Thema aber wieder relevant – und politisch brisant. Es ist jetzt weniger ein Thema der ökonomischen Rationalität als vielmehr der psychologischen Befindlichkeiten. Mit der Ökonomie kommt Merz gut zurecht, mit der Psychologie nicht.
Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt
Und trotzdem wird er Kanzler? Ja. Die Ampelparteien legen ihm doch den Ball auf den Elfmeterpunkt – er muss nur noch verwandeln. Zudem wird er klug genug sein, eine Mannschaft aufzustellen, die seine persönlichen Schwachstellen ausgleicht. Wobei das durchaus spannend wird: Wo sind eigentlich die ostdeutschen Christdemokraten, die in Berlin eine Rolle spielen sollen? Wo sind die Frauen in der Union, die für Kabinettsposten infrage kommen?
Friedrich Merz wird nicht der Kanzler der großen Gefühle werden, wie es Helmut Kohl nach der deutschen Einheit war. Man wird auch nicht so neugierig auf ihn blicken wie einst auf Angela Merkel, die erste Frau, die erste Ostdeutsche im Kanzleramt. Merz, der Konservative, schließt weder an Kohl noch an Merkel an, sondern eher an zwei sozialdemokratische Kanzler der Vergangenheit: Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.
Schmidt, der Weltökonom. Internationale Wirtschaftsbeziehungen, das Ende der Globalisierung, der Umgang mit China, die Zukunft der deutschen Industrie: Diese Themen werden in den nächsten Jahren unweigerlich auf uns zukommen. Davon versteht Merz einiges, wie einst Helmut Schmidt. Und Schröder: Der führte Deutschland mit seiner Agenda 2010 aus einer tiefen Wirtschaftskrise. Merz wird eine Agenda 2030 ausrufen. Wieder wird es um den Arbeitsmarkt gehen, um das Bürgergeld, um die Sanierung der öffentlichen Haushalte, die Zukunft des Sozialstaats.
Der ewige Sauerländer
Friedrich Merz, der Kanzler in spe, wird der Sauerländer bleiben, den wir kennen. Er ist kein Revolutionär, kein charismatischer Führer. Sein Versprechen lautet: Deutschland kann es besser. Handwerklich. Wirtschaftlich. Besser als die Ampelregierung. Ja, auch besser als die Merkel-CDU. Richten wir uns also ein auf einen neuen Geschäftsführer der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Wenn er die Geschäfte der Republik nach den Jahren der Ampelkoalition ordentlich führt, wäre schon viel gewonnen.
- Eigene Überlegungen