Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der richtige Härtetest kommt erst noch

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die ersten 100 Tage einer neuen Regierung gelten gemeinhin als Schonfrist. Die neuen Ministerinnen und Minister sollen sich mit ihren Aufgaben vertraut machen dürfen, sich einarbeiten und eingewöhnen. Große Schritte werden normalerweise nicht erwartet. Doch was ist heute schon normal?
Krieg gegen die Ukraine, Krieg im Nahen Osten, ein US-Präsident, der noch freier dreht als in seiner letzten Amtszeit und dazu ein Berg liegen gebliebener Aufgaben vor der eigenen Haustür: Die schwarz-rote Koalition konnte sich ähnlich wie die Ampel keine Schonzeit leisten. Und das war ihr auch vollkommen bewusst.
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"Ich möchte, dass Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, schon im Sommer spüren: Hier verändert sich langsam etwas zum Besseren; es geht voran", hatte Bundeskanzler Friedrich Merz im Mai in seiner ersten Regierungserklärung gesagt. Eine deutliche Stimmungsaufhellung sollte her. Knapp 100 Tage nach seinem Amtsantritt scheinen die Bürger dabei aber irgendwie nicht mitzumachen.
Laut einer neuen Umfrage des Instituts Insa ist eine Mehrheit unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung und von Kanzler Merz. 60 Prozent äußern sich demnach kritisch zu CDU/CSU und SPD, nur 27 Prozent sind zufrieden. Auch Merz selbst erhält geringe Zustimmung: 30 Prozent sind mit seiner Arbeit zufrieden, 59 Prozent unzufrieden. Besonders bitter: Damit steht er deutlich schlechter da als sein Vorgänger Olaf Scholz, dessen Arbeit nach 100 Tagen im Amt immerhin 43 Prozent positiv bewerteten.
Dabei kann man Schwarz-Rot nicht vorwerfen, dass sie nicht von Beginn an rangeklotzt hätten. Teilweise wurde sogar schon vor Amtsantritt gearbeitet, siehe die Öffnung der Schuldenbremse. Doch entscheidend ist nicht, dass man irgendwie geschäftig aussieht, sondern was am Ende dabei herauskommt und auf welche Art das passiert.
Geräuschloser als die an den inneren Querelen gescheiterte Ampel sollte die Koalition agieren, auf getroffene Absprachen sollte Verlass sein. Doch dann scheiterte die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin; Merz und sein Fraktionschef Jens Spahn hatten ihre eigenen Leute nicht im Griff, die noch dazu teils rechtspopulistischen Hetzkampagnen auf den Leim gingen. Auch wenn Merz am liebsten der Baumeister der Macht wäre und nicht nur der "Klempner", wie er einst Scholz diffamierte: An ihren handwerklichen Fähigkeiten muss die Union offenbar noch arbeiten.
Doch es gibt sie, die ersten Erfolge: Die Koalition hat es geschafft, vergleichsweise flott das Finanzpaket für Rekordinvestitionen in Infrastruktur und Verteidigung zu beschließen. Zudem stehen Steuersenkungen für Unternehmen und verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten auf der Haben-Seite. Allerdings ist fraglich, wie sehr dieser "Wachstumsbooster" die Wirtschaft tatsächlich nach vorn bringt. Kritiker sprechen von einer Steuersenkung "mit der Gießkanne", von der vor allem Großkonzerne mit hohen Gewinnen profitieren.
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm zeigte sich am Wochenende jedenfalls nicht sehr optimistisch. "Wenn es ungünstig läuft, rutscht Deutschland weiter in die Rezession", sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Es brauche jetzt einen umfangreichen Abbau von Regulierung – von den Rahmenbedingungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt, über die Regelungen zum Klimaschutz bis zum Datenschutz. "Deutsche Unternehmen werden von einem wahren Regulierungsdickicht ausgebremst. So kann keine Wachstumsdynamik einsetzen."
Den versprochenen Bürokratieabbau ist die Bundesregierung also noch schuldig. Erschwerend hinzu kommt zumindest für den schwarzen Teil der Koalition, dass er mit der Neuverschuldung eines seiner Wahlversprechen gebrochen hat. Gleiches gilt für die Stromsteuersenkung für alle, die nun nur für das produzierende Gewerbe sowie die Land- und Forstwirtschaft kommt. Die Bürger und viele Mittelständler schauen in die Röhre.
Die offizielle Begründung ("leider kein Geld dafür da") stimmt nur halb. Richtig ist, dass durchaus Geld da wäre, wenn man es nicht an anderer Stelle unnötig ausgeben würde. Stichwort Mütterrente. Die kostet mit ihren fünf Milliarden Euro im Jahr in etwa genauso viel, wie die Stromsteuersenkung für alle Bürger gekostet hätte. Doch offenbar war es wichtiger, CSU-Chef Markus Söder ruhigzustellen, der die Mütterrente unbedingt durchsetzen wollte, als generationengerechte Rentenpolitik zu machen.
Dass der Sozialstaat unter Druck steht, erzähle ich Ihnen ja ungefähr alle drei Tage. Umso schleierhafter ist mir, wie man angesichts eines Haushaltslochs von 172 Milliarden Euro bis 2029 mit der Fortsetzung des festen Rentenniveaus und der Ausweitung der Mütterrente noch zusätzliche Ausgaben obendrauf packen kann. Und das, obwohl schon jetzt ein Viertel des Bundeshaushalts als Zuschuss an die Rentenversicherung geht.
Weil aus dem Arbeitsministerium von Bärbel Bas keine grundlegenden Reformen kommen, stoßen inzwischen andere mit eigenen Vorschlägen in dieses Vakuum. Von Boomer-Soli über eine längere Lebensarbeitszeit bis zur Forderung, dass nur Beamte länger arbeiten sollten: Die Ideen sprießen und erhöhen den Druck auf die Regierung, eine echte Reform anzustoßen. Fragt sich nur, ob Union und SPD den Mut dazu haben?
Ein Herz gefasst hat sich Merz dafür wenigstens an anderer Stelle: In der Außenpolitik macht er bisher weitgehend eine gute Figur. Das Verhältnis zu wichtigen Partnern wie Frankreich hat er wiederbelebt; im Verhältnis zu Israel hat ihm die Regierung unter Benjamin Netanjahu keine andere Wahl gelassen, als ein neues Kapitel zu öffnen. So bitter das auch ist. Die Entscheidung, keine weiteren Waffen mehr nach Israel zu liefern, wenn diese in Gaza eingesetzt werden könnten, hat Netanjahu selbst verursacht, schreibt mein Kollege Philipp Michaelis. Trotzdem muss man sich diesen Schritt als deutscher Bundeskanzler erst einmal trauen.
Licht und Schatten also in den ersten 100 Tagen der neuen schwarz-roten Bundesregierung. Doch der richtige Härtetest kommt erst noch. Im September soll der erste von zwei Haushalten im Bundestag verabschiedet werden. Das dürfte nicht ohne Diskussionen funktionieren, ob das Geld an allen Stellen richtig eingesetzt ist. Auch die geplante Bürgergeldreform hat das Zeug dazu, die Gesellschaft zu polarisieren und die Koalition zu spalten. Genauso die immer dringlicher werdende Debatte, wie man Kranken-, Pflege- und Rentenkassen vor dem Kollaps bewahrt.
Und während die Merz-Regierung versuchen wird, in dieser unruhigen See nicht zu kentern, wartet die AfD nur darauf, ihr bei jeder Seitneigung noch einen Schubs zu geben. Umso mehr liegt es an der Koalition und ihrem Kapitän, den Kurs zu halten.
Flucht nach vorn
Bundeskanzler geben selten TV-Interviews, noch seltener in der politischen Sommerpause. Dass Friedrich Merz gestern trotzdem vor die Kameras der ARD-"Tagesthemen" trat, zeigt, wie wichtig es ihm war, sich zu erklären. Warum er entschieden hat, dass die schwarz-rote Bundesregierung bis auf Weiteres keine Exporte von Rüstungsgütern nach Israel mehr genehmigen wird, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen könnten.
Die Bundesregierung habe beim Vorgehen im Gazastreifen einen Dissens mit der israelischen Regierung, sagte Merz. Solche Kritik müsse eine Freundschaft aber aushalten. "Und Solidarität mit Israel bedeutet nicht, dass wir jede Entscheidung, die eine Regierung trifft, für gut halten und ihr dabei auch noch Unterstützung zukommen lassen bis hin zu militärischer Unterstützung durch Waffen."
Das ändere nichts an den Grundsätzen der deutschen Israel-Politik. "Wir werden diesem Land auch weiter helfen, sich zu verteidigen." Aber die Bundesregierung könne nicht Waffen in einen Konflikt liefern, der Hunderttausende zivile Opfer fordern könnte. Vor Merz' Entscheidung am Freitag hatte die israelische Regierung angekündigt, den Militäreinsatz in der Region auszuweiten und die Stadt Gaza einnehmen zu wollen.
Mit dem Interview reagiert Merz insbesondere auch auf Kritik aus der eigenen Partei und vonseiten der CSU. So beklagte etwa die Schwesterpartei, sie sei an der Entscheidung nicht beteiligt gewesen und halte sie für bedenklich. Rückendeckung bekam Merz hingegen vom Koalitionspartner SPD. "Ich finde, Friedrich Merz zu unterstellen, er würde Israel verraten, das ist schon starker Tobak", sagte Arbeitsministerin Bärbel Bas gestern im Sommerinterview des ARD-Hauptstadtstudios.
Oder anders gesagt: Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung bedeutet nicht automatisch eine generelle Ablehnung Israels – diese Unterscheidung sollte intellektuell möglich sein.
Was steht an?
Deutschland, deine Touris: Wie das Geschäft von Hotels, Pensionen und anderen Beherbergungsbetrieben im ersten Halbjahr gelaufen ist, zeigen an diesem Montag Zahlen des Statistischen Bundesamts. Die späten Pfingstferien hatten den Inlandstourismus im Mai gedämpft. Auch für die ersten fünf Monate des Jahres fiel die Bilanz leicht negativ aus.
Noch mehr Statistik: Auch zu den Insolvenzen im Mai hat das Statistische Bundesamt etwas zu sagen. Es legt zudem einen Schnellindikator für den Juli vor. Nach Berechnungen des IWH-Instituts aus Halle (an der Saale) sind die Pleiten im vergangenen Monat gestiegen. Auch für den Herbst erwarten die Forscher hohe Insolvenzzahlen.
Kehrt Crystal Palace zurück in die Europa League? Heute soll der internationale Sportgerichtshof Cas sein Urteil fällen. Die Uefa hatte den englischen Premier-League-Klub in die klassentiefere Conference League zurückversetzt. Grund für die Entscheidung sind Regularien beim sogenannten Multi-Club Ownership. Die Regeln sollen sicherstellen, dass ein Investor nicht gleichzeitig entscheidenden Einfluss auf zwei oder mehr Vereine ausübt, die in denselben europäischen Wettbewerben starten könnten.
Ohrenschmaus
In dieser Woche sieht man zwar die Perseiden am Nachthimmel, die Leoniden erfüllen aber auch zuverlässig Wünsche – etwa den nach guter Laune, wenn man hier reinhört.
Das historische Bild
1904 verübte die deutsche Kolonialmacht in Deutsch-Südwestafrika einen Massenmord. Mehr lesen Sie hier.
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In wenigen Wochen steht in Belarus das Manöver Sapad-2025 an. Im Westen wächst daher die Sorge, dass Russland die Militärübung nutzt, um einen Angriff auf die Nato vorzubereiten, berichtet mein Kollege Julian Fischer.
Russland bekriegt die Ukraine, ihren Urlaub wollen viele Russen trotzdem genießen. Das gestaltet sich gar nicht so einfach, wie unser Kolumnist Wladimir Kaminer schreibt.
Hexenverfolgung klingt wie ein Relikt aus dem Mittelalter, ist in Afrika, Asien und Südamerika aber tödliche Realität. Meine Kollegin Ellen Ivits hat mit Menschen gesprochen, die sich der Rettung von Opfern des Hexenwahns gewidmet haben.
Zum Schluss
Und ich dachte, nur Robert Habeck taucht plötzlich zu Gesprächen am Küchentisch auf.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Start in die Woche! Morgen schreibt mein Kollege Mauritius Kloft für Sie.
Herzliche Grüße
Christine Holthoff
Finanzredakteurin
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.