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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schwerer Rückschlag im Ukraine-Krieg Die Fassade bröckelt

Mit einer Geheimdienstoperation ist es der Ukraine gelungen, Militärbasen in Russland anzugreifen. Der Schaden für die russische Armee ist immens, Kremlchef Wladimir Putin schwört Rache. Scheitern die Verhandlungen um eine Waffenruhe nun endgültig?
In den vergangenen Monaten gab er sich stets selbstbewusst und siegessicher, doch mittlerweile bekommt dieses Bild immer tiefere Risse: Der russische Präsident Wladimir Putin muss aktuell gleich mehrere Rückschläge hinnehmen – wirtschaftlich wie militärisch. Die Fassade der russischen Übermacht bröckelt.
Zunächst einmal sieht sich die russische Ökonomie aktuell mit so großen Problemen konfrontiert wie seit Kriegsbeginn nicht mehr. Trotz massiver staatlicher Investitionen in die Rüstungsindustrie könnte die russische Wirtschaft in die Rezession abrutschen, gleichzeitig steigt die Inflation. Putins Krieg, die westlichen Sanktionen und der sinkende Ölpreis führen auch zu Engpässen bei existenziell wichtigen Lebensmitteln. "Wir haben nicht genug Kartoffeln", erklärte der russische Präsident vergangenen Dienstag auf einer im Fernsehen übertragenen Sitzung der Organisation "Russland – Land der Möglichkeiten". Die Folge: Der Kartoffelpreis stieg seit Jahresbeginn um 52 Prozent.
Am Wochenende löste ein militärischer Rückschlag weiteren Unmut in der russischen Bevölkerung aus. Der ukrainische Geheimdienst hatte nach monatelanger Vorbereitung einen umfassenden Schlag gegen mehrere russische Militärflugplätze geführt, von denen regelmäßig Kampfflugzeuge zu Angriffen gegen die Ukraine starten. Laut der Darstellung des ukrainischen Geheimdienstes SBU sollen über 40 Kampf- und Aufklärungsflugzeuge zerstört worden sein. Russische Quellen berichten von mehr als zehn Maschinen. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
- Geheimdienstoperation der Ukraine: Kiew plante die Attacke unter den Augen des Kreml
Eines ist aber zweifellos klar: Der Ukraine ist ein schwerer Wirkungstreffer gegen die russische Armee gelungen. "Heute hat die Ukraine die Flugplätze angegriffen, auf denen die strategische russische Luftfahrt untergebracht ist. Damit hat sie deutlich gemacht, dass eine friedliche Lösung nicht möglich ist", sagte er. Nun soll es "keine roten Linien mehr geben". Putin weiter: "Das werden sie bereuen." Aber was bedeutet das?
Der russische Präsident scheint in Bedrängnis zu sein. Er sucht nach einem Vorwand, seinen Krieg weiter in die Länge zu ziehen.
Angriff stellt Russland vor Probleme
Aus ukrainischer Perspektive war die sogenannte "Operation Spinnennetz" ein Erfolg, auf den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lange warten musste. Nach vielen Monaten in der Defensive benötigte die ukrainische Armee einen Sieg, ein Zeichen des Durchhaltevermögens an die eigene Bevölkerung.
In diesem Zusammenhang war der Angriff am Wochenende noch wirksamer als die Versenkung des russischen Flaggschiffs "Moskwa" im Frühjahr 2022. Ukrainische Drohnen sollen russische Flugzeuge im Wert von sieben Milliarden US-Dollar zerstört haben, hieß es vonseiten des SBU. Russland habe damit 34 Prozent seiner strategischen Bomberflotte verloren, die Marschflugkörper absetzen können.
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Selbst falls die Zahl zu hoch angesetzt sein sollte, könnte die ukrainische Operation den Kriegsverlauf beeinflussen. Laut Angaben aus Kiew sollen Flugzeuge vom Typ Tupolew Tu-95 sowie Tu-22 und spezielle Frühwarnflugzeuge Berijew A-50 getroffen und zerstört worden sein. Das beeinträchtigt einerseits die russischen Fähigkeiten, Ziele in der Ukraine weiterhin stark zu bombardieren – und das ist vor allem mit Blick auf die Sicherheit der ukrainischen Zivilbevölkerung ein wichtiger Erfolg für die ukrainische Führung.
Andererseits sind die strategischen Bomber ein wichtiger Bestandteil der nuklearen Triade Russlands. Diese umfasst drei Komponenten: landgestützte Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte ballistische Raketen und strategische Bomber mit Nuklearwaffen. Die Struktur gewährleistet eine gesicherte Zweitschlagfähigkeit und dient der nuklearen Abschreckung.
- "Der Bomber von Mariupol": Russischer Kommandeur stirbt bei Attentat
Für Putin ist der Verlust der Flugzeuge gleich in mehrerer Hinsicht schmerzhaft. Die Flugzeuge sind teuer und die russische Luftwaffe soll gerade einmal über etwa 100 Maschinen verfügen. Viele von den Flugzeugen im Bestand sollen wiederum nicht einsatzfähig sein und die Nachbeschaffung ist nicht einfach. Zum einen führten die benannten Wirtschaftsprobleme bereits dazu, dass der Kreml große Teile des russischen Wohlstandsfonds aufbrauchen musste. Zum anderen hat Russland durch die Sanktionen große Probleme beim Flugzeugbau, weil viele Teile vor Kriegsbeginn aus dem Westen kamen.
Wut und Unsicherheit wachsen
Russlands Krieg in der Ukraine ist primär ein Abnutzungskrieg, bei dem es mittelfristig darauf ankommt, welche Seite am Ende mehr Soldaten, mehr Geld und mehr militärisches Gerät bereitstellen kann. In Anbetracht der im Vergleich geringen Kosten für Drohnen könnte der Ukraine mit der "Operation Spinnennetz" die für sie erfolgreichste Aktion seit Kriegsbeginn gelungen sein.
Davon sprechen auch viele der Kreml-nahen Militärblogger in Russland. In ihren Telegram-Kanälen mischte sich nach der Attacke widerstrebende Anerkennung für die ukrainische Geheimdienstarbeit unter die Wut auf die eigene Militärführung, die die Gefahr unterschätzt und die Flugzeuge zu wenig geschützt habe. Außerdem wurde die ukrainische Regierung als "Terroristen" beschimpft, da Drohnen auch Züge und Brücken in Russland attackierten, wobei russische Zivilisten gestorben seien.
Der Fortschritt der Ukraine bei der Drohnenentwicklung scheint den Krieg immer mehr nach Russland zu tragen. Putin sitzt zwar machtpolitisch auch nach drei Kriegsjahren fest im Sattel, weil er jegliche Kritik an seinem Kurs gewaltsam unterdrücken lässt. Trotzdem wird die Lage für ihn gefährlicher, wenn die Auswirkungen seines Kriegs auch für die russische Bevölkerung immer spürbarer werden.
Scheitern die Gespräche in Istanbul?
Kritik am russischen Präsidenten ist in den Kanälen der Militärblogger dennoch nicht zu finden. Vielmehr ist man sich mit Putin einig darüber, dass Russland Vergeltung üben müsse. "Bis an die polnische Grenze", schrieb etwa ein Blogger mit mehr als 500.000 Abonnenten.
- Offensive hat begonnen: "Die Russen wollen eben keinen Waffenstillstand"
Dabei gilt als unwahrscheinlich, dass die ukrainische Attacke Putins Kriegsziele verändert hat. Der Vorsitzende des russischen Verteidigungsausschusses, Andrej Kartapolow, sagte der russischen Zeitung "Moskowski Komsomolez" bereits am Freitag: "Die militärische Sonderoperation wird bis zur vollständigen Erfüllung der von Wladimir Putin gesetzten Ziele fortgesetzt."
Russland werde "auch danach nicht aufhören", drohte er außerdem und kündigte Tribunale gegen das "Kiewer Regime" an, das "Verbrechen" gegen russische Soldaten und Zivilisten begangen habe. Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow machte zuletzt einen Regimewechsel in Kiew zur Bedingung für einen Frieden.
Somit standen die Gespräche zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul unter einem schlechten Stern, ein Kompromiss schien bereits im Vorfeld äußerst unwahrscheinlich. Das Treffen der Delegationen in der türkischen Metropole endete am Montag dann auch bereits nach einer Stunde. Dass Moskau den ukrainischen Drohnenangriff nicht als Vorwand benutzt, die Verhandlungen komplett scheitern zu lassen, hat vor allem einen Grund: Die Gespräche passen in das strategische Spiel von Wladimir Putin.
Denn der Kremlchef kann offenbar mit der Teilnahme Russlands an dem Dialog US-Präsident Donald Trump besänftigen und erfolgreich auf Zeit spielen, so dass seine Armee in der Ukraine eine Sommeroffensive vorbereiten kann. Mit dieser Strategie hat Putin bereits erfolgreich ein weiteres US-Sanktionspaket verhindert. Und das nicht ohne Grund: Weitere Maßnahmen der Amerikaner gegen Russland wären für Moskau angesichts der gegenwärtigen Probleme der eigenen Wirtschaft eine große Belastungsprobe.
"Der Krieg ist eigentlich für die Wirtschaft erst mal nicht schlecht, denn er bedeutet, dass der Staat sehr viel Geld ausgibt", sagte Osteuropa-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit "ntv.de". Seine Einschätzung: "Die Ausgaben für Waffen und Soldaten wirken wie ein riesiges Konjunkturpaket." Dementsprechend könnte es gut sein, dass Putin sich ein Kriegsende gegenwärtig gar nicht leisten kann.
- Eigene Recherchen
- fr.de: Putin kann sich keinen Frieden in der Ukraine leisten
- n-tv.de: Putin plündert Rentenfonds der Russen für den Krieg
- morgenpost.de: "Keine roten Linien mehr" – Putin droht Ukraine mit Vergeltung
- fr.de: Russland knüpft Waffenruhe an Bedingungen
- ksta.de: Moskau will Sieg und dann "nicht aufhören" – USA für "Kreml-Propaganda" in der Kritik
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters