So benachteiligt der Staat zwei Millionen Rentner
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr fΓΌr Sie ΓΌber das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Ein Gesetz benachteiligt Millionen Menschen: WΓ€hrend die Renten anderer Leute steigen, gehen sie leer aus. Die Ungerechtigkeit nimmt von Jahr zu Jahr zu.
Mehr als 48 Jahre lang hat sie als Angestellte im ΓΆffentlichen Dienst gearbeitet β in der Verwaltung einer Uniklinik. Seit 2017 ist Kathrin BΓ€r in Rente, insgesamt 1.700 Euro erhΓ€lt sie. Hinzu kommen gut 350 Euro sogenannte Betriebsrente β also eine staatlich gefΓΆrderte Zusatzrente, gezahlt vom frΓΌheren Arbeitgeber, dem Staat. Eigentlich eine gute Sache. Sie soll nΓ€mlich das ausgleichen, was pensionierte Beamte mehr bekommen: bei gleicher geleisteter Arbeit fast das doppelte. Doch genau diese Zusatzrente fΓΌhrt zu einer immer grΓΆΓer werdenden Ungerechtigkeit. Denn anders als die Pension steigt die Betriebsrente seit 2002 praktisch nicht mehr an.
Schuld daran ist ein Gesetz, das viele nicht kennen und nicht einmal Rentenexperten im Blick haben: das Betriebsrentengesetz. Darin gibt es einen Passus, der die ErhΓΆhung der Betriebsrente regelt. In Paragraf 16 heiΓt es da: "Der Arbeitgeber hat alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prΓΌfen" und dann gegebenenfalls zu erhΓΆhen. Doch um den Jahrtausendwechsel wurde der Paragraf um den Absatz 5 ergΓ€nzt, der besagt: "Die Verpflichtung nach Absatz 1 entfΓ€llt, wenn der Arbeitgeber sich verpflichtet, die laufenden Leistungen jΓ€hrlich um wenigstens eins vom Hundert anzupassen." Im Klartext: Wenn die Betriebsrente um ein Prozent erhΓΆht wird, gibt es keine weitere ErhΓΆhung.
FΓΌr Kathrin BΓ€r heiΓt das: "Seit ich vor fΓΌnf Jahren aufgehΓΆrt habe zu arbeiten, wurde meine Betriebsrente nur um wenige Euro erhΓΆht." Genau genommen: um etwa fΓΌnf Euro. Gerade in Zeiten extremer Inflation, in denen alles teurer wird, werde das fΓΌr sie zunehmend zu einem Problem, sagt BΓ€r.
Mehr als zwei Millionen Rentner betroffen
So wie ihr geht es in Deutschland gut 1,4 Millionen Menschen, die im ΓΆffentlichen Dienst angestellt waren, sowie weiteren gut 600.000 Menschen, die noch alte Betriebsrenten aus Pensionskassen bekommen. Verantwortlich dafΓΌr ist nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Denn diese ignoriert das Problem und diskriminiert so Millionen von Menschen.
Das Rentensystem in Deutschland ist nicht leicht zu durchschauen. Es besteht aus drei SΓ€ulen. SΓ€ule eins umfasst die Pflichtsysteme: FΓΌr Angestellte ist das zum Beispiel die gesetzliche Rentenversicherung, fΓΌr Beamte die Beamtenversorgung oder fΓΌr Γrzte die Γrzteversorgung. Eine weitere SΓ€ule ist die private Zusatzvorsorge, also Versicherungen wie die "Riesterrente" oder Γ€hnliche Produkte. Und die dritte SΓ€ule ist die betriebliche Altersversorgung. Hier ist zu unterscheiden zwischen Pensionskassen und Direktversicherungen. Die meisten Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern heute eine betriebliche Altersvorsorge ΓΌber eine Direktversicherung an. Doch vor allem GroΓunternehmen betrieben frΓΌher mehr als heute selbst Pensionskassen fΓΌr die Betriebsrente ihrer Mitarbeiter β und eben auch der Staat fΓΌr seine Angestellten im ΓΆffentlichen Dienst, die Versorgungsanstalt des Bundes und der LΓ€nder (VBL).
Der ergΓ€nzte Absatz im Paragraf 16 des Betriebsrentengesetzes sollte eigentlich nur fΓΌr jene Unternehmen gelten, die noch Pensionskassen betreiben. FΓΌr sie war es als eine Art Sicherung in wirtschaftlich schlechten Zeiten gedacht. Der Bundestagsabgeordnete und Chef der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion Axel Knoerig (CDU) hΓ€lt diese ursprΓΌngliche Idee auch nach wie vor fΓΌr sinnvoll. Allerdings kritisiert auch er: "Ein Prozent jΓ€hrliche Anpassung als Minimum reicht nicht."
Gewerkschaft hat selbst an Dilemma mitgewirkt
Gerade laufen die Tarifverhandlungen fΓΌr den ΓΆffentlichen Dienst. Die Forderungen von ver.di sind so hoch wie selten: 10,5 Prozent ErhΓΆhung. "Warme Worte reichen nicht" ist ihr Slogan. Theoretisch wΓΌrden von dieser ErhΓΆhung auch die ehemaligen Angestellten des ΓΆffentlichen Dienstes profitieren, also die Betriebsrenten-EmpfΓ€nger. Doch es war die Gewerkschaft, die Anfang der 2000er mit ausgehandelt hat, dass der besagte Absatz im Paragraf 16 auch fΓΌr sie gilt. Die Gewerkschaft und der Staat sorgen also dafΓΌr, dass die ehemaligen Angestellten deutlich weniger Geld bekommen als ehemalige Beamte, die in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr PensionserhΓΆhung erhalten haben.
FΓΌr Kathrin BΓ€r ist das eine ausgemachte Ungerechtigkeit. Gerade fΓΌr Frauen wie sie bedeute die ausbleibende ErhΓΆhung viel Geld: "Das wΓ€ren 30 Euro im Monat mehr fΓΌr mich." BΓ€rs Anwalt, Bernd Mathies, Fachanwalt fΓΌr Rentenrecht, kritisiert, dass ΓΌber die Jahre so ein sehr hoher Betrag zusammenkomme, "weil prozentuale ErhΓΆhungen natΓΌrlich immer ΓΌber eine lange Zeit wirken." WΓΌrde die Betriebsrente zumindest der Inflation angepasst, dann kΓ€men Tausende Euro mehr in der Bezugszeit zusammen.
Haben Sie Hinweise zu einem unserer Artikel? VerfΓΌgen Sie ΓΌber Einblicke in Bereiche, die anderen verschlossen sind? MΓΆchten Sie MissstΓ€nde mithilfe unserer Reporter aufdecken? Dann kontaktieren Sie uns bitte unter hinweise@stroeer.de
Vor allem Frauen betroffen
Frauen seien hiervon noch mehr als MΓ€nner betroffen, weil sie in der Regel lΓ€nger leben. Insgesamt werden gut 2 Millionen Betriebsrentner diskriminiert, sagt Mathies, "weil sie anders behandelt werden als Beamte." Und das sogar bewusst vorangetrieben durch den Staat, weil es sich um ehemalige Angestellte im ΓΆffentlichen Dienst handelt. Er sieht ein groΓes VersΓ€umnis bei der Politik und der Gewerkschaft.
Die Dienstleistungsgesellschaft ver.di hat in den Verhandlungen seit 2003 keine Anstalten gemacht, die Betriebsrentner in diesem Punkt den PensionΓ€ren gleichzustellen.
In einem privaten Schreiben an ein Gewerkschaftsmitglied schreibt ver.di als BegrΓΌndung, dass mit einer hΓΆheren Steigerung vor allem die "Langlebigen" profitieren wΓΌrden, weil im System nur ein gleichbleibender Betrag vorhanden sei. Anwalt Bernd Mathies kritisiert diese BegrΓΌndung. "Die, die lΓ€nger leben, haben ja auch mit den steigenden Kosten durch die Inflation zu tun." Es sei also nur logisch, dass sie profitieren mΓΌssten. Meist seien das aufgrund ihrer hΓΆheren Lebenserwartung Frauen, die hΓ€ufig auch im Berufsleben schon weniger verdient hΓ€tten.
Ver.di reagiert nicht auf VorwΓΌrfe
Ver.di selbst hat auf Anfrage von t-online bislang nicht auf diesen Vorwurf reagiert. Auch nicht auf die Frage, welche Rolle die ungerechte Behandlung der Betriebsrentner in den aktuellen Tarifverhandlungen des Γffentlichen Dienstes spielt. Es gibt derzeit auch keine Hinweise darauf, dass das Gesetz geΓ€ndert und die Betriebsrentner PensionΓ€ren gleichgestellt werden sollen.
VdK: "Es braucht eine gesetzliche Vorgabe"
Der Sozialverband VdK in Deutschland kritisiert das scharf. Die PrΓ€sidentin Verena Bentele fordert, "dass sich die Rentenanpassungen bei der betrieblichen Altersvorsorge an den LΓΆhnen orientieren. Rentenanpassungen von nur einem Prozent sind derzeit gesetzlich mΓΆglich, aber vor dem Hintergrund der aktuell galoppierenden Inflation aus unserer Sicht zu niedrig." Und sie geht noch weiter. Denn auch wenn die Gewerkschaft in der Pflicht ist, in Verhandlungen auch im Sinne der Betriebsrentner zu denken, will sie eine GesetzesΓ€nderung. "Es braucht eine gesetzliche Vorgabe, die dafΓΌr sorgt, dass die Rentenanpassungen bei der betrieblichen Rente hΓΆher ausfallen."
Rentnerin Kathrin BΓ€r hat sich entschieden, nicht darauf zu warten. Sie wird gegen die Diskriminierung klagen. Im Zweifel durch alle Instanzen, bis es vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Das ist ein langer Weg. Und auch, wenn es fΓΌr sie dann nichts mehr bringen sollte: Sie mΓΆchte, dass diese Ungerechtigkeit beseitigt wird.
- Eigene Recherche
- Betriebsrentengesetz, Β§16
- Anfrage an Verdi
- Telefonate mit Bundestagsabgeordneten
- Tarifvertrag Altersversorgung vom 08. Juni 2017
Kathrin BΓ€r heiΓt eigentlich anders. Sie bat t-online ihren Namen zu Γ€ndern. Diesem Wunsch haben wir entsprochen.
Antwort der GEW steht noch aus.
Kathrin BΓ€r heiΓt eigentlich anders. Sie bat t-online ihren Namen zu Γ€ndern. Diesem Wunsch haben wir entsprochen.
Antwort der GEW steht noch aus.