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Türkei | Eskalation vor Wahljahr: Erdoğan ist eine tickende Zeitbombe


Eskalation vor Türkei-Wahl
Erdoğan ist eine tickende Zeitbombe


Aktualisiert am 30.10.2022Lesedauer: 7 Min.
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Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident fürchtet um seine Wiederwahl. (Quelle: IMAGO/Stringer)

Bei der Türkei-Wahl 2023 wird es eng für Erdoğan. Im Krisenwahlkampf droht er mit Krieg und bringt einen Konflikt an den Rand der Eskalation. Der Westen straft ihn mit Ignoranz.

Er zieht langsam an seiner Zigarette, bläst den Rauch anschließend sorgsam aus dem Fensterschlitz seines Mercedes. Malik* gibt Gas. Es ist schon kurz vor Mitternacht in Istanbul, die dreispurige Autobahn ist in orangenes Licht getaucht und nur wenige Autos sind um diese Uhrzeit auf den Straßen um die türkische Millionenmetropole unterwegs. Trotzdem sind die Wege weit, besonders wenn man wie der 45-Jährige zu einem der Istanbuler Flughäfen fahren will.

Malik hat über 20 Jahre im Westen von Deutschland gelebt, ist dann mit seiner Familie wieder in die Türkei gezogen und arbeitet nun als Dolmetscher in Istanbul. "Ich habe meinem Vater immer gesagt, dass ich zurückkomme", erzählt er. In der Bundesrepublik hat er Geld verdient, genug Geld, um sich in der Türkei Immobilien leisten zu können. Seine Kinder haben die Schule abgeschlossen, seine Tochter studiert sogar. Wem Malik seinen sozialen Aufstieg verdankt, ist für ihn klar: Er ist ein Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Erdoğan hat in der Türkei noch immer großen Rückhalt. Das ist durchaus bemerkenswert, immerhin hat auch seine Politik die katastrophale Wirtschafts- und Währungskrise ausgelöst, unter der die türkische Gesellschaft massiv leidet. Im Juni 2023 findet die nächste türkische Präsidentschaftswahl statt. Für Erdoğan wird es eng, aber er ist noch im Rennen. Um die innenpolitischen Probleme zu kaschieren, könnte der türkische Präsident erneut internationale Konflikte eskalieren lassen.

Im Angesicht seines möglichen Machtverlusts ist der türkische Staatschef eine tickende Zeitbombe. Aber der Westen kann sich in der geopolitischen Lage Konflikte mit Erdoğan eigentlich nicht leisten.

Lira-Krise ist Erdoğans Endgegner

Für seine Anhänger ist ein Machtwechsel in der Türkei ein Albtraumszenario. "Erdoğan ist nur ein Mensch und Menschen machen Fehler. Manchmal will er vielleicht zu viel und ist etwas forsch", beschwichtigt Malik. "Aber ganz ehrlich: Unter Erdoğan ist die Türkei größer geworden. Die CHP regiert in Istanbul und Ankara. Dort herrschen Chaos und Korruption."

Maliks Meinung ist keine Einzelmeinung in der Türkei. Besonders ältere Menschen erinnern sich an ein ärmeres und chaotisches Land, indem regelmäßig das Militär geputscht hat. Gläubige Muslime hatten vor Erdoğans AKP keine politische Stimme, sie wurden in der streng-laizistischen Türkei an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Der AKP-Chef hat das geändert, er hat sein Land autoritärer gemacht, hat die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt. Trotzdem konnten sich viele Türkinnen und Türken in den vergangenen 20 Jahren Wohlstand aufbauen. Ein Wohlstand, der nun in Gefahr ist.

Denn die Zinspolitik der türkischen Regierung hat zu einer massiven Inflation geführt. Diese lag im September bei 83 Prozent und trotzdem senkte die Notenbank erneut den Leitzins, auf Druck Erdoğans. Die Regierung verschärft damit die Wirtschaftskrise weiter, kritisieren Experten. Und in der Tat: Die Verteuerungen und der Absturz der Lira führen dazu, dass viele importierte Güter für die türkische Bevölkerung unbezahlbar wurden. Für das Importland Türkei ist das eine Katastrophe.

"Ich kenne niemanden, der zu wenig Geld zum Leben hat. Nur einige Menschen möchten nicht arbeiten", sagt Malik. Das stimmt allerdings nicht. In Großstädten werden Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt, und besonders der Teil der Bevölkerung, der Kredite in Fremdwährungen wie dem Dollar genommen hat, kann diese nur noch schwer bedienen. Immerhin verliert die Lira im Währungsvergleich immer mehr an Wert.

Gespaltene türkische Gesellschaft

Die Wirtschaftskrise in der Türkei hat dazu geführt, dass der türkische Staatschef angezählt ist. Er könnte tatsächlich die Wahl verlieren. Seine AKP ist zwar immer noch die stärkste Kraft im Land, aber die Opposition hat ein Bündnis geschlossen, das ein gemeinsames Ziel verfolgt: die Ablösung Erdoğans. Mehr zu den aktuellen Umfragewerten im türkischen Wahlkampf lesen Sie hier.

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Erdoğan ist im kommenden Juni 20 Jahre an der Macht. In diesem Wahlkampf spricht eigentlich nichts für ihn, aber er profitiert von einem System, das er selbst über viele Jahre konstruiert hat. Der türkische Machthaber hat kritische Journalisten zu Terroristen erklären lassen, Oppositionelle zu Staatsfeinden. Durch die Kontrolle über die Medien, durch Zensur und durch verschärfte Antiterrorgesetze kann die türkische Regierung bestimmen, welche politischen Realitäten im Land vermittelt werden. Und nicht zuletzt hat der AKP-Chef die Gräben in der türkischen Gesellschaft so vertieft, dass das Land tief gespalten ist. Mit drastischen Folgen: Viele Menschen haben in ihrem sozialen Umfeld oft nur Anhänger ihres eigenen politischen Lagers.

Aber reicht das für Erdoğan aus, um sich an der Macht halten zu können? Er könnte sich erneut außenpolitische Konflikte suchen, um von der innenpolitischen Misere abzulenken. Denn es ist unwahrscheinlich, dass er die wirtschaftlichen Probleme seines Landes in den acht Monaten bis zur Wahl lösen kann.

Deswegen zeichnen sich schon jetzt drei Krisen ab, die es in den kommenden Monaten mit dem Westen geben könnte:

1. Konflikt mit Griechenland

Die Spannungen zwischen Athen und Ankara stiegen zuletzt massiv. Dabei geht es vor allem um griechische Inseln in der Ägäis, die die türkische Führung für sich beanspruchen möchte. Schließlich soll es in der Konfliktregion große Gasvorkommen geben, was den Streit noch zusätzlich verschärft.

Das Säbelrasseln zwischen den Nato-Partnern ist mittlerweile an einem gefährlichen Punkt, an dem ein Missgeschick im schlimmsten Fall zu einem Krieg führen könnte. Die Türkei provoziert Griechenland mit Raketentests und türkische Kampfjets fliegen in griechischen Luftraum und werden von der Luftverteidigung ins Visier genommen. Athen stationierte dagegen Panzer an der türkischen Grenze. "Wir können eines Nachts plötzlich kommen", drohte Erdoğan. "Hey, Grieche! Schau dir mal die Geschichte an. Wenn du so weitermachst, wird der Preis für dich sehr hoch sein."

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Trotzdem sind diese Eskalationen durch die Türkei immer vor dem Hintergrund der Türkei-Wahl zu sehen. Erdoğan kann sich gleichzeitig als politischer und religiöser Führer gegenüber dem christlichen Westen präsentieren. Damit will er bei den türkischen Nationalisten und bei den islamischen Gläubigen punkten – seiner Stammwählerschaft.

Aber ausgerechnet der russische Präsident Wladimir Putin macht ihm dabei einen Strich durch die Rechnung. Der russische Angriffskrieg führt dazu, dass sich die Europäische Union keinen Konflikt mit der Türkei leisten möchte. Deshalb reagieren westliche Regierungen besonnen auf die türkischen Provokationen und es gibt keine hitzigen Wortgefechte zwischen dem türkischen Präsidenten und westlichen Regierungschefs. Der Westen hat somit aus der Vergangenheit gelernt.

2. Neuer Streit in der Nato

Aber noch hat der türkische Präsident sein komplettes Eskalationspotenzial nicht ausgespielt. Die Nato-Partner lassen der Türkei derzeit viel durchgehen: Provokationen gegen Griechenland, Angriffe auf kurdische Milizen in Syrien, die Unterstützung von Aserbaidschan beim Angriff auf Armenien und die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland. Vieles, was Erdoğan tut, bleibt unkommentiert.

Der Westen braucht die Türkei strategisch im geopolitischen Kampf mit Russland und China. Er braucht Erdoğan als Vermittler in möglichen Verhandlungen mit Putin. Das bringt die türkische Führung in eine privilegierte Position, die Ankara ausnutzt, aber innenpolitisch zahlte das in der Türkei bislang nicht für die Regierung ein.

Einen Hebel hat der türkische Staatschef allerdings noch in der Hinterhand: den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland. Erdoğan kann die geplante Erweiterung blockieren. Zwar gab es beim Nato-Gipfel in Madrid im Juni einen Kompromiss, aber dieser ist schwammig gehalten. So könnte Ankara auf die Auslieferung von Menschen aus Finnland und Schweden bestehen, die die türkische Führung für Unterstützer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Die Türkei und die EU haben dabei unterschiedliche Rechtsauffassungen darüber, was gültige Beweise sind. Neuer Streit liegt in der Luft.

3. Angriffe auf die Demokratie

Eine weitere entscheidende Frage ist, ob Erdoğan eine drohende Niederlage akzeptieren würde. Nach dem Putschversuch 2016 hat die Regierung über 100.000 Staatsbedienstete entlassen, allein Ende Juli 2022 waren es noch mal Tausende Polizisten. Viele Menschen saßen lange Zeit in Untersuchungshaft, obwohl sie teilweise schon vor der Entlassung gerichtlich entlastet worden waren. Auch deutsche Staatsbürger sitzen in türkischen Gefängnissen oder werden mit Ausreiseverboten belegt – die Motive dabei sind offenbar auch politisch. Mehr dazu lesen Sie hier.

Erdoğan hat in fast 20 Jahren an der Macht die Gewaltenteilung zertrümmert, Justiz und Medien unter seine Kontrolle gebracht. Faire Wahlen sind kaum mehr möglich, weil die AKP meistens mehr Medienpräsenz besitzt als alle anderen Parteien zusammen. Viele Medien in der Türkei sind mittlerweile nur noch das Propaganda-Sprachrohr der Regierung.

Da Polizei, Justiz und Armee mit Getreuen von Erdoğan besetzt sind und Informationsfreiheit nicht existiert, bietet das dem Präsidenten bei einer drohenden Niederlage alle repressiven Möglichkeiten eines Autokraten. Er hat außerdem noch ausreichend Unterstützer, die er mobilisieren könnte. Ein eventueller friedlicher Machtwechsel wäre also auch vom Eingeständnis Erdoğans abhängig.

Wie lange können wir Erdoğan noch ignorieren?

Letztlich könnte der türkische Präsident bis zur Wahl seinen Krieg in Nordsyrien gegen die Kurden verschärfen oder erneut die Grenzen für Flüchtlinge nach Europa öffnen. Eines dabei ist klar: Je wahrscheinlicher eine Wahlniederlage für Erdoğan ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit von Eskalationen, die auch Deutschland und Europa betreffen.

Schon jetzt befinden sich die Türkei und die europäischen EU-Partner in einem Ringen, indem es um Durchhaltevermögen geht. Erdoğan sucht Konflikte und die Nato versucht das zu ignorieren, schiebt Gespräche mit der Türkei auf und hofft wahrscheinlich auf eine Deeskalation nach der Wahl. Aber wie lange können die restlichen Nato-Partner ignorieren, dass der türkische Präsident lediglich im nationalen Interesse und ohne Rücksicht auf das Bündnis handelt?

Bislang gibt es kaum lauten Streit, Erdoğans Kalkül geht aktuell noch nicht auf. Stand heute zeichnet sich bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei eine Abstimmung der türkischen Bevölkerung über innenpolitische Themen ab. Unklar ist allerdings, ob eine Mehrheit bei der Wahl den Mut aufbringt, eine türkische Zeitenwende in dieser Krisenzeit einzuläuten. Eine Zukunft ohne Erdoğan können sich viele Menschen in dem Land nicht vorstellen – auch seine Gegner nicht. Seine Unterstützer betonen jedenfalls, was Erdoğan seinem Land gebracht hat.

"Schauen Sie doch mal: Wir haben in Istanbul jetzt drei Brücken über den Bosporus. Erdoğan hat viel gebaut", meint Malik und zeigt mit dem Finger auf eine der leuchtenden Brücken in der Ferne, die Europa mit Asien verbindet. Doch Brücken und Moscheen zahlen keine Rechnungen und das könnte am Ende den Präsidenten zum Auszug aus seinem Palast zwingen.

*Den Namen und das Alter von Malik hat die Redaktion auf Wunsch anonymisiert.

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