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Krisen in der Türkei: Erdogan verliert die Kontrolle


Krisen in der Türkei
Erdoğan verliert die Kontrolle

Von Patrick Diekmann

21.04.2021Lesedauer: 7 Min.
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Recep Tayyip Erdoğan spricht bei einer Konferenz: Der türkische Präsident ringt mit der Wirtschafts- und Corona-Krise in der Türkei.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan spricht bei einer Konferenz: Der türkische Präsident ringt mit der Wirtschafts- und Corona-Krise in der Türkei. (Quelle: imago-images-bilder)

Die Corona-Neuinfektionen in der Türkei explodieren und die Wirtschaftskrise führt zu immer mehr Armut in der Bevölkerung. Präsident Erdoğan macht Fehler, seine Beliebtheit sinkt.

In Istanbul bilden sich an den Wochentagen lange Schlangen vor den Bäckereien. Dort verteilt die Stadt Brot für die Hälfte des Supermarktpreises. Immer mehr Menschen sind auf diese Hilfe angewiesen, weil sie es sich sonst nicht mehr leisten können.

Schuld sind zwei fundamentale Krisen, die die Türkei fest im Griff halten. Der Lira-Zerfall setzt sich fort, die Inflation lag im März bei über 16 Prozent. Zusammen mit der Corona-Pandemie führt das zu immer mehr Arbeitslosigkeit und Armut im Land. Auch die Corona-Situation spitzt sich dramatisch zu: die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei über 500 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner.

Recep Tayyip Erdoğan hat durch eigene Fehler beide Krisen in den letzten Monaten verschärft. Der türkische Präsident versucht Kontrolle über die Pandemie zurückzugewinnen, doch fest steht: Momentan hat er sie verloren.

Infektionszahlen steigen explosionsartig

Aktuell erlebt die türkische Bevölkerung den zweiten Fastenmonat Ramadan im Lockdown. Die aktuelle Katastrophe begann Anfang März: Damals lockerte die Regierung die Maßnahmen, Geschäfte und Restaurants durften öffnen. Doch das war im Zuge der Ausbreitung der Mutationen ein Fehler.

Besonders zeigen sich die Folgen in Großstädten wie Istanbul. Die Menschen drängen sich zwar mit Masken dicht auf den Straßen, aber Sicherheitsabstand ist kaum möglich. Die Folge: Allein in Istanbul liegt die Sieben-Tage-Inzidenz nun bei über 800, die Intensivstationen sind überfüllt.

Auch für das ganze Land musste die Regierung zuletzt immer neue Negativrekorde vermelden. Mitte der letzten Woche lag die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen bei mehr als 60.000 Fällen an einem Tag. Danach gab es täglich mehr als 55.000 neue Erkrankungen. Zudem wurden in dem Land mit rund 84 Millionen Einwohnern am Sonntag 318 Todesfälle an einem Tag im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet. Zum Vergleich: in Deutschland waren es 81.

"Sehe kein Licht am Ende des Tunnels"

Deshalb schlägt der Gesundheitssektor Alarm. In Istanbul und der Hauptstadt Ankara haben zum Beispiel Ärzte und andere Vertreter von Gesundheitsberufen gegen die Pandemiepolitik protestiert. Dabei kam es am Donnerstag im Istanbuler Stadtteil Fatih auch zu Gerangel mit der Polizei, wie auf Videoaufnahmen zu sehen war. Die Demonstranten hielten Transparente hoch mit der Aufschrift: "Stoppt die Tode". Sie fordern unter anderem einen harten Lockdown. Der Chef der Istanbuler Apothekerkammer, Zafer Cenap Sarıalioğlu, sagte, er sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Es stünden schwere Zeiten bevor.

Nach den Lockerungen im März hatte Erdoğan die Beschränkungen zuletzt wieder verschärft. So beginnt die abendliche Ausgangssperre zwei Stunden früher, also schon um 19 Uhr. Sie geht an Wochentagen bis 5 Uhr morgens. An Wochenenden galt schon zuvor eine Ausgangssperre. Restaurants und Cafés müssen mindestens bis zum Mai wieder schließen und dürfen nur Lieferservice anbieten. Abendgebete und Hochzeiten sind verboten, das Reisen in andere Städte ebenfalls.

Drastische Ausgangssperren, nur nicht für Touristen

Erdoğans vorschneller Lockerungskurs im März wird von Teilen der Wissenschaft scharf kritisiert. "Die Corona-Maßnahmen haben im November und Dezember gut funktioniert, doch die mutierten Viren haben die Karten neu gemischt", erklärte der Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten an der Universität Ankara, Ismail Balik, der "Deutschen Welle". Die Regierung wirke auf ihn aber nun sehr entschlossen. "Die Mutante macht es nötig, dass nicht nur Schließungen am Wochenende erfolgen, sondern (an Ramadan) alle Aktivitäten wie Nachbarschaftsbesuche und Massenversammlungen verhindert und streng kontrolliert werden."

In Istanbul setzen auf den Straßen zahlreiche Sicherheitskräfte die Ausgangssperren durch, bei Vergehen werden bis zu 500 Euro fällig. Sie kontrollieren auch Touristen, obwohl für sie die Maßnahme nicht gilt. Ausländer mit Aufenthaltstiteln haben hingegen noch härtere Strafen zu befürchten. Innenminister Süleyman Soylu kündigte an, dass sie ihre Aufenthaltserlaubnis verlieren könnten.

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Der Tourismus gehört zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen im Land, die Regierung möchte auch im Jahr 2021 möglichst viele Menschen in das Land locken. Aber vorerst gilt die Türkei international als Hochrisikogebiet. Die Regierung befürchtet allein wegen Reiseeinschränkungen in Russland das Fernbleiben von rund 500.000 Touristen, wie Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy dem Sender NTV sagte. Russland hat Flüge in die Türkei und von dort aus vom 15. April bis 1. Juni massiv eingeschränkt.

Die Türkei musste bereits 2020 ein Umsatzminus von rund zwei Dritteln im Tourismussektor wegstecken. Erdoğans Fehler, die Corona-Maßnahmen zu früh zu lockern, hat besonders schwere Folgen für diesen Wirtschaftszweig.

Lira im freien Fall

Die Pandemie verschärft demnach auch die Wirtschaftskrise im Land. Im Kampf gegen den Währungsverfall bleibt Erdoğan bei seiner Wirtschaftspolitik des radikalen Wachstums und übt Druck auf die Zentralbank aus. Ein Kurs, mit dem er die Wirtschaft seines Landes zunehmend vor die Wand fährt.

Die Probleme sind weiterhin ernst: Die Rate der Firmenpleiten stieg zuletzt um 43 Prozent an, offiziellen Angaben zufolge liegt die Arbeitslosenquote bei über 13 Prozent. Weitere Warnzeichen: Laut einer Umfrage der Gewerkschaft Disk sind sieben von zehn Menschen in der Türkei verschuldet, 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.

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Alkohol ist für viele Menschen unbezahlbar geworden, die Preise für Lebensmittel haben sich stark erhöht. "Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll", sagten Menschen in Istanbul der "Zeit". Und weiter: "Ich gebe 200 Lira im Supermarkt aus, aber die Tüten sind leer." Im Jahr 2013 waren 200 Lira noch 80 Euro wert, nun sind es nur noch knapp 20.

"So Gott will, werden wir den Zinssatz senken"

Die Finanzpolitik Erdoğans hat sein Land in diese Lage gebracht. Er forderte vehement eine Niedrigzinspolitik, dadurch stieg die Inflation. Den rasanten Aufschwung der Türkei finanzierte die Regierung in großen Teilen auf Pump, die teuren Kredite in Fremdwährungen rächen sich nun.

Aber der Präsident gibt sich uneinsichtig. "So Gott will, werden wir den Zinssatz auf einstellige Werte senken und diese Zahl dann weiter reduzieren. Wir sind entschlossen", sagte er in einer Rede vor Abgeordneten seiner regierenden AK-Partei. Die Devise: Wachstum um jeden Preis. Aber aufgrund der steigenden Inflation geht diese Politik an der Lebenswirklichkeit vieler Türkinnen und Türken vorbei.

Die Notenbank hat die Zinsen trotz hoher Inflation nicht verändert. Der Leitzins bleibe unverändert bei 19,0 Prozent, teilte die Notenbank am Donnerstag mit. Eigentlich war eine Zinssenkung erwartet worden, weil Erdoğan zuletzt für einen Wechsel an der Spitze der Notenbank gesorgt hatte – zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate. Der Vorgänger des derzeit amtierenden Notenbankchefs Şahap Kavcıoğlu hatte in den vergangenen Monaten mehrfach mit Zinserhöhungen versucht, den starken Preisanstieg in der Türkei in den Griff zu bekommen.


Eigentlich sollte die Zentralbank unabhängig sein, doch Erdoğan drängte in den vergangenen Monaten immer wieder auf niedrige Zinsen und bezeichnete den Leitzins als "Mutter allen Übels". Die Logik dahinter ist fraglich: Durch einen niedrigen Leitzins möchte die Regierung das Wachstum anheizen, indem er Kredite billiger macht. Die Türkei hat aber einen deutlichen Importüberschuss. Ausländische Produkte werden durch den Lira-Verfall immer teurer und mittlerweile fast unbezahlbar. Die Strategie der türkischen Regierung geht demnach nicht auf.

Erdoğans Beliebtheit sinkt

Das wird auch zum Problem für Erdoğan persönlich. Seine Macht und seine Beliebtheit in der Bevölkerung stehen auf zwei wichtigen Säulen: Religion und Wirtschaft. Diese Strategie ging lange Zeit auf, die türkische Wirtschaft wuchs im letzten Jahrzehnt massiv, das brachte den Menschen auch deutlich mehr Wohlstand – und Erdoğan Dankbarkeit.

Weil viele Türken ihre Wahlentscheidung vor allem von wirtschaftlichen Gründen abhängig machen, kehrt sich der Effekt nun um. Die steigende Armut im Land schadet auch der regierenden AKP. In der Türkei sind Meinungsumfragen zwar immer etwas verfärbt, da die Institute oft politischen Parteien nahestehen. Aber im Durchschnitt dieser liegt seine AKP nur noch bei knapp über 40 Prozent, die jetzige Regierung mit der rechtsextremen MHP hat momentan nur eine hauchdünne Mehrheit.

Auch die persönlichen Beliebtheitswerte des Präsidenten fallen im Vergleich zu Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu oder Ankaras Bürgermeister Mansur Yavaş (beide CHP). Die meisten Meinungsforschungsinstitute sehen die CHP-Bürgermeister im direkten Vergleich aktuell in Führung, lediglich zwei Institute sehen einen knappen Vorsprung Erdoğans.

Erdoğans Störfeuer helfen nicht

In der krisengebeutelten Türkei kämpft der Präsident nun also um seine Macht. Erdoğan schürt und benutzt dafür wieder einmal Konflikte, die von den innenpolitischen Problemen ablenken sollen. So gab es zuletzt das Drama um den Sofaplatz für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – das "Sofa-Gate" – oder das Wortgefecht zwischen dem griechischen und dem türkischen Außenminister vor den Augen der Öffentlichkeit.

Innenpolitisch hat der Präsident ein Verbotsverfahren der pro-kurdischen HDP in Gang gesetzt, es gibt in der Türkei momentan wieder zahlreiche Prozesse gegen ehemalige Gezi-Aktivisten oder gegen mutmaßliche Putschisten und Gülen-Anhänger. Das scheint momentan aber nicht zu reichen.

In der Türkei hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. Einerseits tritt die Opposition – besonders die kemalistische CHP – selbstbewusster auf. Sie legt öfters die Finger in die Wunden der AKP und greift Erdoğans Familie vermehrt mit dem Vorwurf der Korruption an. So wurden in Istanbul in der Nacht zum Mittwoch mehrere teilweise hausgroße Plakate mit der Aufschrift "Wo sind die 128 Milliarden?" abgehängt.

Hintergrund der Aktion ist eine Kampagne der kemalistischen CHP. Die größte Oppositionspartei wirft der Regierung vor, dass in der Amtszeit des damaligen Finanzministers Berat Albayrak 128 Milliarden Dollar Devisenreserven der Zentralbank verschwunden seien. Der Präsident hatte den Vorwurf zurückgewiesen. "Nichts ist verloren", sagte er im März und bezeichnete die Kampagne als einen Angriff auf seine Familie. Albayrak ist sein Schwiegersohn.

Der Grund für das Selbstbewusstsein der Opposition liegt in der aktuellen Schwäche Erdoğans. Nicht nur die Türkei ist in der Zange der Doppelkrise, sondern besonders die Regierung. Durch eigene Fehler hat sie dafür gesorgt, dass diese Krisen länger anhalten – und die Machtbasis des Präsidenten schwächen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Ablenkungsmanöver und die Konflikte mit dem Ausland nicht mehr so in der Bevölkerung verfangen wie einst. Dafür ist das Leid der Bevölkerung zu groß geworden.

Verwendete Quellen
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