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China und Russlands Ukraine-Krieg: "Denn Putin ist völlig unberechenbar"


Russlands Ukraine-Krieg
"Denn Putin ist völlig unberechenbar"

InterviewVon Patrick Diekmann und Marc von Lüpke

Aktualisiert am 08.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin und Xi Jinping: China heißt Russlands Angriff auf die Ukraine eigentlich nicht gut, so China-Experte Klaus Mühlhahn.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin und Xi Jinping: China heißt Russlands Angriff auf die Ukraine eigentlich nicht gut, so China-Experte Klaus Mühlhahn. (Quelle: Alexei Druzhinin/Russian Presidential Press and Information Office/TASS)

Russland ist international weitgehend geächtet. Doch China hält Wladimir Putin trotz des Ukraine-Kriegs weiter die Treue. Dafür zahlt das Land einen Preis, erklärt Experte Klaus Mühlhahn.

t-online: Professor Mühlhahn, kaum waren die Olympischen Spiele in China beendet, griff Russland die Ukraine an. Die "New York Times" meldete kürzlich, dass Peking Wladimir Putin nach westlichen Geheimdienstinformationen gebeten habe, die Attacke erst nach Ende der Spiele auszuführen. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Klaus Mühlhahn: Es ist absolut denkbar, dass China Wladimir Putin um Geduld bei seinen kriegerischen Absichten gegen die Ukraine gebeten hat. Die Olympischen Spiele in Peking mussten um nahezu jeden Preis ein Erfolg für den chinesischen Staatschef Xi Jinping werden. Ein Waffengang in Europa hätte das massiv gestört. Andererseits dürfte China auch jetzt nicht sehr glücklich über Putins Krieg sein.

Weil der Kriegsbeginn gegen die Ukraine und das Ende von Olympia immer noch sehr eng beieinander liegen?

Genau. Putin hat Xi Jinping ziemlich schlecht aussehen lassen – um es salopp auszudrücken. Sicherlich hätte man sich in Peking einen zeitlich größeren Abstand zu Olympia gewünscht. Wenn denn schon überhaupt Krieg geführt werden muss.

Nun sind Sicherheitsexperten durchaus besorgt, dass China die Situation ausnützen könnte, um auf der anderen Seite der Welt Taiwan zu attackieren.

China wird Taiwan zum jetzigen Zeitpunkt nicht angreifen. Aber sehr genau hinschauen, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt.

Weil der russische Krieg in der Ukraine und der Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan gewisse Parallelen aufweist?

Wladimir Putin spricht der Ukraine die Staatlichkeit ab, betrachtet sie in gewisser Weise als "verlorenes Territorium", dass Russland sich nun zurückholt. Die Volksrepublik China sieht Taiwan als "abtrünnige Provinz" an. Die Konfliktlinien ähneln sich. Deshalb ist Chinas Aufmerksamkeit gen Ukraine und Russland gerichtet.

Klaus Mühlhahn, Jahrgang 1963, ist Professor für Sinologie und zugleich Präsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Zuvor war er Vizepräsident der Freien Universität Berlin. Mühlhahn gilt als führender China-Experte, 2009 wurde der Forscher mit dem John-King-Fairbank-Preis der American Historical Association ausgezeichnet. Im vergangenen Jahr erschien Mühlhahns neuestes Buch "Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart" in der "Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung". Einmal im Monat ist Klaus Mühlhahn in seinem kostenfreien Podcast "China ungeschminkt" (mit Anja Blanke und Julia Haes) zu hören.

Der von Putin geplante schnelle "Enthauptungsschlag" ist allerdings gescheitert.

Der Widerstand der Ukrainer ist bemerkenswert: Russland hat mehr Soldaten, mehr Waffen und eine längere Vorbereitungszeit, trotzdem sind die russischen Truppen weit von einem Sieg entfernt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das chinesische Militär diese Beobachtungen auch in der Strategie gegen Taiwan berücksichtigen wird.

Wäre bei einem Angriff Chinas auf Taiwan ein ähnliches Szenario wie in der Ukraine denkbar?

Bei einem möglichen chinesischen Angriff auf Taiwan gehe ich von einem erbitterten Widerstand seitens des taiwanesischen Militärs aus, hinter das sich die Bevölkerung geschlossen stellen würde. Aber die Konsequenzen für Russland sind in mehrerlei Hinsichten immens: Je mehr Blut russische Truppen vergießen, desto schwieriger wird es für den Kreml. Irgendwann gibt es für Wladimir Putin kein Zurück mehr, international ist er bereits nicht mehr salonfähig. China, das ohnehin auf der Welt recht einsam dasteht, wird kein ähnliches Schicksal erleiden wollen.

Im Falle Putins haben Experten fälschlicherweise gedacht, dass die enormen wirtschaftlichen Kosten ihn von einem Angriff abhalten würden. Irren wir uns möglicherweise auch bei China und Taiwan?

Die Chinesen handeln in der Regel pragmatisch – und die gewaltigen Kosten aller Art im Falle einer möglichen Invasion spielen mit Sicherheit eine Rolle.

Die ersten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine nach Kriegsausbruch wurden angekündigt, nachdem Putin mit Xi Jinping telefoniert hatte. Übte China Druck aus?

Xi Jinping hat Putin sicher dazu gedrängt, die Kampfhandlungen einzustellen. Allerdings ohne Erfolg, wie sich zeigte. Warum aber ist es wahrscheinlich, dass Xi intervenierte? In China ist man der festen Überzeugung, dass jede Krise auch langfristige Chancen bietet. Aber kurzfristig eröffnen sich für Peking eben auch zahlreiche Risiken durch Putins Krieg. Was wäre, wenn die Nato nun zahlreiche neue Staaten aufnimmt, die Schutz suchen? Eventuell auch über die Grenzen Europas hinaus? Das ist ganz sicher nicht in Chinas Sinne.

Ein zu starkes Russland aber auch nicht. An welchem Punkt würde Wladimir Putin auch bei China rote Linien überqueren?

Wenn Putin in Zentralasien Gebietsansprüche durchsetzen will, wird es für China kritisch. Vielleicht hat Putin Peking auch im Vorfeld versichert, dass er das nicht zu tun gedenkt.

Nach den westlichen Sanktionen gegen Russland ist der Kreml allerdings stärker denn je auf China angewiesen. Immerhin lagern dort beträchtliche Teile der russischen Devisen.

Das ist sicher richtig. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich halte die Sanktionen gegen Russland für absolut gerechtfertigt. Auf der anderen Seite muss sich jeder bewusst sein, was diese in Form und Umfang beispiellosen Sanktionen bewirken: Sie treffen ja nicht nur die Schuldigen in Regierung und Militär, sondern vor allem auch ganz normale Bürger. Anschließend sind kaum noch Beziehungen zwischen den Lagern vorhanden. Das haben wir zum Beispiel auch im Falle des Iran gesehen. Eine spätere Annäherung wird ausgesprochen schwer.

China musste allerdings auch einen gewissen ideologischen Spagat unternehmen, um die Unterstützung Putins zu begründen. Einerseits ist die Regierung in Peking vehemente Verfechterin des Prinzips, dass sich ein Staat nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen dürfe. Nun stützt Peking mit Russland aber einen Staat, der dies im Falle der Ukraine mit einem Angriffskrieg tut.

Sagen wir es so: Putins Angriff hat China in die Zwickmühle gebracht. Peking ist für Russland tatsächlich von der traditionellen Linie abgerückt. Und hat damit seine ohnehin geringe Vertrauenswürdigkeit erschüttert.

Weil China Russland als Gegenwicht gegen die USA braucht?

Auch aus diesem Grund. Wobei das ein gefährliches Spiel ist, denn Putin ist völlig unberechenbar. Ich persönlich gehe davon aus, dass Xi Jinping Russlands Präsidenten in Sachen Ukraine immer wieder zur Mäßigung aufgerufen hat. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Entweder hat Putin Chinas Ratschlag, die Ukrainer nicht anzugreifen, ignoriert. Oder, und das ist noch viel bedenklicher, Putin hat China nicht einmal über seinen Entschluss zum Angriff informiert. Alle diese Faktoren werden Xi Jinping zu denken geben. So oder so: China hat alles in allem einen sehr begrenzten Einfluss auf Russland.

Blicken wir einmal zur anderen Seite des Pazifiks: Wird sich denn das amerikanische Interesse nun auch wieder verstärkt Russland zuwenden? Bislang war China als der neue Gegner der USA betrachtet worden.

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Diese Frage wird derzeit in China reichlich diskutiert. Und bei den dortigen Politologen herrscht die Überzeugung vor, dass die USA weiterhin China als größte Bedrohung einstufen werden.

Dagegen unterhält China ein Netz an Verbindungen zu Staaten, die nicht in jedem Fall ideologisch zu Peking passen. Wie Iran etwa.

In gewisser Hinsicht ist die chinesische Außenpolitik komplett unethisch. Nach dem Fiasko des Atomabkommens mit Iran, das Donald Trump als US-Präsident verursacht hatte, suchten die Mullahs nach neuen Kooperationen, Peking stand dafür bereit. Auch wenn zwischen den, zumindest dem Namen nach, chinesischen Kommunisten und den islamischen Hardlinern in Teheran eigentlich wenig sonstige Übereinstimmung herrscht.

All diese Staaten eint aber die Überzeugung, dass der Westen sie "kleinhalten" wolle.

Darin besteht die Gefahr. Und es liegt am Westen, diese Länder wieder von der Konfrontation zur Kooperation zu bewegen.

Wir erleben hingegen im Augenblick in Echtzeit, wie lange geglaubte Gewissheiten zerplatzen und die Sicherheitsarchitektur der Welt erodiert. Wofür sollte sich der Westen wappnen?

Die westliche Welt darf sich keinen Illusionen mehr hingeben – das ist sehr wichtig. Russland und China, Indien und Iran, wir erleben gerade die Entstehung neuer Machtblöcke und sind als Westen nicht darauf vorbereitet. Dabei umfassen allein China und Indien einen gewaltigen Teil der Menschheit. Wir könnten also noch unser blaues Wunder erleben. Auch wenn es um die Bekämpfung der Klimakrise geht. Ohne China und Indien wird das sehr schwierig werden.

Nach der Eskalation in der Ukraine rüsten viele Länder wieder auf. Welchen Einfluss hat das auf die globale Sicherheitsarchitektur?

In Asien gab es ja schon vor der Ukraine ein Wettrüsten – angetrieben durch den Aufstieg Chinas. An dieser Stelle muss ich aber einmal betonen: Im chinesischen Internet sind in den vergangenen Tagen sehr viele Beiträge erschienen, die vor Krieg warnen. Selbstverständlich gibt es auch in der chinesischen Gesellschaft viele sogenannte Falken, aber eben auch Stimmen, die für den Frieden eintreten. Immerhin hat China in der Vergangenheit sehr unter Gewalt und Kriegen gelitten.

Aber die Linie der Regierung bleibt ziemlich militaristisch.

Richtig. Das Staatsfernsehen ist voller Militärfilme, und wie die Regierung Russland stützt in Sachen Ukraine ist ebenso eindeutig. Und trotzdem gibt es in China einen öffentlichen Diskurs seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges. Es ist ein Zeichen dafür, dass mit dem Thema Krieg und Frieden gesellschaftlich gerungen wird.

Der Westen raffte sich schließlich zu scharfen Sanktionen gegen Russland auf. Wie bewertet China diese Geschlossenheit in der Auseinandersetzung mit Putin?

China nimmt den Kampf des Westens für freiheitliche Werte nicht ernst – und überlegt eher, wie man selbst politisch profitieren kann. Wir im Westen haben den Chinesen auch nicht viel Anlass gegeben, uns zu respektieren: In Irak oder Afghanistan hat der Westen unheimlich viel Glaubwürdigkeit verloren.

Deutschland ging dabei auch selten mit gutem Beispiel voran.

Auf keinen Fall. Ich kritisiere an China immer wieder die einseitige Fokussierung auf wirtschaftliche Interessen im Bereich der Außenpolitik – aber eigentlich hat Deutschland das genauso praktiziert. Profit war oft wichtiger als Moral.

Wie ließe sich dies schnell ändern?

Wir brauchen neue Denkweisen. Eine Welt, in der alle Länder ihre eigenen Interessen voranstellen, führt unvermeidbar zu Konflikten. Und diese können wir uns angesichts der Klimakrise und anderer globaler Herausforderungen sicher nicht leisten.

Professor Mühlhahn, wir danken für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Klaus Mühlhahn via Videokonferenz
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