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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Anerkennung eines palästinensischen Staates Experte: "Bundesregierung spaltet Europa"

Die humanitäre Lage im Gazastreifen bleibt angespannt. Netanjahu schafft weitere Fakten. Frankreich und andere EU-Mitglieder wollen einen palästinensischen Staat anerkennen. Völkerrechtler Wolfang Kaleck empfiehlt der Bundesregierung, diesem Schritt zu folgen.
Auch nach ersten Hilfsflügen der Bundesluftwaffe ist die humanitäre Lage im Gaza-Streifen prekär. US-Bemühungen um eine Waffenruhe scheiterten zuletzt. Um die israelischen Geiseln zu befreien, erwägt Israels Regierung nun auch Gaza-Stadt einzunehmen. Länder wie Frankreich preschen nun vor, sie wollen einen palästinensischen Staat anerkennen, um einen möglichen Friedensprozess voranzubringen.
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Die Bundesregierung zögert mit diesem Schritt. Doch gibt es innerhalb der SPD Stimmen, dem französischen Beispiel zu folgen. Auch Völkerrechtsexperte Wolfgang Kaleck vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin unterstützt diesen Schritt. Ein Interview über völkerrechtliche Voraussetzungen für die Anerkennung eines Staates, politische Opportunitäten für einen solchen Beschluss und mögliche Auswirkungen auf den Friedensprozess zwischen Israel und Palästinensern.
t-online: Herr Kaleck, die klassische Rechtslehre definiert drei Voraussetzungen für einen Staat: Volk, Territorium und Durchsetzung der Staatsgewalt. Was braucht es eigentlich, um die Anerkennung eines Staats völkerrechtlich zu vollziehen?
Wolfgang Kaleck: Inzwischen haben 148 der UN-Mitgliedsländer einen palästinensischen Staat anerkannt – darunter viele EU-Mitglieder wie Frankreich, Irland, Spanien, Slowenien und Schweden. Selbst G7-Länder wie Kanada haben diesen Schritt vollzogen, andere wie das Vereinigte Königreich erwägen ihn.
Was folgt daraus?
Das zeigt: Die meisten Länder der Welt sehen diese drei Grundelemente eines Staates – Volk, Territorium und Staatsgewalt – also hier als erfüllt an. Klar, bei der effektiven Staatsgewalt gibt es momentan noch Probleme. Aber letztlich ist die Anerkennung eine politische Frage. Und genau darüber sprechen wir hier.

Zur Person
Der Jurist Wolfgang Kaleck, 64, gründete 2007 die Berliner Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Das Ziel: Auf Menschenrechtsverletzungen weltweit aufmerksam zu machen. So verklagte der Anwalt 2006 unter anderen den früheren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen Menschenrechtsverstößen im Gefangenencamp Guantanamo. Edward Snowden, der 2013 Abhöraktionen der US-Regierung öffentlich machte, hat er als Anwalt vertreten.
Bleiben wir bei der Frage der politischen Opportunität. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will den palästinensischen Staat im September anerkennen. Das Land fühlt sich als ehemalige Kolonialmacht in der Region den Palästinensern eng verbunden. Erkannte früh die PLO an, im Libanon-Krieg 1982 brachten französische Soldaten PLO-Chef Yasser Arafat aus Beirut. Was ist das Motiv für die Ankündigung der Anerkennung?
Die westeuropäischen Staaten hinken der weltweiten Entwicklung hinterher. Ich gehe davon aus, dass Frankreich vor seiner Entscheidung Deutschland konsultiert hat. Umso unverständlicher bleibt in meinen Augen die Zurückhaltung der Bundesregierung. Das schwächt die EU, das schwächt die G7 und vor allem: Es ändert nichts an der humanitären Krise für die Bevölkerung im Gazastreifen.
Der britische Premier Keir Starmer wählt daher einen anderen Weg. Er knüpft die mögliche Anerkennung eines palästinensischen Staates an ein Ultimatum – nämlich die Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Taktisch ein klügeres Vorgehen?
Die Anerkennung eines palästinensischen Staates ist natürlich eine politische Entscheidung. Daher kann ich diesen politischen Entschluss von unterschiedlichen Kriterien abhängig machen. Im Falle Großbritanniens scheint die humanitäre Lage im Gazastreifen zu zählen. Umso mehr frage ich mit Blick auf die Bundesregierung: Wie lange kann sie sich einer globalen Entwicklung entziehen, ohne außenpolitischen Schaden zu erleiden?
Offiziell ist die Zwei-Staaten-Lösung das Ziel der EU und auch Deutschlands. Was würde sich durch die Anerkennung eines palästinensischen Staates für die Lösung des Konflikts konkret ändern?
Die Auswirkungen auf den aktuellen Konflikt lassen sich nur schwer abschätzen. Aber die Anerkennung eines palästinensischen Staates verschafft ein anderes Potenzial gegenüber der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu. Es geht um die Aufwertung der palästinensischen Vertreter als Verhandlungsmacht – etwa in UN-Gremien, aber auch gegenüber Israel. Wir sprechen von einem anderen diplomatischen Status und einem anderen Auftreten auf internationaler Ebene.
Fakt bleibt: Am Ausgang der jüngsten Eskalation stand der Terrorüberfall der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Ist die staatliche Anerkennung eines palästinensischen Staates nicht ein verspätetes Zugeständnis an Terror und Gewalt?
Ich gehe nicht davon aus, dass die Hamas einen palästinensischen Staat auf internationaler Ebene vertreten wird. Wir sprechen von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), auch wenn diese Behörde derzeit über zu wenig Autorität verfügt. Insofern lässt sich das auch anders sehen.
Inwiefern?
Die Hamas verliert in der Folge des 7. Oktober ihren unangefochtenen Einfluss über den Gazastreifen – militärisch, politisch und gesellschaftlich. Die Anerkennung eines palästinensischen Staates würde also gerade die PA stärken. Es geht im Übrigen nicht um die Hamas, ich halte das für eine Ausflucht. Es geht vielmehr um Hilfe und die längst überfällige Anerkennung der Rechte der Millionen Menschen, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben – beides unzweifelhaft palästinensisches Territorium.
Auch um die Geiseln zu befreien, hat Netanjahus Kabinett nun beschlossen, Gaza-Stadt einzunehmen. Was würde das für den Anerkennungsprozess bedeuten? Stichwort Territorium und Durchsetzung einer palästinensischen Staatsgewalt.
Das Kriterium der effektiven Kontrolle war vorher schon problematisch und wird noch problematischer, sollte Netanjahu den Schritt der vollständigen Besatzung tatsächlich vollziehen. Aber es geht nicht allein um einen Anerkennungsprozess: Die schwerwiegenden und dramatischen Folgen einer erneuten Besetzung hätte die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu tragen. Wo sollen diese Menschen hin? Wie sollen sie sich versorgen? Wo sollen sie wohnen, wenn Israel den Gazastreifen komplett einnehmen will?
Zurück zur rechtlichen Frage der Anerkennung: Spanien erkennt einen palästinensischen Staat an, nicht aber das Kosovo. Es geht also um politische Opportunitäten. Warum plädieren Sie dafür, dass gerade Deutschland mit seiner besonderen Verantwortung für Israel die Ankerkennung eines palästinensischen Staats unterstützen sollte?
Es geht in dieser Frage natürlich nicht allein um eine Frage der Masse – sprich: Anzahl der Staaten, die einen solchen Schritt vollziehen –, sondern auch um Qualität. Gerade deshalb wäre eine Anerkennung durch die Bundesregierung so wichtig.
Warum?
Deutschlands Zurückhaltung schafft Friktionen innerhalb der G7, innerhalb der EU und gegenüber Frankreich. Gerade in einer Zeit, in der es um die effektive Durchsetzung des Völkerrechts geht. Übrigens auch gegenüber der US-Regierung von Donald Trump, der das Recht offen nach innen und – etwa mit seiner Zollpolitik – auch nach außen bricht. Eine konsistente, zukunftsgerichtete Außenpolitik ist nicht in erster Linie der Regierung Netanjahu verpflichtet, sondern der israelischen Gesamtgesellschaft. Wer soll denn das Völkerrecht durchsetzen, wenn nicht die EU, Deutschland und Frankreich?
Herr Kaleck, vielen Dank für das Gespräch!
- Interview mit ECCHR-Generalsekretär Wolfang Kaleck.