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Ukraine-Krieg: "Putin zeigt deutliche Anzeichen eines Kontrollverlusts"


"Putin zeigt Anzeichen eines Kontrollverlusts"

  • Marc von LΓΌpke-Schwarz
Von Marc von LΓΌpke und Florian Harms

Aktualisiert am 01.12.2022Lesedauer: 11 Min.
Interview
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Der GesprÀchspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Wladimir Putin: Russland muss diesen Krieg verlieren, sagt Historiker Timothy Snyder.
Wladimir Putin: Russland muss diesen Krieg verlieren, sagt Historiker Timothy Snyder. (Quelle: Mikhail Tereshchenko/TASS)
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Russlands Armee scheitert am Widerstand der Ukrainer. Wann wird Wladimir Putin den Krieg beenden? Dazu braucht es vor allem eins, erklΓ€rt der Historiker Timothy Snyder im Interview.

Westliche Politiker sehnen ein Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine herbei – und fΓΌrchten es zugleich. Denn das riesige Russland mit seinen Atomwaffen kΓΆnnte selbst im Chaos versinken, wenn Wladimir Putins Macht schwindet, so die BefΓΌrchtung. Der Historiker Timothy Snyder, einer der fΓΌhrenden Intellektuellen der USA, sieht das ganz anders: Russland muss diesen Krieg zu seinem eigenen Besten verlieren. Denn sonst kΓΆnnte sich das Land niemals von seinem imperialen Wahn verabschieden.

Warum der ausdauernde Widerstand der Ukraine die Welt sicherer macht, die westliche Furcht vor Putins Atomdrohungen an Peinlichkeit grenzt und auch der Kreml bei den Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten eine Niederlage erlitt, erklΓ€rt Snyder im t-online-GesprΓ€ch.

t-online: Professor Snyder, das Jahr neigt sich dem Ende zu, die russische Armee hat in der Ukraine ein Desaster erlebt. Welche Auswirkungen haben die FehlschlΓ€ge auf Putins Macht?

Timothy Snyder: Eine Tatsache wird umso deutlicher, je lΓ€nger der Krieg dauert: Putin beherrscht Russland keineswegs uneingeschrΓ€nkt. Es gibt andere mΓ€chtige Akteure, die ihre Interessen ebenfalls durchsetzen wollen.

Wen genau meinen Sie?

Zum Beispiel den Oligarchen Jewgeni Prigoschin, auch bekannt unter dem Spitznamen "Putins Koch": Er ist GrΓΌnder und Finanzier des angeblich privaten MilitΓ€runternehmens "Gruppe Wagner", das eigentlich eine SΓΆldnertruppe in Diensten des Kremls ist. Deshalb will Prigoschin, dass der Krieg weitergeht. FΓΌr ihn sind die KΓ€mpfe die beste Werbung, er nutzt den Krieg, um sich zu profilieren. In Moskau herrscht ein Konflikt um Macht und Einfluss.

Wer intrigiert gegen wen?

Unser Wissen ΓΌber das MachtgefΓΌge im Kreml ist leider beschrΓ€nkt. Aber Prigoschin und seine SΓΆldner konkurrieren mit den StreitkrΓ€ften.

Der Inlandsgeheimdienst FSB hat zu Beginn des Kriegs ein schlechtes Bild abgegeben: Seine Mitarbeiter sollen der KremlfΓΌhrung eine prorussische Einstellung in weiten Gebieten der Ukraine vorgeschwindelt haben – was sich dann als Illusion erwies.

Der FSB berichtete Putin das, was Putin hΓΆren wollte. So ist das in einer Diktatur, in der sich der starke Mann innerhalb einer Echokammer befindet. Die Informationen basierten offenkundig eher auf Ideologie als auf Fakten.

Wie lange wird der Krieg voraussichtlich noch dauern?

Wenn Putin seine Position im Kreml gefΓ€hrdet sieht – genau dann wird der Krieg enden. Falls Putin die Bedrohung rechtzeitig erkennt. Viel hΓ€ngt davon ab, ob er dazu noch das nΓΆtige Maß an politischer SensibilitΓ€t besitzt. Im Umkehrschluss tun die Ukrainer genau das Richtige, indem sie weiterkΓ€mpfen und Territorium fΓΌr Territorium zurΓΌckerobern. Denn das ist das Einzige, was Putin unter Druck setzt: dass die Niederlagen in der Ukraine ihm ein GefΓΌhl der GefΓ€hrdung seiner Machtposition in Russland vermitteln. FΓΌr ihn ist es schlimm, in der Ukraine zu verlieren. Aber es ist noch weit schlimmer, in Russland zu verlieren.

Timothy Snyder, geboren 1969, lehrt Geschichte an der Yale University im US-Bundesstaat Connecticut und ist Permanent Fellow am Institut fΓΌr die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Snyder ist einer der fΓΌhrenden Intellektuellen der USA, als Historiker hat er vor allem die Geschichte Osteuropas und des Holocaust erforscht. Sein Buch "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin 1933–1945" avancierte zum Bestseller, im Juli 2022 erschien es in einer erweiterten Neuauflage. Es ist eines von sechs BΓΌchern, in denen sich Snyder mit der Ukraine und ihrer Geschichte auseinandersetzt. Zurzeit hΓ€lt der Historiker eine offene Vorlesung zu diesem Thema, die erste Folge finden Sie hier.

Vor allem ultranationalistische Hardliner ΓΌben massiven Druck auf Putin aus, etwa in den russischen Medien.

Richtig. Das Lager der Kritiker ist allerdings gespalten. Auf der einen Seite stehen die Falken, die behaupten, Russland wΓΌrde den Krieg schon gewinnen, wenn die Armee erst einmal "richtig" zu kΓ€mpfen beginnen wΓΌrde. Auf der anderen Seite stehen jene, die es fΓΌr unsinnig halten, nun alle verfΓΌgbaren Ressourcen gegen die Ukraine aufzuwenden. Sie fΓΌrchten um Russlands Zukunft, wenn sich Staat und Armee vΓΆllig verausgaben. Zwischen diesen beiden Polen der ΓΆffentlichen Meinung muss Putin taktieren.

Im Westen wird angesichts der undurchschaubaren MachtverhΓ€ltnisse in Russland wieder verstΓ€rkt die sogenannte Kreml-Astrologie betrieben. Was halten Sie davon?

Putin zeigt deutliche Anzeichen eines Kontrollverlusts. Anfangs hat er immer nur von einer "militÀrischen Spezialoperation" gegen die Ukraine gesprochen, das Wort "Krieg" sogar verbieten lassen. Mittlerweile ist der Einsatz auch offiziell zu einem Krieg ausgeartet. Der zweite Fehler betraf die Teilmobilisierung: Die wollte Putin eigentlich unbedingt vermeiden, musste sie angesichts der RückschlÀge dann aber doch ausrufen. Das war als Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Fraktionen im russischen Regierungsapparat gedacht, aber es verriet die SchwÀche des PrÀsidenten. Seinen dritten großen Fehler machte Putin Ende September, als er die Separatistenführer von Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson als russische Marionetten die AnnexionsvertrÀge unterzeichnen ließ.

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Timothy Snyder: Der Historiker ist Experte fΓΌr die Geschichte Ostueropas.
Timothy Snyder: Der Historiker ist Experte fΓΌr die Geschichte Ostueropas. (Quelle: Mateusz Wlodarczyk/imago-images-bilder)

Damals verkΓΌndete Putin in einer Rede im Kreml, dass diese Gebiete nun auf ewig russisch sein wΓΌrden.

Und was geschah? Wenige Wochen spÀter stand die ukrainische Armee wieder in der Stadt Cherson. SpÀtestens seit diesem Ereignis ist klar, dass auch Putin den ZwÀngen der RealitÀt unterliegt. Nicht so wie 2014, als er sich die Krim nahm und damit durchkam. Jetzt kann jeder sehen, dass Russland die eroberten Gebiete auf Dauer nicht sichern kann und dass Putins Ideologie keinerlei Überzeugungskraft für die Menschen in den besetzten Regionen entfaltet. Unter Druck muss Putin nun jeden Tag Entscheidungen fÀllen, die er nicht fÀllen will. Im Moment scheint er zumindest den Donbass unter seine Kontrolle bringen zu wollen, um eine Art Sieg verkünden zu kânnen. Aber ihm fehlen schlichtweg die nâtigen KrÀfte, um dieses Ziel zu erreichen.

Putin hat dem Westen immer wieder mit den russischen Atomwaffen gedroht. Sind diese Drohungen ernst zu nehmen?

Putins DrohgebΓ€rden wird viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als sie verdienen. Ein russischer Atombombeneinsatz ist sehr, sehr unwahrscheinlich.

Warum?

Erstens, weil es relativ wenig militÀrischen Gewinn verspricht. Zum Zweiten ist vollkommen klar, dass nicht nur der Westen, sondern auch China einen solchen Schritt vehement ablehnt. Und drittens wÀre der Einsatz einer Atomwaffe das EingestÀndnis, dass der Krieg für Putin verloren ist. Wir müssen zudem seine Persânlichkeit berücksichtigen: Er macht sich große Sorgen darüber, wie sich die Nachwelt einmal an ihn erinnern wird. Auch Putin will keineswegs, dass sein einziges "VermÀchtnis" im Einsatz einer Nuklearwaffe besteht. Nicht zuletzt funktioniert die Abschreckung durchaus: Der Westen kann Dinge geschehen lassen, die in Russland sehr unerwünscht wÀren. Auch ohne selbst mit Nuklearwaffen reagieren zu müssen.

Putins Atomdrohung ist also schlichtweg ein psychologischer Trick – und nicht einmal ein besonders einfallsreicher –, um etwa Bundeskanzler Olaf Scholz und US-PrΓ€sident Joe Biden von Hilfsleistungen fΓΌr die Ukraine abzuhalten. Eigentlich ist diese gesamte Diskussion darΓΌber im Westen beschΓ€mend.

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Wie meinen Sie das?

Auch hier gibt es mehrere GrΓΌnde. Erstens fΓΌhrt diese Darstellung der Ereignisse dazu, dass wir eine offensichtliche und ΓΌberaus wichtige Folge des ukrainischen Widerstands gegen Russland ΓΌbersehen. Und zwar die unbestreitbare Tatsache, dass dadurch das Risiko eines Atomkriegs zu unseren Lebzeiten ernsthaft verringert wurde. Erinnern wir uns, was die kleinen und großen Szenarien eines mΓΆglichen Nuklearkrieges vor Beginn des Krieges waren. Ersteres bestand in einem russischen Angriff auf ein europΓ€isches Land, der eine Reaktion der Nato nach sich gezogen hΓ€tte – und dann in eine wirklich bedrohliche Eskalation gemΓΌndet wΓ€re. Die Ukrainer haben ein solches Szenario aber in naher Zukunft so gut wie unmΓΆglich gemacht. Warum? Weil sie einen Großteil der russischen Armee zerstΓΆrt und deren SchwΓ€chen offengelegt haben.

Das zweite Szenario betrifft wahrscheinlich den Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan?

Genau. Als Hauptszenario wurde eine chinesische Invasion in Taiwan befΓΌrchtet, die dann eine amerikanische Reaktion nach sich ziehen wΓΌrde. Aber wieder einmal hat der ukrainische Widerstand ein solches Szenario viel unwahrscheinlicher gemacht. Die Chinesen sehen jetzt, dass der Westen zu einem sinnvollen Sanktionsregime fΓ€hig ist. Und vor allem sehen sie, wie schwierig eine solche Offensivoperation fΓΌr sie wΓ€re. Im weitesten Sinne hat der Widerstand der Ukraine die Welt viel sicherer gemacht. Aber kaum jemand wΓΌrdigt diese Tatsache, weil wir viel ΓΌber uns selbst und unsere momentanen Γ„ngste nachdenken. Aus den genannten GrΓΌnden ist es sehr peinlich fΓΌr uns im Westen, dass wir uns als Opfer dieses Krieges positionieren.

Was Wladimir Putin mit seinen Atomdrohungen durchaus in die HΓ€nde spielt.

Leider, ja. Genau diese von ihm geschΓΌrte Furcht vor einem mΓΆglichen Atomschlag gegen den Westen fΓΌhrt dazu, dass wir uns selbst als Opfer der russischen Aggression betrachten. Dabei sind nicht die Amerikaner und nicht die Briten, Franzosen oder Deutschen die Opfer dieses Krieges, sondern die Ukrainerinnen und Ukrainer. Bei uns im Westen gibt es keinen Vernichtungskrieg, wie ihn Russland gegen die Ukraine fΓΌhrt. Stattdessen sollte uns bewusst sein, dass wir im Westen durch Waffenlieferungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten kΓΆnnen, dass dieser Konflikt beendet wird.

(Quelle: Infografik: ha, dpa)

Auch schwere Waffen wie Kampfpanzer?

SelbstverstΓ€ndlich. Wenn es hilft, die russische Armee schnell zu besiegen. Die Ukrainer benΓΆtigen dringend auch Langstreckenwaffen, um alle russischen Stellungen in der Ukraine angreifen zu kΓΆnnen. Das ist der Weg, diesen Krieg so schnell wie mΓΆglich mit mΓΆglichst wenigen Opfern zu beenden.

Zu Beginn des Krieges rechneten westliche Politiker und Experten hingegen mit einem schnellen russischen Sieg. Wie ist es der ukrainischen Armee gelungen, den Invasoren so erfolgreich zu widerstehen?

Unsere Wahrnehmung dieses Krieges basierte auf tiefliegenden, unausgesprochenen Annahmen ΓΌber die beiden LΓ€nder Russland und Ukraine. Zu lange Zeit haben zu viele Menschen im Westen das russische Geschichtsnarrativ bedauerlicherweise ernst genommen, dass die Ukraine irgendwie keine richtige Nation sei. Daher waren wir im Westen zunΓ€chst nicht in der Lage, die wahren StΓ€rken zu erkennen, die die Ukraine in den letzten dreißig Jahren entwickelt hat: Eine davon ist die beeindruckende Zivilgesellschaft, die das Land heute auszeichnet. Nun fΓΌhrt die russische Armee einen Angriffskrieg gegen diese Ukraine – und einen solchen Krieg zu fΓΌhren, ist keineswegs einfach: Man kΓ€mpft auf fremdem Gebiet, die Verteidiger wehren sich mit allem, was sie haben, und die ZivilbevΓΆlkerung ist feindlich eingestellt.

Die ukrainische Zivilgesellschaft unterstΓΌtzt die Armee zudem auf beeindruckende Weise.

Dass die ukrainische Zivilgesellschaft nach wie vor intakt ist, ermΓΆglicht diesen effektiven RΓΌckhalt der Soldaten durch die BΓΌrgerinnen und BΓΌrger. Da der ukrainische Staat zudem dezentralisiert ist, konnten lokale Kommandeure immer wieder die Initiative ergreifen. Dazu kommen die operative Intelligenz und die hohe Kampfmoral der ukrainischen StreitkrΓ€fte. Ich betone nochmals: Die politische und militΓ€rische FΓΌhrung der Ukraine erhΓ€lt immer noch nicht genug Anerkennung fΓΌr das, was sie vollbracht hat. Wenn die Ukraine siegt, wΓΌrde das Russland langfristig sogar helfen.

Kiew im November 2022: Nach einem russischen Angriff fiel der Strom aus.
Kiew im November 2022: Nach einem russischen Angriff fiel der Strom aus. (Quelle: Sergei Chuzavkov)

Wie das?

Nur eine militÀrische Niederlage kann in Russland die dringend notwendigen Reformen anstoßen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Russland diesen Krieg verliert. Die russische Geschichte zeigt, dass vor allem nach Niederlagen VerÀnderung mâglich wurde: So war es nach dem verlorenen Krimkrieg 1856, so war es nach der Niederlage gegen Japan 1905. Warum also nicht auch nach einem verlorenen Krieg gegen die Ukraine 2023 oder 2024? Dies ist eine grundlegende Erkenntnis der modernen europÀischen Geschichte: Die erfolgreichen rechtsstaatlichen Demokratien in Europa, beginnend mit Deutschland selbst, entstanden nach eindeutigen militÀrischen Niederlagen, die sie in imperialen Kriegen erfahren haben.

WΓ€ren Reformen in Russland ΓΌberhaupt mΓΆglich, wenn Putin an der Macht verbleibt?

Das ist nicht die richtige Frage, denke ich. Denn Putin hat sich mit Kriegsbeginn der Logik des Schlachtfelds ausgeliefert. Wenn er dort verliert, muss er sich der Macht des Faktischen ergeben. Und wie Putin mΓΌsste es auch die russische BevΓΆlkerung tun. Nehmen wir Deutschland im Jahr 1942: Damals fΓΌhrte Ihr Land einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Niemand hΓ€tte es damals fΓΌr mΓΆglich gehalten, dass wenige Jahrzehnte spΓ€ter ein wiedervereintes Deutschland die wichtigste europΓ€ische Demokratie sein wΓΌrde. Wie war das mΓΆglich? Weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg nicht nur verloren hat, sondern die Deutschen diese Tatsache auch akzeptiert haben. Nur so war der demokratische Wandel mΓΆglich.

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LΓ€sst sich das Nachkriegsdeutschland wirklich mit dem Russland von heute vergleichen?

Es gibt durchaus Parallelen. Wenn wir die eigentlich aussichtslose Lage Deutschlands in den Kriegsjahren 1943, 1944 und sogar noch 1945 betrachten, ist es erstaunlich, wie viele Deutsche damals noch an Adolf Hitler und an einen Sieg glaubten. Es war tatsΓ€chlich die verheerende Niederlage, die den Bann brach. Und diese Niederlage, das betone ich, erlitt Deutschland in einem Kolonialkrieg.

Wolodymyr Selenskyj im befreiten Cherson: Die russischen Truppen zogen sich dort zurΓΌck.
Wolodymyr Selenskyj im befreiten Cherson: Die russischen Truppen zogen sich dort zurΓΌck. (Quelle: Ukraine Presidency/imago-images-bilder)

Den Deutschland mit Àußerster BrutalitÀt auch auf dem Gebiet der damals sowjetischen Ukraine führte.

Genau. Die Deutschen vergessen gerne, worin Hitlers Hauptziel bestand – nΓ€mlich die Kontrolle ΓΌber die ukrainische Lebensmittelversorgung zu erringen. Hitler machte damals einen Γ€hnlichen Fehler wie Putin heute: Aufgrund ideologischer Vorannahmen kam er zu dem Fehlschluss, dass der gegnerische Staat, in diesem Fall die Sowjetunion, schnell zusammenbrechen wΓΌrde. Nun hat sich Deutschland seiner verbrecherischen Vergangenheit in einem bemerkenswerten Ausmaß gestellt – und tut das heute noch. Russland hingegen hat sich niemals ausfΓΌhrlich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinandergesetzt. Deshalb verhΓ€lt sich Putin bis heute als brutaler Kolonialist: Er betrachtet die Ukraine als Objekt seiner kolonialen Gewaltphantasien. Damit muss Schluss sein.

Letztlich muss Russland also ein postkolonialer Staat werden, der sich den Schattenseiten seiner eigenen Geschichte stellt?

Was der Amateurhistoriker Putin ΓΌbersehen hat, ist die Tatsache, dass die Geschichte aufseiten der Ukrainer steht. In der zweiten HΓ€lfte des 20. Jahrhunderts erlitten die USA eine Niederlage in Vietnam, die Franzosen wurden in Algerien geschlagen: MΓ€chtige Staaten wurden von kleinen besiegt. So wird es nun auch Russland in der Ukraine aller Wahrscheinlichkeit nach ergehen. Es kann in Russland weder ein Rechtsstaat noch eine lebendige Zivilgesellschaft entstehen, solange alles der Wiederrichtung des Imperiums untergeordnet und dem verlorenen Kolonialreich nachgetrauert wird. Solange die ΓΆffentlichen Debatten, mit den Kremlmedien an der Spitze, nur davon handeln, wie verachtenswert der Westen und die Ukraine seien, wird kein Wandel mΓΆglich sein. Und erst recht keine Demokratisierung.

Wie der Westen sich im Ukraine-Krieg weiter verhΓ€lt, hΓ€ngt vor allem von den USA ab. Dort waren die Kongresswahlen fΓΌr die Republikaner und insbesondere fΓΌr Donald Trump enttΓ€uschend.

Es war aber ohne jeden Zweifel auch ein schlechter Tag fΓΌr Putin. Er hatte sich von einer republikanischen Mehrheit im Kongress selbstverstΓ€ndlich eine Reduzierung oder gar eine Einstellung der US-MilitΓ€rhilfe fΓΌr die Ukraine erhofft. Stattdessen wurde es ein guter Tag fΓΌr die Demokratie. Es hat sich gezeigt, dass Menschen wie Donald Trump, die die Ergebnisse freier Wahlen leugnen, in den USA doch eher unbeliebt sind.

Putin und der frΓΌhere US-PrΓ€sident Trump (Archivbild): Russland hatte auf einen Sieg der Republikaner bei den Midterms gehofft.
Putin und der frΓΌhere US-PrΓ€sident Trump (Archivbild): Russland hatte auf einen Sieg der Republikaner bei den Midterms gehofft. (Quelle: Sergey Guneev/imago-images-bilder)

Nun hat Trump allerdings seine Kandidatur bei der nÀchsten PrÀsidentschaftswahl angekündigt. Trauen Sie ihm eine weitere Amtszeit im Weißen Haus zu?

Trumps Karriere dΓΌrfte beendet sein, er will es nur nicht wahrhaben. Die Midterms haben den Republikanern deutlich gezeigt, wie schwierig es im Moment fΓΌr sie wΓ€re, eine nationale Wahl zu gewinnen. Sie haben in vielen Bundesstaaten nur deshalb noch so gut abgeschnitten, weil sie das Wahlsystem in ihrem Sinne zuvor verzerrt haben.

In Florida hat der republikanische Gouverneur Ron DeSantis einen hohen Sieg eingefahren, Trump Àtzt nun über den potenziellen Rivalen im PrÀsidentschaftswahlkampf. HÀtte der als "Trump mit Hirn" titulierte DeSantis Chancen, das Weiße Haus im Jahr 2024 zu erobern?

Die Republikaner sehen, dass Trump eine nationale Wahl nicht gewinnen kann. FΓΌr jeden von ihnen wΓΌrde es 2024 schwer werden, aber fΓΌr Trump wΓ€re es viel schwieriger als fΓΌr einen anderen Kandidaten. Davon gehe ich nach den Ergebnissen der Zwischenwahlen aus.

Falls aber doch ein Republikaner PrΓ€sident werden sollte: WΓΌrden sich die USA dann wieder stΓ€rker von Europa abwenden?

Das wird sich zeigen. Es kommt darauf an, welcher Republikaner es 2024 wΓ€re. Der Fairness halber muss ich aber betonen, dass nicht wenige Republikaner durchaus eine ΓΌberaus vernΓΌnftige Position zu diesem Konflikt bezogen haben. So oder so: Hoffen wir, dass die Ukraine den Krieg bis dahin gewonnen hat.

Sie selbst engagieren sich stark fΓΌr die Ukraine, sammeln Geld fΓΌr ein Abwehrsystem, mit dem russische Drohnenangriffe zukΓΌnftig abgewiesen werden sollen. Wegen Ihrer Profession als Historiker werden Sie deswegen bisweilen kritisiert.

Historiker zu sein gibt mir nicht das Recht, bei einem VΓΆlkermord wegzusehen. Es wΓ€re ein unverzeihliches moralisches Versagen von mir, nichts zu tun – nur weil meine eigentliche Aufgabe darin besteht, etwa ΓΌber Deportationen, Todesgruben und Filtrationslager zu schreiben. Ich kann Menschen nicht verstehen, die glauben, dass ihr Beruf sie von offensichtlichen moralischen Verpflichtungen entbindet. Im Jahr 2020 habe ich auf der Grundlage meiner historischen Arbeiten vorausgesagt, dass Donald Trump einen Putschversuch unternehmen werde. Wie es dann am 6. Januar 2021 auch geschehen ist. Ich hatte Recht – und es war wichtig, dass ich diese Warnung ausgesprochen habe. HΓ€tte ich schweigen sollen, weil ich Professor bin? SelbstverstΓ€ndlich nicht. 2014 konnte ich richtig voraussagen, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde. HΓ€tte ich auch da dann schweigen sollen? Nein!

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Historikern eine besondere Verantwortung fΓΌr die Gegenwart obliegt?

Das ist so. Die erste HΓ€lfte dieses Jahres habe ich in einem GefΓ€ngnis unterrichtet. Sollte ich mich etwa nicht in dieser Form fΓΌr die Zivilgesellschaft engagieren, weil es kein Vorlesungssaal gewesen ist? Sollen meine Kollegen, die sich fΓΌr eine GefΓ€ngnisreform in den USA einsetzen, dies nicht tun, weil sie wissenschaftliche Experten auf diesem Gebiet sind? Das ist Unsinn. Insbesondere die Geschichte Deutschlands zeigt ΓΌberaus deutlich, dass kritische Zeiten eine tiefgreifende Berufsethik erfordern. Diese wiederum als Entschuldigung dafΓΌr zu nehmen, bei einem VΓΆlkermord wegzuschauen oder sich einer passiven KonformitΓ€t hinzugeben, ist meiner Ansicht nach falsch. Gerade Historiker, die Entstehung und Verlauf von VΓΆlkermord und Massengewalt erforschen, tragen eine besondere Verantwortung dafΓΌr zu sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholen kann.

Professor Snyder, vielen Dank fΓΌr das GesprΓ€ch.

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Verwendete Quellen
  • PersΓΆnliches GesprΓ€ch mit Timothy Snyder via Videokonferenz
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