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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angriff auf den Iran "Dies ist ein Bruch mit der Weltordnung"

Israel hat den Iran attackiert – der droht mit Vergeltung. Der israelische Ex-Diplomat Alon Liel kritisiert die Strategie Netanjahus scharf. Und hält die Besatzung Gazas für verhängnisvoll.
Die Lage im Nahen Osten ist eskaliert: Das israelische Militär griff am Morgen mehrere Ziele im Iran an, darunter in der Hauptstadt Teheran und in der Atomanlage Natans. Iranischen Medienberichten zufolge wurden bei den Angriffen auch der iranische Armeechef Mohammed Bagheri und der Chef der Revolutionsgarden, Hossein Salami, getötet. Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, drohte Israel mit folgenschweren Konsequenzen – eine Drohnenattacke aus dem Iran wurde offenbar abgefangen.
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Der israelische Ex-Diplomat Alon Liel warnt nun vor einer weiteren Eskalation im Nahen Osten. Im Interview mit t-online erklärt Liel, wie er die Situation Israels und des Regierungschefs Benjamin Netanjahu bewertet und was eine Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen bedeuten würde.
t-online: Herr Liel, Israel hat den Iran angegriffen und Atomanlagen zerstört, der Iran droht indes Vergeltung an und schickte bereits Drohnen gen Israel. Was halten Sie von dem israelischen Schlag?
Alon Liel: Der Krieg gegen den Iran passt in eine neue Weltordnung, in der allein militärische Gewalt die Entwicklung bestimmt. Dies ist ein Bruch mit der Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden ist, in der Diplomatie vorherrschen sollte. Für mich als israelischen Patrioten und Diplomaten ist es ein Trauerspiel, dass mein Land die gängigen Regeln missachtet.
Schon vor den Angriffen am Freitag veränderte Israel die Verhältnisse in Nahost, indem es der Hisbollah im Libanon und den Mullahs im Iran schwere Schläge versetzte. Wie bewerten Sie diese Vorgänge?
Die massiven Angriffe auf die Hamas, die Hisbollah und den Iran spiegeln das veränderte Gleichgewicht der Macht in der Region wider. Die Überraschung waren der 7. Oktober 2023 und die Tatsache, dass daraus ein Krieg entstand, der mittlerweile seit 20 Monaten anhält. Nun ist Netanjahu darauf bedacht, die öffentliche Aufmerksamkeit von Gaza auf den Iran zu richten. In dieser Phase des Kriegs besitzt Israel keine Strategie und hat sich vollständig verirrt.

Zur Person
Alon Liel, geboren 1948 in Tel Aviv, ist ein ehemaliger israelischer Diplomat. In seiner Karriere war er unter anderem Sprecher des israelischen Außenministeriums, Botschafter in Südafrika und Berater des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak.
Gaza und der militärische Konflikt mit dem Iran: Findet jetzt Krieg um des Kriegs willen statt?
Netanjahu hat schon mehrmals während des Gaza-Kriegs gesagt, dass Israel für alle Zeit mit dem Schwert leben muss. Viele Israelis, mich eingeschlossen, glauben nicht daran, dass ein normales Land sich einer derart destruktiven Vision hingeben sollte. Dieser Weg führt Israel in die Selbstzerstörung.
Was könnte Netanjahu denn dazu zwingen, über eine politische Lösung für Gaza nachzudenken?
In dieser Situation kann nur großer internationaler Druck Netanjahu dazu bringen, dass er eine Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern ernsthaft in Erwägung zieht.
Muss Netanjahu persönlich die Folgen eines Kriegsendes fürchten, weil ihm dann der Prozess gemacht wird?
Der Prozess gegen Netanjahu ist ein Teil des Gesamtbildes. Er glaubt, dass er sehr schnell angeklagt werden wird, sobald er nicht mehr Premierminister sein kann.
Im Zentrum steht Gaza. Vor genau 20 Jahren zog sich Israel unter Ariel Sharon aus dem Küstenstreifen zurück, wobei 21 Siedlungen geräumt wurden. War es richtig, was Sharon tat?
Ja, der Rückzug aus Gaza und dem nördlichen Teil des Westjordanlands geschah zu Recht. Sharons Fehler bestand aber darin, dass er den Rückzug einseitig vornahm. Ihm war klar, dass es unmöglich ist, Millionen Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen unter Kontrolle zu halten.
Die neuerliche Besatzung soll offenbar mit der Vertreibung vieler Palästinenser einhergehen. In Washington geht das Gerücht um, eine Million Palästinenser sollten nach Libyen überstellt werden. Hören Sie das auch?
Der Transfer von Einwohnern aus Gaza in andere Länder wäre ein Verstoß gegen das Völkerrecht, selbst dann, wenn es nur Israels Absicht sein sollte, aber andere die Vertreibung vornehmen.
Netanjahu beruft sich auf den "Trump-Plan" als Grundlage zur Vertreibung und zum Bau eines neuen Gaza.
Rund 200.000 Palästinenser sind in Ägypten, aber die meisten von ihnen sind illegal dort und werden nach dem Krieg zurück nach Gaza gehen. Ihre Übersiedlung hat mit Israels Sicherheit nichts zu tun. So wie die Dinge liegen, kann Israel von außerhalb mehr geschadet werden als innerhalb von Gaza.
Wie sähe Ihr Plan für Gaza aus, wenn Sie das Sagen hätten?
Den Krieg müssen wir beenden und uns aus Gaza zurückziehen. Im Gegenzug müssen alle 58 Geiseln freikommen. Die Palästinensische Autonomiebehörde soll Gaza kontrollieren. Dazu braucht es enorme internationale Hilfe und auch weitreichende Reparationen von israelischer Seite.
Die Serie militärischer Offensiven rechtfertigt Israel mit der Jagd auf die Hamas. Dabei werden immer mehr Häuser zerstört und Zivilisten getötet.
Dass sich die Zerstörung Gazas grausam fortsetzt, mindert das internationale Ansehen Israels. Das israelische Volk und die Juden auf der ganzen Welt werden die Bürde der Anklagen für diesen Krieg und seine Folgen tragen müssen.
Israel wird vorgeworfen, Lebensmittel als Waffe zu nutzen, was zur außenpolitischen Isolierung beiträgt. Jetzt durften einige Lastwagen mit dem Nötigsten unter der Aufsicht privater US-Organisationen nach Gaza hineinfahren. Ist es verständlich, dass die UN ausgeschlossen wurde?
Die Hungerpolitik, die Israel praktiziert, ist eine Schande für unser Land und die Welt der Juden. Dass die UN und andere Organisationen aus Gaza ausgeschlossen worden sind, isoliert uns. Damit manövriert sich Israel in eine unmögliche Ecke.
Wie kommt es, dass humanitäre Erwägungen zu kurz kommen?
Die Antwort lautet, dass durch Angst Rachegefühle ausgelöst werden. Die Israelis sind teilweise vom Überfall der Hamas traumatisiert, aber damit lässt sich inhumanes und illegales Verhalten keineswegs rechtfertigen.
Alles fing am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas an, bei dem 1.200 Israelis ermordet wurden, 200 Israelis als Geiseln verschleppt wurden. Dass Israel militärisch gegen die Hamas vorging, war überaus verständlich. Gab es einen Moment, an dem Sie sagen: Jetzt wird es zu viel, die Vergeltung lässt sich nicht mehr mit dem Überfall rechtfertigen?
Natürlich. Weite Teile unserer Bevölkerung haben monatelang den Krieg befürwortet. Aber Israel hat überzogen, und zwar bis zu einem Punkt, dass daraus ein übertriebener Rachefeldzug wurde, der unseren internationalen Ruf und unser Ansehen in der Welt ruiniert hat.
Wie kommt es eigentlich, dass die Geiseln für die israelische Regierung offenbar nur ein sekundäres Problem sind?
Auch heute sind die Geiseln kein nebensächliches Problem. Aber es gibt keinen Konsens darüber, dass sie unter allen Umständen befreit werden müssen. Viele Israelis denken, dass die Bemühungen um den Austausch dazu beitragen, dass die Hamas überleben kann und so ein "totaler Sieg" verhindert wird.
Wenn Israel nach dem Westjordanland auch Gaza besetzt, stellt sich die Frage, ob es dann noch eine Demokratie bleiben wird.
Eine Demokratie wird Israel dann nicht mehr sein, wenn es wirklich versuchen sollte, das Leben von Millionen Palästinensern in Gaza und im Westjordanland zu kontrollieren. Dazu kommen auch noch die zwei Millionen Palästinenser, die innerhalb von Israel leben.
Es finden regelmäßig größere Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu statt. Überschätzen wir deren Bedeutung?
Die Demonstrationen haben an Schlagkraft eingebüßt. Trotzdem müssen sie immer wieder stattfinden. Sie zeigen, dass die grausame Kriegsführung, für die unsere Regierung verantwortlich ist, beileibe nicht auf allgemeine Zustimmung trifft.
Einfluss auf Israel kann nur Präsident Trump ausüben, der allerdings momentan andere Prioritäten hat. Könnte die Sorge, dass sich die Bindung an Amerika lockert, Netanjahu zum Nachdenken bringen?
Sicherlich haben die USA entscheidenden Einfluss, aber auch Ägyptens und Saudi-Arabiens Wort zählt. Bedauerlicherweise lässt sich das nicht für die Europäische Union sagen, die intern uneins ist. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron scheint der einzige mutige Anführer in Europa zu sein. Europa sollte Palästina als Staat anerkennen und darauf dringen, dass Palästina in die UN aufgenommen wird. Kein anderer Schachzug Europas könnte ähnlich starken Einfluss auf Israel haben.
Wäre das nicht ein Geschenk für die Hamas?
Nein, das glaube ich nicht. Nur eine Zweistaatenlösung kann Frieden garantieren. Und Frieden brauchen die Israelis genauso dringend wie die Palästinenser. Beide Seiten, Hamas wie Israel, haben schreckliche Taten im Gaza-Krieg begangen. Um in Zukunft Kriegsverbrechen zu verhindern, muss das gemeinsame Land, auf dem rund 15 Millionen Menschen miteinander leben, offiziell geteilt werden. Anders geht es nicht.
Sie haben als Diplomat Ihrem Land gedient. Was ist Ihre größte Sorge für die Zukunft Israels?
Dass der Krieg in Gaza international als Genozid verstanden und definiert wird. Sollte es so weit kommen, muss das jüdische Volk nicht nur die Bürde des Holocaust tragen, der uns kollektiv für alle Zeiten quälen wird, sondern den Genozid an den Palästinensern verantworten. Ich bin mir nicht sicher, ob dies möglich ist.
Sie haben vor vielen Jahren eine Fußballmannschaft aus Israelis und Palästinensern gegründet. Spielen sie immer noch zusammen, trotz des Hasses, trotz des Kriegs?
Mein palästinensisch-israelisches Team hat den Krieg kaum überlebt. Nichts blieb seit dem 7. Oktober 2023 so, wie es einmal war. Das Verhältnis zwischen Juden und Arabern innerhalb Israels ist jetzt äußerst explosiv.
Herr Liel, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Alon Liel
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP