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Mob in Chemnitz: Sachsen als Laborversuch der AfD


Vorfälle in Chemnitz
Sachsen als Laborversuch der AfD

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

03.09.2018Lesedauer: 5 Min.
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Der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Björn Höcke, in Chemnitz: Sachsen bietet sich als Besatzungsgebiet für die AfD an, weil die Gegenwehr des Staates schwach ist.Vergrößern des Bildes
Der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag Björn Höcke in Chemnitz: Sachsen bietet sich als Besatzungsgebiet für die AfD an, weil die Gegenwehr des Staates schwach ist. (Quelle: AP Photo/Jens Meyer/ap)

Im Osten hofft Alexander Gauland darauf, aus der AfD eine Volkspartei zu machen. Sachsen ist dankbares Terrain, weil der Staat dort immer wieder Schwäche zeigt. Wie lange noch?

Michael Kretschmer ist seit acht Monaten sächsischer Ministerpräsident. Das ist lange genug, um eine gewisse Sicherheit gewonnen zu haben und zu wissen, worum es geht.

Sonja Penzel ist seit Anfang August Polizeipräsidentin von Chemnitz. Sie ist neu in der Stadt, aber nicht unerfahren. Zuvor hat sie die Kriminalpolizeiinspektion in Leipzig und dann die Dresdner Mordkommission geleitet. Anschließend war sie Abteilungsleiterin im sächsischen Innenministerium.

Barbara Ludwig ist seit zwölf Jahren Oberbürgermeisterin der Stadt Chemnitz. Sie hat reichlich Erfahrung, sie kennt ihre Stadt und sollte einen Überblick über die rechte und die linke Szene haben. Ihr hätte ich am ehesten zugetraut, dass sie weiß, was passieren kann, wenn an einem Sonntagmorgen um drei Uhr ein Deutscher von zwei Menschen, die aus Syrien und dem Irak stammen – von zwei Asylbewerbern also – durch Messerstiche getötet wird.

Was passiert, zeichnet sich in den sozialen Netzwerken ab. Wer sich zusammenrotten will, wer Profit aus den Tumulten schlagen will, das alles lässt sich auf Facebook und Twitter mitlesen. Eine Stadt gerät aus den Fugen.

Das Aufflammen in Chemnitz war nicht neu

Wer in dieser Stadt Verantwortung trägt, kann sich darauf einstellen. Das ist kein Hexenwerk. Außerdem hat Chemnitz Vorläufer, zum Beispiel Dresden und Freital, dazu Cottbus etwas weiter weg. Es gibt Muster, es gibt fast modellhafte Abläufe. Rechte Demonstranten versuchen, die Stadt zu übernehmen, sie setzen alles daran, dass der Staat die Kontrolle verliert. Sie heben den rechten Arm, sie grölen Nazi-Parolen, sie provozieren auf Teufel komm raus, sie jagen Angst ein und üben Macht aus.

So ist es schon mehrmals abgelaufen, das Aufflammen in Chemnitz war nicht neu. Deshalb ist die große Überraschung, von der das Unglückstrio redete, nur eine schlechte Ausrede.

Ich hoffe immer darauf, dass in der Not auch etwas Rettendes wächst. Ich finde es immer wieder beruhigend, wenn sich in einer Krise jemand aufschwingt und eine eigene Sprache findet, einfach so, weil es richtig ist, weil es sein muss. Er spricht dann dem gesunden Menschenverstand aus dem Herzen, er hat Mut und ist der Herausforderung gewachsen.

George W. Bush war so jemand, erstaunlicherweise, nach 9/11, auch Rudy Giuliani, der Bürgermeister von New York, wuchs damals über sich hinaus. Das Ereignis war monströs und der Schock ging unermesslich tief. Es war viel schwerer, Haltung zu bewahren und Worte zu finden. Oder Helmut Schmidt im deutschen Herbst 1977: Wie wichtig war es, dass er die Fassung behielt und angemessen reagierte, mit großem Ernst.

Krise als Charakterprobe: Haben die Verantwortlichen versagt?

Chemnitz ist nichts dagegen. Eine Petitesse. Wie leicht wäre es gewesen, vorbereitet zu sein und eine Sprache zu finden. Um so deprimierender, dass weder der Ministerpräsident noch die Oberbürgermeisterin noch die Polizeichefin richtig reagierten und lieber den Kopf einzogen.

Krisen sind Charakterproben. Krisen kehren das Innerste heraus. Krisen haben Langzeitwirkung. Wer versagt, erleidet eine Niederlage und ist geschwächt. Wer besteht, festigt seinen Ruf oder erregt Bewunderung.

Es wäre gut gewesen, hätte wenigstens einer aus dem Unglückstrio Fantasie genug gehabt zu sehen, was abzusehen war. Es wäre einfach gewesen, sofort reichlich Polizei in Chemnitz zusammenzuziehen und Verstärkung anzufordern. Die Polizeipräsidentin sollte aus ihrer Zeit im Innenministerium noch ein paar Telefonnummern haben, um ihre Einheiten aufzustocken. Mir ist schleierhaft, warum sie es nicht schon am Sonntag getan hat. Mir ist es ein Rätsel, dass keiner der drei Vorkehrungen für die Demonstrationen getroffen hat, weder gleich nach dem Mord (oder fahrlässigen Totschlag oder worauf auch immer der Staatsanwalt im Prozess plädieren wird), noch am Montag.

Mir ist allerdings auch ein Rätsel, wieso der Bundesinnenminister Interviews gab, in denen er seinen Senf zur Handhabung der Flüchtlinge abgab, anstatt Chemnitz und Sachsen subito Hilfe anzubieten – oder von mir aus: aufzunötigen. Es könnte peinlich für Horst Seehofer werden, wenn bei der Geschichte des Irakers Youssif A. noch mehr als bürokratischer Schlendrian (Fristversäumnis im Bamf, Freilassung auf Bewährung trotz serienhafter Delikte) und EU-Kuddelmuddel (Erstankunft in Bulgarien) herauskommen sollte.

Laborversuch der neuen deutschen Rechten

Chemnitz hat 240.000 Einwohner und ist die drittgrößte Stadt Sachsens. Bei der letzten Wahl zum Stadtparlament bekam die CDU 24,5, die Linke 23,6, die SPD 19,5, die Grünen 7,9, Pro Chemnitz 5,7, die AfD 5,6 und die FDP 5,5. Ziemlich bunt, mit einer Rechten, die zusammen nur auf 11,3 Prozent kommt.

Zwei Gruppierungen, die kaum mehr als 10 Prozent der Chemnitzer gewählt haben, vermögen es binnen kürzester Zeit, ihre Truppen zu alarmieren, und können die Straßen der Stadt anschließend tagelang beherrschen. Und alle schauen zweimal wie gelähmt zu: die Repräsentanten des Staates, aber auch die übergroße Mehrheit der Chemnitzer Bürger.

Was in Chemnitz passiert ist, hat mit Chemnitz zu tun. Chemnitz ist nicht überall, wie Markus Feldenkirchen im "Spiegel" schreibt. Da herrscht eine gewisse pastorale Lustangst vor: Es wird ganz bestimmt schlimm und ich warne euch jetzt schon mal.

Wahr ist, dass es Langzeitwirkung haben kann, wenn der Staat die Kontrolle wie in Köln oder Hamburg oder Cottbus oder eben Chemnitz verliert. Chemnitz kann aber genau so gut eine Lehre sein fürs nächste Mal.

Das nächste Mal kommt bestimmt – im Osten, denn hier findet der Laborversuch der neuen deutschen Rechten statt. Die AfD hofft darauf, zur Volkspartei aufzusteigen: 30 Prozent plus x. Sie ist der politische Arm der Rechten. Ihr militanter Arm sind Pegida, versprengte Reste der NPD und die Hooligans, die mal Fanklubs der Fußballvereine waren und sich jetzt in die Straßenschlachten der Städte werfen: gestern Cottbus, heute Chemnitz, morgen irgendwo, wenn sich was Aufsehenerregendes ereignet.

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Was sich im Osten abspielt, ist kein Geheimnis

Natürlich nehmen vornehme AfD-Bürgersleut’ wie Alice Weidel und Alexander Gauland (geboren 1941 in Chemnitz) den Mob in Schutz, den sie besorgte Patrioten nennen, die sich vom Staat verlassen fühlen. Natürlich weinen sie Krokodilstränen über den Tod des 35-jährigen Tischlers, auch wenn der nach ihrer Terminologie ein "Schoko" war (Vater Kubaner, Mutter Deutsche), was ja eigentlich nicht in ihr Beuteschema passt. Aber egal, die Hauptsache ist doch, dass ihn ein Flüchtling gemeuchelt hat, oder wie Weidel sagt: ein staatlich alimentierter Messerstecher.

Was sich im Osten abspielt, ist kein Geheimnis. Sachsen bietet sich als Besatzungsgebiet für die AfD an, weil die Gegenwehr des Staates schwach ist. Wie lange noch?

Wenn es gut geht, kann Chemnitz ein Wendepunkt sein. Welcher Bürgermeister bleibt Bürgermeister, wenn er sich die Kontrolle über seine Stadt wegnehmen lässt? Welcher Polizeichef behält Autorität, wenn er zu wenige Polizisten im Abwehrkampf gegen den johlenden rechten Mob verheizt? Und vielleicht lernt auch der Ministerpräsident dazu – und sei es nur, weil er sonst bei der Landtagswahl in einem Jahr davon gejagt wird.

Am Samstag haben sie es endlich richtig gemacht. Es waren genügend Polizeikräfte zusammengezogen worden, als der Mob wieder auf der Straße war. Die Kontrolle ging nicht verloren. Der Staat behielt die Oberhoheit, wie es sich gehört. Die Chemnitzer Bürger, die nichts für die Hooligans und die anderen Fußsoldaten der AfD übrig haben, gingen auch auf die Straße.

Geht doch. Wurde auch Zeit. Und beim nächsten Mal: bitte, gleich so.

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