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Migration | Stimmungswechsel in Freiburg: Plötzlich sind sie gegen Flüchtlinge


Geflüchtete in Freiburg
Es kippt


21.10.2023Lesedauer: 7 Min.
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Neu angekommene Flüchtlinge in Deutschland: In Freiburg verändert sich etwas.Vergrößern des Bildes
Neu angekommene Flüchtlinge in Deutschland: In Freiburg verändert sich etwas. (Quelle: Boris Roessler)

Freiburg wollte vielen Flüchtlingen helfen. Nun werden Schlafplätze knapp, manche Migranten kriminell – und der Bürgermeister schreibt Brandbriefe. Report aus einer Stadt, die am Ende ihrer Illusionen ankommt.

Es wirkt, als sei alles wie immer. Mitten in Freiburg füttert eine Mutter ihr Kind auf einer Parkbank, jemand spielt Gitarre, Weißweingläser klirren in den Cafés. Sorglosigkeit schwebt über der Stadt. Doch in einer Seitenstraße der Fußgängerzone sitzt Manfred Elsner in seinem Büro und sieht misstrauisch aus.

Vor Elsner auf dem Tisch liegen Papiere mit den aktuellen Flüchtlingszahlen der Stadt. Elsner ist Vizeleiter des Jugendamts, täglich lässt er sich über die Lage informieren. Mit dem Finger fährt er die Linien auf dem Papier ab. "Hier war alles noch beherrschbar – aber im gesamten ersten Halbjahr auf hohem Niveau", sagt Elsner, sein Zeigefinger wischt über den März, den April und den Mai dieses Jahres. Überall kurze Linien. "Aber ab hier wurde es schwieriger." Elsner tippt auf den Juli, wo die Linie deutlich länger wird.

"Und jetzt sind es schon besonders viele." Elsners Finger ist beim August und September angekommen. Die Linien dort sind so lang, dass sie fast die Grafik sprengen. Etwa 160 junge Migranten kommen jeden Monat in die Stadt. "Nun müssen wir auf eine Turnhalle ausweichen. Spaß macht das niemandem. Aber so ist es nun mal", sagt Elsner.

Er ist verantwortlich für die sogenannten "Umas". So heißen im Beamtendeutsch die "Unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden". Fast immer sind es junge Männer, die allein reisen. Viele kommen aus der Schweiz und Italien nach Freiburg, hinzu kommen jeden Monat Dutzende Familien und Ehepaare, die separat gezählt werden. Es werden immer mehr und die Kriminalität von einigen nimmt zu. In der Stadt verändert sich etwas.

Dabei galt Freiburg lange als weltoffen, als Hochburg der Toleranz. Viele der 230.000 Einwohner waren stolz darauf, progressiver und politisch grüner zu sein als die anderer Orte. Es gab zahlreiche Demonstrationen für Geflüchtete. Doch vor einigen Monaten geriet etwas ins Rutschen. Oberbürgermeister Martin Horn schickte Ende September mit anderen Städten einen Brandbrief an die Landesregierung. Sein Text gipfelte in dem Satz: "Die Jugendämter der unterzeichnenden Stadt- und Landkreise stehen seit einem ganzen Jahr unter massivem Druck und gelangen dabei an die Grenzen der Machbarkeit."

In dem Brief kanalisierte sich die Wut, die seit Längerem in Freiburg gärt. Es ist nicht ganz einfach, Menschen dort zu finden, die darüber sprechen wollen. Einige bitten darum, ihren Namen nicht zu nennen, andere reden irgendwann doch offen. Die Beobachtungen zeichnen ein klares Bild. Das Bild einer Stadt, die eine harte Wende in der Migrationspolitik vollziehen will, weil mancher sich am Ende seiner Illusionen sieht. Und das Bild einer Stadt, die sich um ihre Idylle betrogen fühlt.

Wer als Flüchtling nach Freiburg kommt, sieht erst mal ein graues Gitter. Es umzäunt die sogenannte Landeserstaufnahmeeinrichtung, "Lea" genannt. Hier kommen keine minderjährigen Migranten an, die gesondert untergebracht werden, sondern Familienverbände, Paare – und viele einzelne Erwachsene. Aktuell sind etwa 900 Menschen da. Peter Kramer ist der Referatsleiter für Flüchtlingsaufnahme und macht einen Kontrollgang an diesem Oktobertag. Kramer hat zuvor als Förster gearbeitet. Sein Blick ist gerade, die Haut wettergegerbt, er grüßt jeden Mitarbeiter, den er trifft.

Kramer schließt eine Tür und spricht kurz mit einem der Ärzte der Einrichtung. Über 100 Röntgenaufnahmen mit einem passenden Gesundheitsantrag hätten sie allein gestern gemacht, erzählt der Arzt. Aber weil der Bund nur etwa 25 Anträge pro Tag bearbeiten kann, wächst der Stapel mit Akten in die Höhe. Und währenddessen müssen die Flüchtlinge warten. Kramer blickt aus dem Fenster, jetzt, tagsüber, sind nur wenige da. Viele kommen nur zum Essen und Schlafen in die Einrichtung. "Natürlich können die Geflüchteten kommen und gehen, wann sie wollen. Viele fahren mit dem Bus in die Stadt", sagt Kramer.

Wenn sie zurückkommen, versuchen viele, Gegenstände ins Haus zu schmuggeln: Feuerzeuge, Gasbrenner, Stangen, Messer. Kramer hat einen Metalldetektor am Eingang installieren lassen. Die Einrichtung beschäftigt 30 Sicherheitsmänner – ursprünglich sollten sie vor Anschlägen von außen schützen. Jetzt sorgen sie dafür, dass intern keine Tumulte ausbrechen. Immer wieder, so erzählen es Anwohner, gehen manche Migranten aufeinander los. "Die meisten sind immer noch sehr froh, endlich hier zu sein", sagt Kramer. Aber: "Natürlich gibt es auch Bewohner, die auffällig werden und sich nicht an die Spielregeln halten." Das sei nicht immer leicht, sagt Kramer. Er sieht ratlos aus.

Es sind nur wenige Geflüchtete, die in Freiburg kriminell werden. Doch diese Erfahrungen sind so einschneidend, dass sie die ganze Stadt verändern. Ein junger Mann, der 29 Jahre alt ist, sagt: "Die Grünen hier wollten lange nicht hinschauen. Deshalb war Maria L. für sie der erste große Bruch ihrer Illusionen."

Maria L. war eine 19-jährige Freiburgerin. 2016 wurde sie von einem jungen Mann nachts im Gebüsch vergewaltigt und dann getötet. Der Täter: ein Flüchtling aus Afghanistan, der zunächst behauptet hatte, minderjährig zu sein und später seine Angaben korrigierte. Der Name von Maria L. fällt immer wieder, wenn Freiburger über ihre veränderte Haltung erzählen. Manche beschreiben es als den Beginn des Kurswechsels. Als den Moment, nach dem nichts mehr war wie zuvor.

Und besonders in diesem Jahr schnellen die Deliktzahlen in die Höhe. Die Kriminalpolizei teilte mit, dass es einen "sprunghaften Anstieg" der Diebstähle in den Kaufhäusern gebe. Auch in der "Lea" kam es besonders 2023 zu Auseinandersetzungen. Am vorletzten Januarwochenende waren es dort fünf Polizeigroßeinsätze – innerhalb von 15 Stunden. "Es wird immer heftiger", sagt ein Einwohner.

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Es ist Abend geworden über Freiburg, die Sonne wärmt noch einmal mit voller Kraft die kleine Stadt, die Restaurants sind voll. Im "Haram", einem türkischen Imbiss, sind George Jogho und Michael Wirsching zum Essen verabredet. Jogho promoviert in Psychologie, Wirsching war lange ärztlicher Direktor am Uniklinikum Freiburg.

"Die Leute sind zunehmend frustriert"

Jogho stammt aus Syrien und kam vor zehn Jahren, als 20-Jähriger, in die Stadt. Die Offenheit Freiburgs habe ihm seine akademische Karriere ermöglicht, sagt er. Manchmal liest er nun in Facebook-Gruppen mit, wie andere Syrer Freiburg erleben. Er sagt: "Da brodelt es. Die haben früher die weltoffene CDU unter Merkel gewählt, hören jetzt aber, wie Friedrich Merz irgendwas Krudes vom Zahnersatz bei Flüchtlingen erzählt. Und Olaf Scholz macht halt keine Politik für Arbeiter, wofür die SPD mal stand. Diese Leute sind politisch ohne Heimat – und zunehmend frustriert."

Die beiden Männer bestellen ein Hefeweizen. Wirsching lehnt sich zurück und sagt: "Es ist gut hier. Aber man merkt schon, wie die Migranten mehr werden, wie auch an gewissen Plätzen von einigen Geflüchteten mehr gedealt wird." Seit Jahrzehnten lebt er in der Stadt. Er kennt die Zahlen, er kennt das Problem.

Und irgendwann, als das Bier gerade serviert wird, da sagt Jogho: "Es gab vorher eine Art Klassengesellschaft bei den Flüchtlingen. Oben standen die Syrer. Nun kamen die Ukrainer – und plötzlich waren sie ganz oben, wenn man das so ausdrücken will. Sie bekommen sofort Bürgergeld, eine gesetzliche Krankenversicherung, es gibt sogar eine Art eigenen Wohnungsmarkt für sie. Dass andere Flüchtlinge da mal über die Stränge schlagen, ist nicht zu entschuldigen. Aber es gärt in ihnen."

Es wirkt, als sei das Thema überall

Und die Stimmung in der Stadt, wie ist die mittlerweile? Jogho hält seine Hand vor sich in die Luft und lässt sie langsam Richtung Boden sinken: "Es wird schlechter." Gemeinsam engagieren sich Wirsching und Gonzales nun bei den "RefuDocs", einem Projekt, das Flüchtlingen psychologisch helfen soll. Damit manche von ihnen aufgefangen werden.

Auf dem Platz vor der Unibibliothek versammeln sich an diesem Abend die Studenten. Das Semester hat gerade begonnen, zwei junge Frauen unterhalten sich: "Du musst mit den Flüchtlingen wahnsinnig aufpassen im Umgang", sagt eine plötzlich. Es wirkt, als sei das Thema überall.

Die Freiburger Politik wirkt noch unentschlossen

Aber die Freiburger Politik ist noch unschlüssig, wie sie mit der neuen Stimmung in der Stadt umgehen will. Der sonst medienaffine Oberbürgermeister Martin Horn, der auch den Brandbrief an die Landesregierung schickte? Hat keine Zeit, meldet sein Büro. Sein Stellvertreter? Verreist in China. Und Horns Vorgänger? Zehn Minuten für ein Telefonat seien ihm unmöglich. Jetzt, wo die Stimmung kippt, wirkt die Politik wie eingemauert.

Nur eine will reden. Christine Buchheit ist grüne Bürgermeisterin, verantwortlich für Jugend- und Schulpolitik. Ihre Stimme klingt fest am Telefon, als sie sagt: "Es ist nicht ganz einfach: Teilweise müssen wir über die Subunternehmen über Nacht Busse organisieren, weil die Geflüchteten verteilt werden sollen. Dass es aktuell sehr viele sind, die nach Freiburg kommen, macht es natürlich nicht leichter."

Die Grünen in Freiburg beobachten nun, da alte Gewissheiten wanken, vor allem ihren Ministerpräsidenten und Parteifreund Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Beim Landesparteitag der Grünen sagte Kretschmann am letzten Wochenende: "Ich will uns nichts vormachen: Die Stimmung im Land ist aufgeheizt. Die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, schmilzt uns gerade weg bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein!" Man müsse konsequenter abschieben und diejenigen, die hierbleiben könnten, integrieren. Das koste schon genug Kraft, sagt Kretschmann dann noch. Er klingt wie ein Kapitän, der seine Mannschaft auf einen neuen Kurs einstimmt.

"Freiburg hat es immer gut gemeint"

An einem sonnigen Donnerstag Mitte Oktober in Stuttgart kommt Sigfried Lorek aus dem Plenarsaal des Landtags. Lorek ist in Freiburg aufgewachsen und heute Staatssekretär im baden-württembergischen Justizministerium. Bei ihm kommen die Beschwerden, die Brandbriefe an.

Lorek macht sich eine Cola Light auf und sagt: "Die Kommunen platzen aus allen Nähten, das muss man so sagen." Man helfe gern, aber die Kapazitäten seien "endlich". Lorek hat die Debatte genau verfolgt. Im Landtag sprechen an diesem Tag sämtliche Fraktionen über die Flüchtlingspolitik. Das Thema überlagert alles. Siegfried Lorek sagt über seine Heimat: "Freiburg hat es immer gut gemeint. Aber jetzt spüren die Bürgerinnen und Bürger auch dort, dass wir nicht immer mehr Menschen aufnehmen können."

Das Land und die Kommunen versuchen nun, neue Flüchtlingsunterkünfte in anderen Orten zu bauen. Doch die Erfahrungen aus Freiburg haben sich herumgesprochen. Vor wenigen Wochen fand im 100 Kilometer entfernten Burladingen eine Infoveranstaltung für ein neues Flüchtlingsheim statt. Der Protest war riesig. Einige Anwohner brüllten so lange, bis der örtliche Landrat von der Veranstaltung flüchten musste.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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