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Asyl-Notlage? Friedrich Merz muss Erklärung abliefern


Asylwende
Friedrich Merz in Erklärungs-Notlage


09.05.2025 - 14:13 UhrLesedauer: 5 Min.
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Friedrich Merz in Brüssel: "Wir werden weiter zurückweisen, aber das ist alles im Einklang mit europäischem Recht." (Quelle: IMAGO/Wiktor Dabkowski/imago)
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Die Bundesregierung will Migranten an der Grenze zurückweisen. Friedrich Merz dementiert, dass er dafür die Notlage erklärt. Doch so einfach ist es nicht. Er steckt in einem Dilemma.

Friedrich Merz will etwas klarstellen. Es habe da "einige Irritationen gegeben", sagt der neue Bundeskanzler bei seinem Antrittsbesuch bei der EU in Brüssel. "Es hat niemand in der Bundesregierung – auch ich persönlich nicht – eine Notlage ausgerufen." Es war die Meldung, die am Donnerstag in Berlin viel Aufregung ausgelöst hatte.

Deutschland kontrolliere seine Grenzen nun "intensiver", sagt Merz, und "wir werden auch weiter zurückweisen, aber das ist alles im Einklang mit europäischem Recht". Es gebe "keinen deutschen Alleingang", die Nachbarn seien "vollumfänglich informiert".

Klingt gut, nur ganz so einfach ist es nicht. Die "Irritationen", von denen Merz spricht, sind bei einigen Nachbarn mehr als das. Und der Begriff der "Notlage" kommt nicht aus dem Nichts, selbst wenn Merz jetzt offensichtlich unbedingt vermeiden will, dass es so genannt wird.

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Die Zurückweisung von Asylsuchenden "ab Tag eins" war Friedrich Merz' wichtigstes Wahlkampfversprechen. Schluss mit der Willkommenskultur. Doch nun ist Tag eins vorbei, und es stellt sich heraus: Das mit der "Asylwende" ist etwas komplizierter. Unabhängig davon, ob man die Zurückweisungen richtig oder falsch findet.

Schon an Tag drei seiner Amtszeit steckt Friedrich Merz damit: in einer Erklärungs-Notlage.

Wie das Asyl-Durcheinander beginnt

Um das Asyl-Durcheinander besser zu verstehen, muss man am Mittwoch beginnen, Tag eins der Regierung Merz. Während der neue Kanzler zu seiner ersten Auslandsreise nach Paris und Warschau unterwegs ist, um die europäischen Nachbarn zu umgarnen, beraumt der zuständige Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) in Berlin eine Pressekonferenz an, die sie verärgern wird.

Dobrindt will die Asylwende "ab Tag eins" verkünden, das ist sein wichtigster Auftrag in dieser Regierung. Doch dass nicht alles rund läuft, zeigt sich schon daran, dass sich die Pressekonferenz über eine Stunde lang verzögert. Als sie endlich beginnt, kündigt Dobrindt an, die Zahl der Zurückweisungen solle "nach und nach steigen". In der Migrationspolitik solle wieder "Klarheit, Konsequenz und Kontrolle" einkehren.

Ein Brief Dobrindts wird gestreut, in dem er die Bundespolizei anweist, dass "Schutzsuchenden aus einem sicheren Mitgliedstaat die Einreise verweigert werden kann". Das "kann" ist unterstrichen. Die Bundespolizei verstärkt ihre Kontrollen an den Grenzen. Und der Ärger geht los.

Der Ärger der anderen

Nachbarn Deutschlands melden sich zu Wort, auch öffentlich. Das Schweizer Justizministerium schreibt auf der Plattform X: "Systematische Zurückweisungen an der Grenze verstoßen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht". Die Behörden "prüfen gegebenenfalls Maßnahmen".

Merz bekommt den Missmut persönlich zu spüren, ebenso öffentlich auf seiner ersten Auslandsreise als Kanzler, mit der er eigentlich die Wertschätzung für Frankreich und Polen ausdrücken wollte. Beim ersten Stopp betont Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Wert von Schengen, also der offenen Binnengrenzen in Europa.

Polens Premierminister Donald Tusk wird anschließend noch wesentlich deutlicher. "Ich möchte jetzt nicht die Atmosphäre kaputtmachen, aber wir sind nicht dazu da, jetzt vorzuspielen, dass alles super ist", sagt er irgendwann, als er mit Merz vor der Presse steht. "Die schlimmste Konsequenz wäre, dass jetzt alle Kontrollen einführen." Und: "Europäische Lösungen dürfen nicht darin bestehen, dass ein Staat dem anderen Probleme bereitet." Grenzkontrollen, betont Tusk, gehörten an die Außengrenzen der EU.

Mit "Irritationen" ist das alles sehr wohlwollend umschrieben.

Plötzlich steht "Notlage" in der Überschrift

Einen Tag später heizt ein Bericht der "Welt" die Diskussion weiter an. "Merz lässt 'nationale Notlage' bei Migration ausrufen" lautet die Überschrift. Die Bundesregierung wolle Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU aktivieren. Und habe die Botschafter der Nachbarstaaten darüber im Innenministerium unterrichtet.

Der Artikel 72 sieht vor, dass Staaten zur "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit" von EU-Recht abweichen können. Merz selbst hatte im Wahlkampf von einer "nationalen Notlage" gesprochen und Scholz nach Solingen aufgefordert, sie im Zweifel zu erklären. Nach Details gefragt, verwies die Union damals regelmäßig auf diesen Artikel 72.

"Notlage" ist ein geläufiger Begriff für den Artikel 72, auch wenn das Wort dort streng genommen nicht erwähnt ist. Anders als im Wahlkampf aber, wo Merz den Begriff selbst verwendet hat, schreckt er seine Regierung nun plötzlich auf.

Ein leicht schräges Dementi

Kurz nachdem der "Welt"-Text in Berlin seine Kreise zieht, gibt es das erste Dementi. Der "Stern" berichtet, Regierungskreise dementierten die Ausrufung der nationalen Notlage bei der Migration. Man aktiviere auch nicht Artikel 72: "Das ist nicht zutreffend."

Damit aber ist die Verwirrung komplett. Denn vom Artikel 72 hatte Innenminister Alexander Dobrindt am Ende seiner Pressekonferenz am Mittwoch selbst gesprochen. Als er von einer Journalistin gefragt wird, auf welcher Rechtsgrundlage er handle, antwortet Dobrindt mit dem Artikel 18 des Asylgesetzes, der vorsieht, dass die Einreise verweigert werden kann, wenn ein anderer Staat zuständig ist. Und eben mit dem Artikel 72.

Ein zweites Dementi folgt, per "Bild"-Zeitung. "Der Bundeskanzler will keinen nationalen Notstand in Kraft setzen", wird der Regierungssprecher zitiert. Von Artikel 72 aber ist schon keine Rede mehr. Später am Abend wird klar, warum. Innenminister Dobrindt sitzt bei "Maybritt Illner" im Fernsehen – und bestätigt, was er schon am Vortag gesagt hatte. Er handelt eben doch auf Grundlage des Artikels 72. "Erklären" oder "ausrufen" oder "in Kraft setzen" muss man den Artikel gar nicht.

Die Notlage, die nicht so heißen soll

Die Bundesregierung begründet ihre Asylpolitik also mit einer Art Notlage, nämlich mit der "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit", wie es im Artikel 72 heißt. Nur soll das jetzt nicht mehr Notlage heißen.

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Man könnte das für unnötige Wortklauberei halten. Doch die Episode veranschaulicht das Dilemma, in das sich Friedrich Merz manövriert hat. Und das tatsächlich schwer aufzulösen ist.

Merz braucht einerseits das große Signal der Asylwende. Damit er seinen Wählern zeigen kann, dass er handelt. Aber auch, damit seine Strategie aufgehen kann. Denn die basiert unter anderem darauf, dass Schutzsuchende es gar nicht mehr versuchen an den deutschen Grenzen, weil sie wissen, dass es nicht weitergeht.

Zugleich aber hat Merz nun offenbar das Gefühl, aufpassen zu müssen, es rhetorisch nicht zu übertreiben. Wohl aus zwei Gründen: Die SPD trägt die harte Linie in der Asylpolitik in Teilen nur missmutig mit. Ein Wort wie Notlage macht es ihr noch schwerer, sie vor ihren Wählern zu rechtfertigen.

Und den anderen Grund hat Merz eben unter anderem in Warschau bei Donald Tusk zu spüren bekommen: einige Nachbarn sind nicht begeistert.

Stoppen die Gerichte Merz?

Das ist ein durchaus handfestes Problem für Friedrich Merz. Denn er will nicht nur die Asylwende, sondern Deutschland auch in Europa wieder zum Antreiber machen. Vorankommen bei Handel, Wirtschaft und Verteidigung. Wenn er die europäischen Partner verprellt, wird das schwierig.

Und ein weiteres Problem könnte für Friedrich Merz hinzukommen, zumindest mittelfristig. Die meisten Experten gehen davon aus, dass spätestens der Europäische Gerichtshof Klagen gegen die Begründung der Zurückweisungen mit dem Artikel 72 rechtgeben würden. Bisher jedenfalls sind alle Staaten mit dieser Begründung vor dem Gericht gescheitert.

Das hat in der Vergangenheit auch der Europarechtler Daniel Thym gesagt, der zugleich trotzdem erklärte, man könne es so zumindest versuchen. Im "Ronzheimer"-Podcast sagt Thym nun, es sei "sehr gut", dass "vulnerable Gruppen" wie Schwangere, Kinder und Kranke von den Zurückweisungen ausgenommen werden sollen. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass die Gerichte nicht sofort Nein sagten.

Und noch etwas könnte Friedrich Merz und der Bundesregierung helfen: Bis jemand gegen die Zurückweisungen klagt und ein Gericht entscheidet, können sie weitermachen – und das gewünschte Signal senden: Hier geht es nicht mehr weiter.

Verwendete Quellen

Quellen anzeigenSymbolbild nach unten

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