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Tagesanbruch: SPD-Krise – Es gibt nur einen sinnvollen Weg aus dem Dilemma


Was heute wichtig ist
Was die Politik von Jürgen Klopp lernen kann

MeinungVon Florian Wichert

Aktualisiert am 03.06.2019Lesedauer: 9 Min.
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Manager Jürgen Klopp und Kapitän Jordan Henderson bei ihrer Ankunft am John-Lennon-Flughafen in Liverpool.Vergrößern des Bildes
Manager Jürgen Klopp und Kapitän Jordan Henderson bei ihrer Ankunft am John-Lennon-Flughafen in Liverpool. (Quelle: Dave Howarth/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages – heute von mir als Stellvertreter von Florian Harms:

WAS WAR?

Was für ein Wochenende und was für eine Woche für die SPD. Erst die doppelte Wahlschlappe bei Europa- und Bremenwahl, dann die Sondersitzung der Bundestagsfraktion am vergangenen Mittwoch, bei der sich die Beteiligten selbst zerfleischten. Dann noch das üble Abschneiden im Forsa-Trendbarometer von RTL und n-tv, bei dem die SPD weitere fünf Prozentpunkte verlor und bei 12 Prozent landete. Gestern um 9.55 Uhr dann die Mail an die Mitglieder, in der Parteichefin Andrea Nahles ihren sofortigen Rückzug ankündigte – von allen Ämtern.

Am Montag werde sie ihr Amt als Parteivorsitzende niederlegen, am Dienstag das als Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Sogar ihr Bundestagsmandat werde sie zeitnah abgeben, wie eine Fraktionssprecherin verriet. Nachdem Nahles knapp 30 Jahre in der SPD auf das Amt an der Spitze hingearbeitet hatte, ist also nach nur einem Jahr alles vorbei. Was für ein Drama. Und was für Folgen.

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Für die einstige Volkspartei ist es der nächste Tiefpunkt. Nun wird über die Verrohung der Umgangsformen oder gar eine mögliche Frauenfeindlichkeit in der SPD diskutiert, die SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach ins Spiel brachte. Und auch die große Koalition ist durch diesen Schritt noch weiter in die Krise geschlittert und wackliger denn je. Nahles war eine Befürworterin der "Groko" und hatte die Partei darauf eingeschworen.

Die bange Frage, die heute zunächst in der SPD diskutiert werden wird: Was nun?

Die Probleme der SPD sind größer als Nahles', kommentierte unsere Politikchefin Tatjana Heid. Und die werden immer größer statt kleiner. Längst geht es um die Existenz der Sozialdemokratie. Sie liegt völlig am Boden. Und ist jetzt auch noch führungslos. Die ursprünglich für den morgigen Dienstag geplante Neuwahl des Fraktionsvorsitzes soll nicht stattfinden.

Das größte Problem: Wer auch immer die Nachfolge von Nahles an der Parteispitze antritt, hat nur drei Monate Zeit, um den nächsten Tiefschlag abzuwenden. Dann finden die wichtigen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen (je 1. September) und dann auch noch in Thüringen (27. Oktober) statt. Jetzt zu übernehmen, wäre ähnlich schwer, wie wenige Hundert Meter vor der Kollision mit dem Eisberg das Steuer der Titanic zu übernehmen.

Der frühere SPD-Chef Franz Müntefering nannte das Amt des SPD-Parteichefs das "schönste neben Papst". Das war 2004. Heute scheint dieses Amt ungefähr so angesehen und beliebt wie der Posten des Berliner Flughafenchefs oder des HSV-Trainers.

Einfacher ist zunächst die Regelung bezüglich der Führung der Fraktion. Hier wird der Kölner SPD-Abgeordnete und Fraktionsvize Rolf Mützenich als Dienstältester im Vorstand kommissarisch übernehmen.

Eine Interimslösung also – und genau so eine braucht es auch für den Parteivorsitz.

Der neue Vorsitz der Partei kann erst beim nächsten Parteitag gewählt werden. Der wiederum kann aufgrund von Einladungsfristen von Dezember frühestens auf September vorverlegt werden. Besser für die SPD wäre es, ihn nicht auf September vorzuverlegen, sondern frühestens auf November. Das wäre zum einen nach den Landtagswahlen und zum anderen nach der Halbzeit der Legislaturperiode. Genau dafür hatten SPD sowie CDU/CSU eine Revisionsklausel im Koalitionsvertrag vereinbart.

Bedeutet: Nach zehn Parteivorsitzenden seit 1999 könnte die SPD in den brisanten Monaten September und Oktober schon die nächste vielversprechende Personalie verbrennen. Stattdessen sollte sie mit der Interimslösung die inhaltliche Ausrichtung vorantreiben, an einer Vision arbeiten, an einem neuen Klimaprogramm und überhaupt einem Plan, wie sie ihre Existenz sichern und zukunftsfähig werden will. In dem Zuge könnte sie sich bis November auf eine geeignete Top-Nachfolge für Nahles geeinigt haben.

Die beste Kandidatin, um die Partei bis dahin in der Spur zu halten: Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die ohnehin die Favoritin für die kommissarische Übernahme dieser Aufgabe sein soll und alles dafür mitbringt. Sofern Dreyer da mitspielt. Zum einen ist sie mit ihrem Ministerpräsidentinnen-Amt eigentlich ausgelastet. Zum anderen leidet sie an Multipler Sklerose, weshalb sie bei längeren Wegstrecken auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Selbst übergangsweise ist der Job als Parteivorsitzende extrem kräfteraubend.

Fakt ist: Mit dieser Lösung wären selbst die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen noch nicht endgültig verloren.


Es gibt wenige Deutsche, die in der Welt wirklich verehrt werden. Angela Merkel gehört sicher dazu. Das bewies ihr Auftritt an der Elite-Hochschule Harvard vergangene Woche, als sie nicht nur die Ehrendoktorwürde verliehen bekam, sondern gefeiert wurde wie ein Popstar. Heidi Klum gilt weltweit als Star in der Modebranche. Dazu kennt jeder die Schauspielerin Diane Kruger. Oder Dirk Nowitzki. Der war bis zu seinem Karriereende vor wenigen Wochen ein weltweit gefeierter Basketballstar. Spätestens seit diesem Wochenende gehört Jürgen Klopp in diese Riege. Er hat die Champions League gewonnen, also den wichtigsten Pokal im Vereinsfußball. Und das mit einem Verein, in dessen Stadt der Fußball mehr Religion ist als Sport: Liverpool.

Ein einfacher Fußballtrainer also als Aushängeschild für Deutschland neben Merkel und Co.? Ganz sicher nicht.

Denn Klopp ist kein einfacher Fußballtrainer. Beim Teammanager-Modell in der Premier League ist ein Trainer ohnehin nicht nur wie in Deutschland für die Mannschaft zuständig, sondern für alles. In einer Zeit, in der ein Verein wie Liverpool 514 Millionen Euro Umsatz macht, zwei Milliarden Euro wert und gnadenlos vom sportlichen Erfolg abhängig ist, ist Klopps Position eher mit der eines CEOs zu vergleichen, wie es beispielsweise das "Manager Magazin" im April tat. Ein Manager und Boss, der eine Verantwortung trägt, die viele erdrücken würde. Eine Führungsfigur, von der nicht nur Wirtschaftsbosse lernen können – sondern insbesondere auch Politiker, die in Deutschland gerade reihenweise an einem Problem scheitern: Menschenführung. Das jüngste Beispiel: Andrea Nahles bei der SPD.

Der unglaublich erfolgreichen Arbeit von Klopp liegen fünf Prinzipien zu Grunde, die vielen Verantwortlichen aus anderen Branchen weiterhelfen würden:

  • Andere glänzen lassen

Bei der Pokalübergabe nach dem Champions-League-Finale hielt Klopp sich so lange auf dem Siegerpodest im Hintergrund, bis all seine Spieler den Cup einmal hoch gehalten hatten. Später schwärmte er von Torwart Alisson Becker, der maßgeblich am Triumph beteiligt war: "Er lässt schwierige Dinge einfach aussehen und bekommt deshalb viel zu wenig Lob." Nachdem Liverpool im Halbfinale ein 0:3 durch ein 4:0 im Rückspiel gegen Barcelona umgebogen hatte, nannte er seine Spieler "Mentalitätsmonster". Das sind nur drei Beispiele, die belegen: Klopp stellt seine Spieler und sein Team bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund. Er tritt zurück und lässt sie glänzen. Wohl wissend, dass jedes einzelne Lob am Ende auf ihn zurückfällt. Er ist schließlich der Architekt des Erfolges. Glänzen alle um ihn herum, glänzt er umso mehr.

  • Sich selbst vertrauen

Seit 2012 hatte Klopp sechs Finalspiele verloren – und keines gewonnen. Ein echter "Finalfluch", wie Medien und Fußballfans feststellten. Kann Klopp keine Titel? Die Frage geisterte längst durch die Branche. Trotz früherer Erfolge in Deutschland haftete Klopp plötzlich ein Verlierer-Image an. Bei einer weiteren Niederlage am vergangenen Samstag wäre er das wohl kaum wieder losgeworden. Ein Grund für Selbstzweifel? Nicht für Klopp. Am Samstag sagte er: "Meine Familie und andere Menschen haben mehr unter den Niederlagen gelitten als ich. Ich wusste schließlich, dass ich zurückkomme." Entsprechend locker war Klopp selbst am Finaltag, als er noch entspannt einen Mittagsschlaf machte. Über Jahre hielt er an seiner Philosophie fest – trotz gelegentlicher Misserfolge.

  • Anderen vertrauen

Als Manager von Liverpool trägt Klopp die Verantwortung für Spielertransfers, Training, Entwicklung und Aufstellung der Mannschaft. Was er beeinflusst, geht allerdings weit darüber hinaus. Sponsoren, Investoren oder Zuschauer kommen für einen wie Klopp ins Stadion beziehungsweise zum Verein. Alles selbst in die Hand zu nehmen, wäre utopisch. Deshalb hat Klopp diverse Leute, die eigenverantwortlich arbeiten – und sein vollstes Vertrauen genießen. Ein Fitnessguru, eine Ernährungsspezialistin, ein Videoanalyst und viele mehr. Nur so kann es funktionieren.

  • Sich selbst nicht zu ernst nehmen

Klopp macht Sprüche und Witze über andere – besonders gern aber über sich selbst. Auf seinen Finalfluch angesprochen scherzte er, er sei "vielleicht der Weltrekordhalter im Gewinnen von Halbfinals." Über seine fußballerischen Qualitäten sagte er einmal: "Ich hatte das Talent für die Landesliga und den Kopf für die Bundesliga. Herausgekommen ist die zweite Liga." Selbstironie kommt an – bei Medien, Fans und seinen Mitarbeitern.

  • Charakter in den Vordergrund stellen

Bei der Wahl seiner Mitarbeiter und Spieler sind Klopp Fähigkeiten wichtig – das Entscheidende sind aber der Charakter und die Teamfähigkeit. Klopp sagte einst über seinen Umgang mit Menschen: "Ich habe dieses Helfersyndrom. Ich interessiere mich wirklich für die Leute und fühle mich für fast alles verantwortlich." Das kommt an bei Spielern und Mitarbeitern. Die betonen regelmäßig, dass sie für ihn "durchs Feuer gehen würden."

Ganz sicher: Mit seinen Prinzipien hätte Klopp auch in anderen Branchen Erfolg – auch wenn er das selbst nicht zugeben würde. Und Führungskräfte hätten in anderen Branchen mehr Erfolg – mit seinen Prinzipien.


WAS STEHT AN?

Erinnern Sie sich noch an die eigenartige Szene, als sich Donald Trump beim Abschreiten der Ehrengarde vordrängelte, statt der Queen den Vortritt zu lassen? Knapp ein Jahr ist es her, dass der US-Präsident bei einem Arbeitsbesuch in England für Aufruhr sorgte. Im vergangenen Juli brüskierte er auch noch die britische Premierministerin Theresa May mit einem Interview in der Zeitung "The Sun", das kurz nach einem festlichen Gala-Dinner mit May erschien. Er kritisierte darin Mays Brexit-Kurs und lobte ihren Erzrivalen Boris Johnson.

Von heute an bis Mittwoch sind Trump und die First Lady Melania erneut zu Gast in Großbritannien. Diesmal handelt es sich um einen Staatsbesuch. Der Unterschied? Ein Staatsbesuch umfasst das volle Programm des Königshauses: Einen feierlichen Empfang im Buckingham-Palast, Mittagessen mit der Queen, Besuch der Westminster Abbey, Tee mit Prinz Charles, Staatsbankett im Palast. Und eigentlich auch eine traditionelle Fahrt in goldverzierter Kutsche auf der Londoner Prachtstraße "The Mall". Eigentlich.

Genau die hatte sich Trump unbedingt gewünscht. Stattfinden wird sie laut Buckingham Palace nicht. Grund sollen Sicherheitsbedenken und zu erwartende Proteste sein. Trumps Besuch ist noch umstrittener als beim letzten Mal. In einer Petition sprachen sich Millionen Briten gegen den Staatsbesuch aus. Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn schlug eine Einladung zum Staatsbankett mit Trump aus Protest gegen dessen internationale Politik aus.

Ausländische Staatsgäste mischen sich eigentlich nicht in Personalangelegenheiten anderer Länder ein. Trump schon. Auch diesmal hat er kurz vor seinem Besuch "The Sun" ein Interview gegeben. Wieder hat er May kritisiert und wieder hat er Johnson als möglichen May-Nachfolger in höchsten Tönen gelobt. Da freuen sie sich in Großbritannien ...


Umweltkiller E-Auto? Es stimmt natürlich, dass Batteriefahrzeuge keine Abgase erzeugen. Zur Wahrheit gehört allerdings noch eine andere Seite – die das strahlende Bild vom sauberen Antrieb ziemlich eintrübt. Heute Abend um 22.45 Uhr sendet die ARD eine Doku mit dem Titel "Kann das Elektro-Auto die Umwelt retten?". Mein Kollege Markus Abrahamczyk hat sie bereits gesehen.


Die schwedische Staatsanwaltschaft hat am 20. Mai Haftbefehl gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange wegen des Verdachts der Vergewaltigung beantragt. Heute wird verhandelt. Wenn das Bezirksgericht von Uppsala den Weg dafür freimacht, will die Staatsanwaltschaft einen europäischen Haftbefehl ausstellen, um eine Auslieferung Assanges an Schweden zu erreichen.


Nach der Bremen-Wahl wird nun heute zum ersten Mal über zwei mögliche Dreierbündnisse verhandelt: Jamaika und Rot-Grün-Rot. Bisher ist nur klar: Das wird bunt.


WAS LESEN ODER ANSCHAUEN?

Wenn FDP-Chef Christian Lindner über die Grünen spricht, sagt er Sätze wie: "Sie wollen den Petrolheads das Auto nehmen und den Fleischliebhabern das Steak." Die FDP auf der einen und die Grünen auf der anderen Seite – sie scheinen in zwei verschiedenen Welten zu leben, gerade in Bezug auf die Klimapolitik.

Was passiert da wohl, wenn man die beiden Vertreter der beiden Parteien zusammenbringt, die den ganzen Tag mit dem Klimaprogramm ihrer Parteien zu tun haben und es als klimapolitische Sprecher ihrer Partei erklären müssen? Schlagen sie sich etwa die Köpfe ein? Jonas Schaible hat Lukas Köhler (FDP) und Lisa Badum (Grüne) zu einem Streitgespräch getroffen und festgestellt: Die beiden kennen sich gut, duzen sich freundlich und liegen in vielen Punkten gar nicht so weit auseinander wie gedacht. Trotzdem ist eine spannende und aufschlussreiche Diskussion jenseits des SPD-Bebens entstanden, wie man das Klima am besten retten kann.


WAS AMÜSIERT MICH?

Schade, dass Jürgen Klopp wohl noch einige Jahre in England als Trainer des FC Liverpool arbeiten wird. Damit die Zeit schneller vorbeigeht, bis er irgendwann mal wieder in Deutschland arbeitet, gibt es hier eine Reihe lustiger Sprüche und skurriler Szenen von Pressekonferenzen mit Klopp und dem früheren Dortmunder Pressesprecher Josef Schneck aus BVB-Zeiten. Viel Spaß!

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.

Ihr

Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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