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Bundestagswahlkampf 2021: Weniger twittern, mehr denken!


Tagesanbruch
Die Schlacht der Ichlinge

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 17.06.2021Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Die Publizistin Carolin Emcke wurde von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak per Tweet attackiert.Vergrößern des Bildes
Die Publizistin Carolin Emcke wurde von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak per Tweet attackiert. (Quelle: Mohssen Assanimoghaddam/Kay Nietfeld/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

sprechen wir heute endlich mal über das Wichtigste. Sprechen wir über mich. Genauer gesagt: meine Meinung. Die ist nämlich kolossal wichtig. Wobei Sie sich jetzt bitte nicht zwangsläufig den Florian Harms vorstellen, dessen Traktate Sie üblicherweise allmorgendlich an dieser Stelle finden. Sondern stattdessen einfach einen typischen Vertreter der Berliner Blase. Also jenes politisch-medialen Komplexes, der sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt und dessen Bewunderung für die eigene Bedeutung höchstens von der Gier nach noch mehr Geltung übertroffen wird. Tauchen wir ein in die Blase der Ichlinge und schauen wir mal, was sich dort so tut.

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Die wichtigste Regel in der Blase lautet: Trompete zu jedem Ereignis, und sei es noch so piefig, im Nu etwas in die Welt hinaus! Erst recht in Wahlkampfzeiten! Früher trötete man in die Mikrofone von Fernseh- oder Radiosendern, heute zückt man das Smartphone und tippt ein paar hastige Sätze in die Twitter-App. Abfeuern – und schon dröhnt die Parole durch die sozialen Netze. Nachdenken oder Reflexion sind dabei hinderlich, es zählt der erste Gedanke, denn nur wer schnell ist, erntet einen Haufen Likes, Retweets und den heißbegehrten Twitter-Ruhm.

Und so werfen sie sich den lieben langen Tag in die virtuellen Schlachten: die Generalsekretäre und die Taschenträger der Parteivorsitzenden, die Abgeordneten und die Referenten in Ministerien, die Hauptstadtjournalisten und Oberhauptstadtjournalisten, die digitalen Frontkämpfer und die Mitläufer, all die großen und kleinen Lichter in der Blase, und lassen sich von ihresgleichen entweder beklatschen oder beschimpfen. Schon ein nichtiger Anlass reicht für einen Shit- oder Candystorm, irgendwas ist ja immer. Und allzu oft geraten die Fakten dabei unter die Räder. Es zählt das Bumm, nicht das Warum.

So kommt es beinahe täglich zu mal kleineren, mal größeren Unfällen. Linken-Abgeordnete echauffierten sich über die Wahl eines AfD-Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten im thüringischen Landtag – bis sie feststellen mussten, dass auch ihr Boss Bodo Ramelow für den AfDler gestimmt hatte. CSU-Digitalfee Dorothee Bär gratulierte FDP-Mann Thomas Kemmerich, der nur dank Stimmen der rechtsradikalen Höcke-AfD zum (Kurzzeit-)Ministerpräsidenten gewählt wurde – und löschte ihren Tweet eilig, als sie Feuer aus den eigenen Reihen bekam. Bayerns Fußballsachverständiger Markus Söder rannte mit einem als anstößig empfundenen Tweet gegen den damaligen Nationalkicker Mesut Özil ins virtuelle Abseits. Die Klimaaktivisten von "Fridays for Future" beschwerten sich über zögerliche Großeltern, dabei seien die "doch eh bald nicht mehr dabei" – zack: Shitstorm. Das sind nur vier von vielen, vielen Beispielen.

"Was tausend Wichte sagen, bekommt Gewicht", hat der österreichische Dichter Johann Nepomuk Nestroy notiert, und was im 19. Jahrhundert galt, gilt im 21. erst recht: In einer permanenten Kakofonie plappern die Wichtigheimer durcheinander, kommentieren dieses und behaupten jenes, und natürlich hängen ihnen Hunderte von Journalisten und Hunderttausende von anderen Bürgern dabei an den Lippen, pardon, Tippfingern. Das hat dazu geführt, dass Politiker heutzutage keine Pressemitteilungen mehr verschicken, sondern stattdessen pausenlos Parolen twittern – die dann wiederum in den Fernsehnachrichten und im Radio verlesen, in den Zeitungen und auf den Nachrichten-Websites breitgewalzt werden. Dort sehen, hören und lesen sie noch mehr Leute, die dann wiederum auf Twitter, Facebook oder Irgendwasbook ihren Senf dazugeben. So schließt sich der selbstreferenzielle Kreis und dreht sich immerfort und immerzu und keiner hat mehr seine Ruh. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir kommt das Ganze ziemlich beschränkt vor. Aber vielleicht bin ich einfach nicht wichtig genug.

Diese Woche allerdings habe auch ich aufgehorcht. Es scheint nämlich in der Berliner Blase tatsächlich doch so etwas wie Selbstreflexion zu geben, wie die Diskussion über Carolin Emcke zeigt. Die Publizistin hatte auf dem Grünen-Parteitag ein Grußwort gehalten. Dieses war intellektuell so anspruchsvoll, dass die "Bild"-Zeitungsleute und der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sie gründlich missverstanden (oder missverstehen wollten) und einen Antisemitismus-Skandal witterten: Emcke habe Klimaforscher mit verfolgten Juden verglichen. Prompt tobte der Shitstorm durch die virtuelle Welt und den Blätterwald. Drei Tage lang ging das so.

Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches: Nach einem Telefonat mit Frau Emcke gestand Herr Ziemiak öffentlich einen Fehler ein und gelobte Besserung: "Eine differenzierte Auseinandersetzung erfordert bei diesem Thema meistens mehr Raum als einen Tweet – das nehme ich mir zu Herzen", tippte er an seine 48.000 Follower. Ein Spitzenpolitiker, der seine Fehlbarkeit einsieht und Konsequenzen daraus zieht? Das ist in der Berliner Blase ungefähr so selten wie ein Mensch, der freiwillig sein Handy abgibt. Ich fand das gut. Das darf gern Schule machen. Noch besser wäre es nur, würden all die Trompeter künftig erst nachdenken, bevor sie Schräges in die Welt hinauströten. Und damit dieser kleine Besinnungsaufsatz noch etwas glaubwürdiger wird, richten wir diesen Wunsch zum Schluss auch an den Autor dieser Zeilen. Dem schadet es nämlich auch nicht, wenn er sich gelegentlich etwas weniger wichtig nimmt.


Ohne Freiheit keine Feier

Wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier heute nach Warschau reist, um den 30. Jahrestag des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags zu begehen, stehen ein Gespräch mit seinem Amtskollegen Andrzej Duda und eine Diskussion "mit deutschen und polnischen Vertretern der Zivilgesellschaft" auf dem Programm. Auch eine "Pressebegegnung" ist vorgesehen. Hinter diesem harmlos klingenden Wort verbirgt sich ein Problem. In der "Süddeutschen Zeitung" schildert Bartosz T. Wieliński, stellvertretender Chefredakteur der größten polnischen Qualitätszeitung "Gazeta Wyborcza", wie solche "Pressebegegnungen" des polnischen Staatsoberhaupts aussehen: "Die Journalisten dürfen zuhören und weitergeben, was er sagt. Nachfragen? Kritische sogar? Von vornherein ausgeschlossen." Dass die seit sechs Jahren regierende national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) alles tut, um die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu zerlegen und die öffentlich-rechtlichen Medien zu Propagandasendern zu kastrieren, kann Herr Steinmeier nicht ignorieren. Er wird deutlich machen müssen, dass es ohne Achtung von Demokratie und Menschenrechten keine gute Nachbarschaft geben kann – und auch nichts zu feiern.

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Zweimal DDR-Geschichte

Zum Gedenken an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, bei dem es in der DDR zu einer Welle von Streiks, Demonstrationen und Protesten kam, die dann von Sowjet-Panzern niedergewalzt wurden, gibt es heute in Berlin mehrere Veranstaltungen. Auf dem Friedhof an der Seestraße werden Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) Kränze am Mahnmal für die Opfer niederlegen und Ansprachen halten. In Sachen Aufarbeitung der DDR-Geschichte gibt es allerdings noch einen weiteren bemerkenswerten Termin. Ausgerechnet heute wird Roland Jahn als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen verabschiedet – und seine Behörde endgültig aufgelöst. Millionen Akten der DDR-Staatssicherheit werden künftig vom Bundesarchiv verwaltet; die 1.300 Mitarbeiter der bisherigen Behörde arbeiten unter dem Dach des Bundesarchivs weiter. Zum Festakt heute Abend wird auch Alt-Bundespräsident Joachim Gauck erwartet, der der Behörde als erster Leiter den vorübergehenden Titel Gauck-Behörde verschafft hatte. Seine Nachfolgerin Marianne Birthler wiederum prangerte das Ende der Dienststelle scharf an. Künftig soll Evelyn Zupke als Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur nicht nur die Stasi-Akten, sondern die gesamte SED-Diktatur in den Blick nehmen. Es bleibt viel zu tun.


Was lesen?

Greenpeace war mal eine mutige Organisation mit klarem Kompass. Heute ist es eine destruktive Chaostruppe. Deshalb lautet die Überschrift über dem Kommentar meines Kollegen Florian Schmidt zur verunglückten Aktion beim EM-Spiel Deutschland gegen Frankreich völlig zu Recht: "Die dämlichste Umweltschutzaktion des Jahres".


Wie geht es nun weiter mit der deutschen Nationalmannschaft, wie kann sie sich für das wichtige Spiel gegen Portugal aufrichten? Kaum jemand könnte das kundiger erklären als unser Kolumnist Berti Vogts.



Das Treffen von Joe Biden und Wladimir Putin wird allseits als Erfolg gewertet. Doch was hat die Körpersprache der beiden Männer verraten? Meine Kollegin Rahel Zahlmann hat es sich von dem Kommunikationsexperten Tilman Billing erklären lassen.


Haben Sie in den vergangenen Wochen mal was von Markus Söder gehört? Eben. Und das ist kein Zufall, berichtet unser Reporter Tim Kummert.


Was amüsiert mich?

Bei der deutschen Elf geht noch was!

Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Tag. Morgen schreibt meine Kollegin Camilla Kohrs für Sie; ich melde mich am Samstag wieder, gemeinsam mit Marc Krüger.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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