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Afghanistan: Der überstürzte Abzug ist ein politisches Verbrechen


Tagesanbruch
Ein politisches Verbrechen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.08.2021Lesedauer: 7 Min.
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Rauch steigt neben der US-Botschaft in Kabul auf.Vergrößern des Bildes
Rauch steigt neben der US-Botschaft in Kabul auf. (Quelle: Rahmat Gul/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Hybris kann auf vielen Feldern böse enden, aber nirgendwo ist sie so schlimm wie auf dem Schlachtfeld. Wenn Politiker und Generäle ihren Willen über das Machbare stellen und ihr Selbstvertrauen größer ist als ihr Respekt vor der Realität, können die Folgen für Millionen Menschen verheerend sein. Besonders tragisch ist die Hybris, wenn sie sich aus eigentlich hehren Motiven speist – oder es zumindest vorgibt.

Demokratische Staaten der westlichen Welt haben in den vergangenen 20 Jahren an verschiedenen Stellen auf dem Globus militärisch eingegriffen. Sie gaben dann meistens vor, Terroristen zu bekämpfen oder Tyrannen einzuhegen, bedrohte Bevölkerungen zu schützen oder ihnen die Segnungen der Demokratie zu bringen. Stattdessen brachten sie ihnen allzu oft Chaos, Leid und Tod.

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In Libyen bombten Nato-Jets das Gaddafi-Regime weg – zogen sich dann aber zurück und überließen das Land den Warlords. Die Politiker in Washington, Paris, London und Berlin sahen zu, wie Milizen, Schlepperbanden, russische und türkische Söldner das ölreichste Land am Mittelmeer in eine Räuberhöhle verwandelten. Nun herrschen Brutalität, Willkür und Entbehrung, vielen Menschen geht es noch schlechter als in den Gaddafi-Jahren.

Im Irak stürzte eine US-geführte Militärallianz aus erlogenen Gründen die Saddam-Diktatur, entließ Polizisten, Soldaten und Beamte und nahm ihnen so die Existenzgrundlage. Viele von ihnen schlossen sich der Miliz "Islamischer Staat" an, gründeten ein Gemeinwesen mit Steinzeitmoral und begannen, ihre Heimat und Europa mit Terroranschlägen zu überziehen. Zigtausende Iraker flohen vor dem Chaos ins Nachbarland Syrien – was dort die ohnehin angespannte Wirtschaftslage verschärfte und zum Ausbruch des Bürgerkriegs beitrug. Die von den Scharmützeln mit Aufständischen und der eigenen Erfolglosigkeit zermürbte US-Regierung zog den Großteil ihrer Kampftruppen ab und überließ den Vorderen Orient seinem Schicksal. Immer neue Kämpfe, Terroranschläge und Armut stürzten Millionen Menschen ins Elend. Wer konnte, floh ins Ausland, Glückliche schafften es bis Europa.

Und dann ist da Afghanistan, das in diesen Stunden für bittere Schlagzeilen sorgt. Rasant erobern die Taliban das gesamte Land, preschen auf Motorrädern und Pick-ups von einer Stadt zur nächsten; treffen bei den mutlosen Regierungssoldaten kaum auf Widerstand. Gestern sind sie in die Hauptstadt Kabul eingedrungen, der Präsidentendarsteller Aschraf Ghani ist geflohen, der klägliche Rest seiner Marionettenregierung will den Taliban nun geben, was sie ohnehin schon haben: die Macht. Aus der US-Botschaft jagen die Evakuierungshubschrauber zum Flughafen, die Deutschen beeilen sich hinterherzurasen. Auf dem Airport drängen Menschenmassen in die letzten Transportmaschinen (hier zu sehen), und in Berlin schwadronieren ein überforderter Außenminister und eine überforderte Verteidigungsministerin irgendwas von "schneller Unterstützung" und "geordneten Hilfsmaßnahmen".

Einem Plan gehorcht die Flucht Hals über Kopf nicht. Es heißt nur noch: raus, nur raus! Nicht von ungefähr erinnert das Chaos an die Evakuierung der amerikanischen Botschaft in Saigon nach dem verlorenen Vietnamkrieg 1975. Auf Videos ist zu sehen, wie bärtige Talibankämpfer in Kabuls Straßen ausschwärmen, wie sie Regierungskommandeure zwingen, die Abdankung zu unterschreiben, wie sie Häuser filzen. Mit Leuten, die den ausländischen Truppen geholfen haben, wollen sie erklärtermaßen kurzen Prozess machen. "Sie werden mir den Kopf abschneiden", fürchtet Ahmad Samim Jabari, der früher für die Bundeswehr gearbeitet hat und dann von den Deutschen im Stich gelassen wurde. Im Interview mit meinen Kollegen Carl Exner, Sandra Sperling, und Arno Wölk fleht er die Bundesregierung um Hilfe an.

Video | Wie ein Helfer der Bundeswehr um sein Leben bangt
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Quelle: t-online

"Die Taliban wollen Gericht halten: über die Söldner des Westens, auch wenn sie nur Koch oder Fahrer waren. Über die Frauen, die Richterinnen, Professorinnen, Studentinnen oder auch jene, die nur Putzfrauen waren. Über die politische Elite von Gnaden des Westens", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl, der die Lage in Afghanistan seit Jahren beobachtet. "Vor 20 Jahren schwor Amerika Rache für die Anschläge am 11. September. Jetzt schwören die Taliban Rache für die Vertreibung von der Macht und wollen auslöschen, was zwischendurch entstanden ist." Zwischendurch: das war die Zeit, als die westlichen Strategen dachten, sie könnten in Afghanistan nicht nur den Terror besiegen, sondern das Land auch demokratisieren, einen Rechtsstaat errichten, die Stämme auf Loyalität zu einer Einheitsregierung einschwören, und sei sie noch so korrupt.

Hybris ist teuer. Mehr als eine Billion Dollar hat der Einsatz in Afghanistan die Amerikaner gekostet, für die Deutschen beläuft sich die Rechnung auf mehr als zwölf Milliarden Euro. Rund 3.600 Soldaten der westlichen Allianz ließen ihr Leben, die Zahl der zivilen Opfer liegt mindestens um das Zehnfache höher. Noch viel mehr Menschen trugen Verletzungen an Leib und Seele davon. All diese Opfer waren vergebens – das ist das bittere Fazit, das die konfusen Außenpolitiker in Washington, Berlin und London der Welt nun zumuten. Binnen Tagen lassen sie das Kartenhaus zusammenbrechen, das sie am Hindukusch errichtet haben: raus, nur raus, egal, was kommt! Ohne Plan, ohne Weitblick, ohne Rücksicht. Der überstürzte Abzug aus Afghanistan ist ein politisches Verbrechen an all jenen Menschen vor Ort, die für die westlichen Soldaten und Hilfsorganisationen gearbeitet haben und nun den Tod fürchten müssen. Er ist auch ein Verbrechen an all jenen, die in den westlichen Besatzern die Hoffnung auf ein halbwegs geordnetes Leben ohne religiösen Zwang sahen. An Frauen und Mädchen, die ein Leben in Würde führen wollen, statt sich knechten zu lassen. An Oppositionellen und Freigeistern, denen nun das Schlimmste droht.

US-Präsident Joe Biden hat den Abzug nicht initiiert, das hat sein Vorgänger Donald Trump getan. Aber er hat ihn kaltschnäuzig durchgezogen, ohne einen Plan für die Zeit danach zu haben. Er will sich voll und ganz auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren, da hätte eine Fortsetzung des Afghanistan-Abenteuers nur abgelenkt und Ressourcen gebunden. Strategisch ist das logisch, doch der Zynismus, mit dem er die Schäden seines Handelns in Kauf nimmt, ist unerträglich – und die im Schlepptau der Amerikaner zappelnden deutschen Amateurstrategen tragen eine Mitschuld daran.

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Was soll der Westen, was soll die deutsche Außenpolitik aus diesem Desaster lernen? Wie kann man seine Interessen verteidigen, Terroristen ausschalten und Diktatoren isolieren, ohne dabei militärisch, finanziell und moralisch vollkommen zu versagen: Wäre das nicht ein dringenderes Thema für den Bundestagswahlkampf als die Pipifaxdebatten über dumme Plakate, Gendersternchen und peinliche Lacher? Manchmal fragt man sich wirklich, ob es uns hierzulande zu gut geht, sodass wir vor lauter Nebensächlichkeiten die wahren Probleme nicht mehr sehen.


Nach dem Beben der Sturm

Das Erdbeben am Wochenende hat auf Haiti Tod und Zerstörung hinterlassen. Fast 1.300 Leichen wurden schon geborgen, Hunderte weitere Menschen werden noch vermisst, Tausende wurden verletzt. Die Katastrophe trifft den bitterarmen Karibikstaat in doppelter Hinsicht hart: Zum einen hat er sich bis heute nicht von den Folgen des verheerenden Bebens vor elf Jahren erholt, bei dem 220.000 Menschen starben. Zum anderen ist die politische Lage äußerst angespannt: Anfang Juli wurde Staatspräsident Jovenel Moïse in seiner Residenz ermordet. Als sei das alles noch nicht schlimm genug, droht nun weiteres Ungemach: Der Tropensturm "Grace" nähert sich Haiti. Er soll heute Abend mit heftigen Regenfällen auf Land treffen und dürfte die Rettung von Verschütteten erschweren. Immerhin ist mittlerweile die internationale Hilfe angelaufen.


Beginn der Bundestagswahl

Von heute an werden die Briefwahlunterlagen für die Bundestagswahl verschickt – und in Zeiten der Pandemie rechnen Meinungsforscher damit, dass so viele Menschen wie noch nie per Post abstimmen werden. Wie ernst auch die Parteien diesen Trend nehmen, zeigt sich beispielsweise an den großen Plakaten, auf denen SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz den Wählern den Umschlag für die Briefwahl entgegenhält. Auch die Grünen haben auf ihre Wahlwerbung den Appell "Briefwahl jetzt!" gedruckt.

Tatsächlich hat die Briefwahl vielfältige Auswirkungen, auch auf den Wahlkampf: Wenn bis zu 40 Prozent der Wahlberechtigten schon Wochen vor dem eigentlichen Termin am 26. September abstimmen, sind sie für den früher wichtigen 72-Stunden-Schlussspurt – und möglicherweise auch das TV-Triell am 12. September bei ARD und ZDF – gar nicht mehr zu erreichen. Auch die Demoskopen stehen vor kniffligen Fragen: Dürfen sie Auskünfte über bereits abgegebene Stimmen überhaupt in die berühmte Sonntagsfrage einberechnen? Der Bundeswahlleiter beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein. So oder so zeigen die jüngsten Umfragen einen bemerkenswerten Trend – und stellen zwei erfolgsverwöhnte Parteien vor ein ernstes Problem, wie unser Reporter Johannes Bebermeier berichtet.


Jan Hofers RTL-Debüt

RTL gibt Gas: Zuletzt machte der Privatsender mit der Übernahme des Hamburger Großverlags Gruner + Jahr Schlagzeilen, aber auch schon zuvor bemühte sich der Kölner Halligalli-Fernsehkanal um ein seriöseres Image: Er trennte sich von Lästermaul Dieter Bohlen und verpflichtete den Ex-"Tagesschau"-Sprecher Jan Hofer sowie "Tagesthemen"-Moderatorin Pinar Atalay für ein neues Nachrichtenformat. Heute Abend können Sie auf dem Sofa überprüfen, ob daraus tatsächlich eine Konkurrenz für ARD und ZDF erwächst: Um 22.15 Uhr gibt Herr Hofer sein Debüt als RTL-Anchorman, als Gast ist Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock angekündigt.


Was lesen?

Was wird nun aus Afghanistan? Kaum jemand kennt das Land so gut wie der Autor Ahmed Rashid. Im Gespräch mit unserem Kolumnisten Gerhard Spörl hat er düstere Prophezeiungen gemacht.


Er traf und traf und traf: Kein anderer deutscher Fußballspieler haute so viele Bälle ins Netz wie Gerd Müller, der daraufhin den zweifelhaften Titel "Bomber der Nation" verpasst bekam. Seine Karriere auf dem Platz war spektakulär, abseits des Platzes verlief sie zeitweise tragisch. Nun ist er gestorben – und hat etwas Besonderes hinterlassen, wie unser Autor Patrick Mayer schreibt.


Wie kam es zu der üblen Plakatkampagne gegen die Grünen – und was könnte sich künftig im Wahlkampf ändern? Unsere Rechercheure lenken den Blick auf Hintergründe und Probleme der umstrittenen Schmähkampagne.


Was amüsiert mich?

Wie viele Menschen sind denn nun schon geimpft? Toll, dass wenigstens einer noch den Überblick hat.

Ich wünsche Ihnen einen hellsichtigen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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