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Bundestagswahl 2021: Außenpolitisch drohen existenzielle Gefahren


Tagesanbruch
Das wird zur existenziellen Gefahr

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 20.09.2021Lesedauer: 8 Min.
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Chinesische Fregatte bei einem gemeinsamen Manöver mit Russland.Vergrößern des Bildes
Chinesische Fregatte bei einem gemeinsamen Manöver mit Russland. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wieder ein Triell, das dritte inzwischen, wieder anderthalb Stunden lang die bekannten Fragen und die leidlich bekannten Antworten der drei Kanzlerkandidaten. Für ein paar Erkenntnisse reichte der gestrige Abend trotzdem:

Olaf Scholz: Der Umfragekönig von der SPD punktete bei den Themen Mindestlohn und Rente und erklärte, wie er 13 Millionen Menschen, die in Deutschland mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben, besserstellen will. "Respekt" ist seine wichtigste Vokabel, die zweitwichtigste ist "Geld": Milliarden Euro will er für Soziales, Windkraft, Stromnetze und vieles mehr ausgeben; Sparen kommt in seinem Wortschatz nicht vor. Alles in allem lieferte er einen soliden Auftritt ab, überraschte aber auch nicht mit neuen Ideen.

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Annalena Baerbock: Die Grüne gab sich angriffslustig und trieb ihre Kontrahenten beim Thema Klimaschutz in die Enge. Mit Verweis auf das FCKW-Verbot konnte sie schlüssig erklären, dass harte Leitplanken Firmen nicht zwangsläufig hemmen müssen, sondern sie zu Innovationen anreizen können. Das geforderte Verbot des Verbrennungsmotors wirkt in dieser Argumentation etwas weniger drastisch. Seit sie de facto nicht mehr um den Wahlsieg mitkämpft, wirkt die Grüne wie von einer Last befreit, verhaspelt sich seltener und redet pointierter.

Armin Laschet: Der Spitzenkandidat von CDU und CSU lieferte griffige Argumente, warum Steuererhöhungen gerade jetzt nach der Corona-Pandemie Gift für die angeschlagene Wirtschaft sind. Sein Plädoyer für den Abbau bürokratischer Vorschriften und Rücksicht auf die Bedürfnisse der Industrie dürfte bei all jenen verfangen, die im Staat mehr als einen Selbstbedienungsladen sehen. Die schlechten Umfragen setzen dem CDU-Chef erkennbar zu, aber auch er machte gestern seine Punkte und nutzte die Redezeit am gründlichsten.

Wirklich neue Argumente im Kampf um die Wählerstimmen lieferte keiner der dreien. Somit hätte statt drei Triellen eines locker gereicht. Drei Dinge fielen trotzdem auf:

Erstens: Der Ton macht die Musik. Aus der Kognitionswissenschaft wissen wir, dass die Stimme und die Mimik von Rednern wichtiger für die Wirkung auf das Publikum sind als das, was sie sagen. Der beruhigende Tenor von Herrn Scholz wirkt überzeugender als die mitunter schrille Stimme Frau Baerbocks und der etwas heisere, verkniffen dreinblickende Herr Laschet.

Zweitens: Durch das Format des Triells wird suggeriert, die drei Kanzlerkandidaten würden sich politisch eklatant voneinander unterscheiden. Das tun sie nicht. Alle drei propagieren eine im Kern staatsdirigistische Politik: Die Regierung soll im Zweifel alles regeln, und wenn man nicht mehr weiterweiß, schüttet man eben das Steuerfüllhorn aus. Deutschland bleibt ein Nanny-Staat – egal, ob Herr Scholz, Frau Baerbock oder Herr Laschet triumphiert.

Drittens: Anderthalb Stunden lang diskutierten die drei Kandidaten über innenpolitische Themen – als wäre Deutschland eine Insel der Glückseligen ohne jeglichen Bezug zur Welt da draußen. Dabei können wir uns hierzulande schon längst nicht mehr darauf verlassen, dass Sicherheit und Wohlstand ewig währen. Glauben Sie nicht? Schauen wir uns die Lage genauer an.


Nichts währt ewig

Das Studium der Geschichte ist ein seltsames Metier. Liest man in dicken Büchern über längst vergangene Zeiten, findet das Leben vieler Generationen in wenigen Zeilen Platz. Jahrhunderte schnurren auf ein paar Absätze zusammen: Hier herrschte ein König, dort residierten ein paar Fürsten, und schwupps, schon wurde eine Dynastie durch die nächste ersetzt. Das Klein-Klein des menschlichen Erlebens weicht den großen Linien, die Autoren späterer Zeiten in der Rückschau zu entdecken meinen. Über "Verfall und Untergang des Römischen Imperiums" räsoniert der eine, ein anderer nennt sein Werk "Herbst des Mittelalters". Der Zahn der Zeit nagt ohne Unterlass – und das, was vielen Generationen als unverrückbarer Rahmen ihres Lebens erschien, ist irgendwann nicht mehr da.

Solange das in verflossenen Jahrhunderten geschieht, können wir uns entspannt zurücklehnen. Der Gedanke, dass auch die Eckpfeiler unserer Zeit nicht frei vom Bröseln sind, ist hingegen weniger bequem. Institutionen wie die Nato und die Europäische Union sind ein selbstverständlicher Teil der deutschen Lebensrealität. Man kann sich kaum vorstellen, wie unsere Welt aussähe, wären sie auf einmal nicht mehr da. Gäbe es dann ein Hauen und Stechen unter den Nachbarstaaten? Würde die Großmacht jenseits des Atlantiks die europäischen Zwerge herumschubsen? Würde man hierzulande vor Aggressoren aus Russland oder China erzittern? Könnte der deutsche Wohlstand in einer solchen Welt überleben?

Das Szenario erscheint uns fremd und ein bisschen bizarr. Aber nichts währt ewig. In den vergangenen 16 Jahren hat die Dame im Bundeskanzleramt mit ihrem unaufgeregten Duktus manche Bedrohung unserer Gewissheiten aus dem Weg geräumt. Als Krisenmanagerin hat Angela Merkel einen herausragenden Job gemacht – Finanzkrisen, Schuldenkrisen, die zweibeinige Dauerkrise namens Trump, man ist mit dem Aufzählen eine Weile beschäftigt. Es ist ein zentraler Teil ihres Vermächtnisses: im entscheidenden Moment richtig zu reagieren. Jedenfalls, wenn die Alarmglocken schon schrillen. Das vorausschauende Agieren, die Gestaltung, die großen Visionen hingegen waren nicht so ihr Ding. Das muss nun anders werden.

Denn die Institutionen, die Deutschlands Platz in der Welt bestimmen, sind angreifbar geworden. Einen Vorgeschmack von dem Szenario, das sie existenziell gefährden könnte, haben wir bereits bekommen: Bei der Nato ist der Panikmodus noch nicht überwunden, den ihr Donald Trumps Drohung mit der Aufkündigung des Bündnisses zugefügt hat. Trump ist erst mal weg vom Fenster, aber das Prinzip Trump lebt weiter. Seine Anhänger haben die Wahl im vergangenen November nur knapp nicht gewonnen. Wenn die Welt in gut drei Jahren erneut zittert, ob womöglich wieder ein verantwortungsloser Egomane ins Weiße Haus einzieht, wird bei uns in Deutschland immer noch jenes Parlament tagen, das wir am kommenden Sonntag wählen. Das sollte jedem Wähler bewusst sein. Deshalb darf man sich umso lauter wundern, warum die Außenpolitik im Bundestagswahlkampf kaum eine Rolle spielt. Es sollte niemand ins Kanzleramt einziehen, der (oder die) keine Antworten auf die globalen Fragen unserer Zeit hat.

Die künftige Bundesregierung braucht eine Strategie für den möglichen Rückfall der USA in einen nationalistischen Fiebertraum. Man sehe sich nur mal Amerikas jüngsten Strategiewechsel im Pazifik an, den ein Experte "eine Schockwirkung für Europa" nennt. Oder die Herrschaften, die sich im Land des unbegrenzten Populismus für den nächsten Präsidentschaftswahlkampf warmlaufen. Da verschiebt sich was, auch ohne Trump.

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Den Status quo zu bewahren, ist deshalb nicht genug. Ob die Nato den nächsten Twitter-Präsidenten übersteht, ist nicht vorhersehbar. Deutschland braucht einen Plan B – und der kann nur die gemeinsame europäische Verteidigung sein: eine "Backup-Nato", die auch ohne die USA noch genug Zähne zeigen kann, um auf dem globalen Parkett nicht als Eurozwerg übergangen zu werden. Leider ist ein glaubwürdiges europäisches Verteidigungsprojekt sehr teuer und braucht einen langen Anlauf. Falls die neue Bundesregierung die entsprechende Vorsorge jedoch verschläft, steht Deutschland – und ganz Europa – möglicherweise irgendwann ohne Schutzschild gegen Autokraten und Aggressoren da. Der Zerfall der Nato lässt sich nicht krisenmanagen, wenn er erst mal begonnen hat.

Womit wir bei Europa und seiner Einheit wären, der zweiten liebgewonnenen Selbstverständlichkeit im außenpolitischen Gefüge. Natürlich hat die EU mit allerlei inneren Spannungen zu kämpfen, auch gravierenden wie der Erosion der Demokratie in Polen und Ungarn. Aber das eigentliche Unheil droht nicht von den Rändern – sondern von den Schwergewichten im europäischen Club: In Frankreich hat sich der rechte Rand unter Führung von Marine Le Pen erfolgreich einen bürgerlichen Schafspelz umgehängt und damit ein breites Wählerpotenzial gesichert. Beim Gedanken daran wirft die deutsche Politik schnell eine Beruhigungspille mit der Aufschrift "Macron" ein. Doch nirgendwo steht geschrieben, dass es in der nächsten Runde – in einem halben Jahr! – nicht doch für Frau Le Pen reicht. Eine erklärte Feindin der europäischen Idee im Élysée-Palast? Le Pens Alternative für Frankreich würde wohl das Ende der EU einläuten.

Auch in Italien hat die extreme Rechte sich in die vorderste Reihe vorgearbeitet. Signore Putin hilft gern mit ein paar Schecks, damit die rechtsradikale Lega Nord sich eine schicke Schaufel kauft, um die EU möglichst tief zu beerdigen (aber erst, nachdem man die Gemeinschaft noch mal tüchtig gemolken hat). Es gärt bei unseren wichtigsten Partnern.

Was kann Deutschland dagegen tun? Erstens: Den Blick aufs Ganze richten. Unser Land verfolgt, wie man es nicht anders erwarten würde, seine nationalen Interessen – und steht, wenn es ums Geld geht, solidarischen Hilfen für Italien & Co. nicht eben aufgeschlossen gegenüber. Bisher ist Deutschland im entscheidenden Moment über seinen Schatten gesprungen und hat sich bei den Corona-Finanzhilfen nicht über Gebühr geziert. Das war richtig, auch aus Eigennutz. Denn das nationale Interesse zu vertreten, heißt für Deutschland: Nichts hat höhere Priorität als die Stabilität der EU. Danach kommt erst mal lange nichts.

Doch Geld ist nicht genug. Wie es dazu kommt, dass eine Nation Europa in Rente schickt, haben die Briten vorgemacht. Aus dem Brexit und seiner Vorgeschichte kann man deshalb eine Menge lernen. Zum Beispiel dies: Die Rechnungen zu bezahlen und als finanzieller Wohltäter aufzutreten, nützt für sich allein gar nichts. Großbritannien hat von der EU enorm profitiert – doch wahrgenommen hat das auf der Insel leider kaum jemand. Ein Gegenmittel gäbe es: Tue Gutes und rede darüber. Die EU, aber auch Deutschland als tragendes Mitglied, brauchen eine bessere Öffentlichkeitsarbeit bei den europäischen Nachbarn. Die Europaflagge an der Baustelleneinfahrt eines geförderten Kulturzentrums, irgendwo zwischen Zaun und Betonmischer: Das ist zu dünn für die Imagepflege.

Die Zugehörigkeit zu Europa ist ein Gefühl. Eines, das sich über Jahrzehnte aufgebaut hat, Teil der Identität geworden ist. Oder eben nicht, wie bei den Briten. Das ist die letzte Lehre aus der Insulaner-Episode: Der Brexit wäre ohne eine breite, langanhaltende Desinformationskampagne undenkbar gewesen. Pseudo-Fakten sollten die Unterjochung der Angelsachsen durch Regeln aus Brüssel belegen. Riesensummen würden den Briten angeblich entzogen und in den bodenlosen Kassen der EU verschwinden. Alles erfunden und erlogen, aber es verfing.

Den Desinformationsschleudern auf Facebook, YouTube und Co. müssen die Demokratien Europas ohnehin entgegentreten, wenn sie welche bleiben wollen. Aber auch die Einheit Europas steht dort auf dem Spiel. Der delikate Balanceakt – zwischen ungehinderter Rede- und Meinungsfreiheit einerseits und der erfolgreichen Verteidigung gegen Troll-Kampagnen und Propaganda andererseits – gehört zu den kniffligsten Aufgaben der nächsten Bundesregierung. Zur Qualifikation der künftigen Regierenden muss deshalb zwingend auch die digitale Kompetenz gehören. Wer erst den Referenten fragen muss, wie Tiktok und Telegram ticken, hat auf den Chefsesseln in Kanzleramt und Ministerien nichts mehr verloren. Schließlich ist die Welt in permanenter Veränderung. Nichts währt ewig.


Was lesen?

80 Tage lang jagte Boris Herrmann über die Meere, wollte die härteste Segelregatta der Welt gewinnen. Doch kurz vor dem Ziel kollidierte er mit einem Fischerboot. Wie es dazu kam, berichtet der Extremsegler nun in einem Buch. Hier lesen Sie einen exklusiven Auszug.


Jens Söring hat mehr als 30 Jahre lang in amerikanischen Gefängnissen gesessen – verurteilt wegen eines Doppelmordes, den der Deutsche laut eigener Aussage nicht begangen hat. Meinen Kollegen Marc von Lüpke und Jonas Mueller-Töwe hat er von seinen Erlebnissen berichtet.


Sollte es am Ende für CDU und CSU nicht zum Wahlsieg reichen, werden viele sagen: Es lag an Armin Laschet. Doch die Probleme der Union begannen schon viel früher, zeigt unser Autor Michael Freckmann.


Was amüsiert mich?

Für unentschlossene Wähler gibt es einen letzten Ausweg.

Ich wünsche Ihnen einen entscheidungsfreudigen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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